Katholische Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny"Was an der Zeit ist

Die in Krakau erscheinende katholische Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ ist ein bedeutendes Sensorium für Glauben, Kultur, Kirche und Gesellschaft.

Es sind nicht immer die großen Aufmacher in Presse und Fernsehen, die denkwürdige Entwicklungen anzeigen. In der Ausgabe vom 19. Januar 2014 schildert ein eher unauffälliger Artikel der katholischen polnischen „Allgemeinen Wochenzeitung“ - „Tygodnik Powszechny“ - das sogenannte Churching. Es geht um Christen, die in einer größeren Stadt wohnen und Gottesdienste häufig nicht in „ihrer“ Pfarrei besuchen, sondern dort, wo sie sich besonders angesprochen, wo sie sich wohlfühlen. Dieses Phänomen hat nun eine weitere Zuspitzung erfahren. Wie Blazej Strzelczyk berichtet, füllen sich besonders die Kirchen der Ordensgemeinschaften. Die „gewöhnlichen“ Pfarreien haben das Nachsehen.

In einer Stadt wie Krakau ist dies besonders gut zu beobachten. So sollte man eine halbe Stunde früher da sein, um für den sonntäglichen Abendgottesdienst bei den Dominikanern einen Sitzplatz zu ergattern. „Die Übrigen belagern Treppen, Kniebänke der Beichtstühle, die Stufen zum Altar und den kalten Fußboden.“ Es sind junge Menschen, vor allem Studierende, die diese Gottesdienste besuchen. Folgt man dem Autor, so nimmt hier die Predigt nicht einmal eine herausgehobene Stellung ein. Es ist eher die familiäre Atmosphäre, die anzieht, die persönlichere Seelsorge, auch die Beichte, für die sich die Ordensleute Zeit nehmen.

Ein Papst schaut auf die Uhr

Strzelczyk zitiert einen religiösen Blogger, der das Phänomen auf seine Weise erklärt: „Es ist kaum möglich, dass in einer Pfarrei, in der die Priester zumeist kein Gemeinschaftsleben führen, eine Gemeinschaft mit den Gläubigen aufgebaut werden kann. Die Ordensleute essen, beten zusammen, finden gemeinsame Formen der Rekreation. Die Gemeindepriester sind alleine, sind mit der Zeit der Ernüchterung ausgesetzt.“ Die Migrationenen der Pfarreimitglieder, die die ironische Überschrift „Die untreuen Gläubigen“ erhalten, sind bei Lichte besehen ein ermutigendes Zeichen. Junge, intelligente Leute lassen sich für die Botschaft des Evangeliums, für die Liturgie begeistern, nehmen dafür Unbequemlichkeiten in Kauf. Doch sie wollen auch etwas anderes, eigentlich das Selbstverständliche: persönliche Ansprache, lebendige Gemeinschaft, glaubwürdige Verkündiger. Nur eine polnische Zeitansage?

Eine ganz und gar globale Zeitansage stellte der „Tygodnik Powszechny“ auf seine Titelseite vom 23. Juni 2013. Papst Franziskus schaut auf die Uhr, freundlich, leicht verschmitzt und verbindlich zugleich. „Ich warte auf Euch“ - so deutet die Schlagzeile das Foto. Die Redaktion, die ihren religiösen Schwerpunkt mit engagierten Artikeln zu sozialen und kulturellen Fragen verknüpft, fasste die ersten hundert Tage des aus Argentinien stammenden neuen Bischofs von Rom zusammen. Sein Blick auf die Uhr erscheint ihr als vielsagende Geste. Für die Krakauer Journalisten verweist sie auf das, was an der Zeit ist, worauf man jetzt achten muss, will man die Schätze des Glaubens und das Gefäß der Kirche einigermaßen sicher durch das 21. christliche Jahrhundert führen.

Der Papst, so Piotr Sikora, fordere eine neue Beweglichkeit, „eine Bewegung nach außen, zum Nächsten, von den selbstbewohnten Räumen hin zu den Rändern“. In den Kirchen vor Ort werde dies unterschiedliche Konsequenzen haben. Den polnischen Katholiken stehe nicht zuletzt ein Abschied bevor: „Wir müssen aufhören, darauf zu setzen, dass wieder ein Papst ‚auf Pilgerreise‘ zu uns kommt, dass er an der Weichsel den Glauben entzündet und unsere Probleme löst.“ Der Blick auf das alltägliche Leben und Sprechen des Papstes, so der vorausdenkende Theologe des „Tygodnik“, sei Inspiration genug. Was aus ihr praktisch folge, das müsse Polens Kirche jetzt selbst herausfinden.

Bilanz: „100 Tage Franziskus“

Für einen westlichen Leser mag dieser Gedanke nichts Aufregendes sein. Für Polen gilt das aber nicht. Denn die Jahre zwischen 1978 und 2005 mit dem „polnischen Papst“ Johannes Paul II. bildeten einen permanenten Ausnahmezustand. Es wurde an Kapiteln der Weltgeschichte geschrieben. Der Kommunismus fiel in sich zusammen. Dem Papst wurde schon lange vor seiner Seligsprechung der Status eines Heiligen zuerkannt. Zugleich aber erlebte die polnische Gesellschaft einen radikalen Wandel. Sie wurde kapitalistisch, lernte den Konsum schätzen, ist Teil des fast grenzenlosen Raumes der Reise- und Datenströme.

Diese Umwälzungen konnten auch den immer noch starken, traditionell ausgerichteten polnischen Katholizismus nicht unberührt lassen. Die Zahlen der Priesterweihen wie der Gottesdienstteilnehmer mögen noch stimmen. Die Substanz des Glaubens aber, so die Überzeugung der „Tygodnik“-Redaktion, müsse neu buchstabiert werden, soll sie auch die jüngeren Generationen erreichen.

Wenn der „Tygodnik Powszechny“ in Polen dafür bekannt ist, dass er für eine offene, dem Abenteuer des Glaubens wie den Nöten des Menschseins zugewandte Kirche einsteht, so kann er diese Position in vielen Leitworten von Papst Franziskus wiederfinden. Sikora benennt eine arme Kirche, die die Welt mit ihren unbequemen Rändern nicht fürchtet, die Brücken baut und sich auf den tatsächlichen Menschen einlässt, die lieber Fehlschläge in Kauf nimmt, als in der Enge der frommen Milieus zu verharren. „Werden wir diese Kraft haben?“, so die Frage des Papstes, zugleich Überschrift des Artikels. Das Fragezeichen wird so schnell nicht aufgelöst werden. Die Redakteure aber konnten in den letzten Monaten staunend erleben, dass ihre Argumente und Ideale plötzlich ins Zentrum der kirchlichen Diskurse gerückt sind.

Die Rüge von Johannes Paul II.

Die „Allgemeine Wochenzeitung“ aus Krakau mag eine Institution sein und ihr langjähriger Chefredakteur Jerzy Turowicz (1912-1999) eine publizistische und moralische Legende. Ihre Wege aber waren und sind von Hindernissen gesäumt. Das gilt für die wechselvollen Jahrzehnte des totalitären, kommunistischen Großexperiments. Das gilt auch - freilich unter anderen Vorzeichen - für die Jahre seit 1989. Ein Zeugnis hierfür gibt ausgerechnet der Brief, den Papst Johannes Paul II. 1995 zum fünfzigjährigen Bestehen der Zeitung an die Redaktion richtete. Die Gratulation hatte eine lange Vorgeschichte. Sie reicht bis 1949, als ein damals unbekannter 29-jähriger Priester aus Krakau, Karol Wojtyla, seinen ersten Beitrag im „Tygodnik“ veröffentlichte. Es folgten Artikel zu theologischen und moraltheologischen Themen. Publiziert wurden aber auch Dramen und Gedichte, die der spätere Krakauer Kardinal zumeist mit „Andrzej Jawien“ zeichnete.

Auch nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri nahm Wojtyla die Zeitung aufmerksam zur Kenntnis. Die Gratulation enthielt nicht nur lobende und sympathisierende Worte. Zwar stelle der „Tygodnik“ für den Papst „ein wichtiges und langes Fragment“ seines Lebens dar. Zugleich vermisse er aber eine klare Distanz zu Kräften, die nach der Wiedererlangung der Freiheit die wesentliche Rolle der Kirche für Polen leugneten und vor der Gefahr eines vorgeblichen Klerikalismus warnten. „Verzeihen Sie, wenn ich sage, dass man den Einfluss dieser Bewegungen irgendwie auch im ‚Tygodnik Powszechny‘ wahrnahm. In diesem schwierigen Moment hat die Kirche im ‚Tygodnik‘ leider nicht die Unterstützung und Verteidigung gefunden, die sie gewissermaßen zu Recht erwarten durfte; ‚sie fühlte sich nicht genug geliebt‘, wie ich einmal sagte. Das zu schreiben ist für mich schmerzvoll, denn das Schicksal und die Zukunft des ‚Tygodnik Powszechny‘ liegen mir sehr am Herzen.“

Die päpstliche Bemerkung, wie positiv sie auch immer eingebettet sein mochte, wurde zahllose Male aufgegriffen - und das in den seltensten Fällen, um sich der hohen Kunst der Unterscheidung hinzugeben. „Rechtsgerichtete Katholiken“, kommentierte der Literaturwissenschaftler Andrzej Romanowski trocken, „jauchzten vor Glück: Sie erhielten ein Geschenk, von dem sie nicht einmal zu träumen wagten.“ Von hier aus gesehen scheint nicht verwunderlich, dass der „Tygodnik“ trotz vielfacher Berührungen mit den bedeutendsten Amtsträgern und Persönlichkeiten der Kirche von nicht wenigen hohen Amtsträgern wie von einem Großteil des Klerus überhaupt kritisch beäugt und geschnitten wird. Zu liberal erscheint seine Grundtendenz, nicht nahe genug am „Volk“ seine Reflexion, zu weitgehend seine andauernde Unternehmung, beide Seiten zu verstehen. So setzt sich nur eine Minderheit für die Verbreitung dieser Wochenzeitschrift in den Pfarreien ein. Der „Tygodnik“ hat es äußerst schwer, sich gegen die Vielzahl bunter Blätter an den polnischen Kiosken zu behaupten. Die gegenwärtige Auflage liegt bei rund 36 000.

Das „Übliche“ ist zu wenig

Wer die Positionen des „Tygodnik Powszechny“ in einer Phase betrachtet, die im Übergang von Papst Benedikt XVI. zu Franziskus I. wohl mehr bedeutet als nur eine geordnete Nachfolgeregelung, der entdeckt vor allem die Kraft dieser Zeitung, sich unbequemen Themen zu stellen, den Dissidenten eine Stimme zu geben. Zugleich verstehen es die Redakteure, Gespräche zu initiieren, in denen es um die Kernpunkte der christlichen Botschaft, um ihre Ankunft im Heute geht. Die erste Ausgabe vor einem Jahr zum Beispiel machte dies besonders anschaulich: „Bischöfe gegen Gewalt gegenüber Frauen. Schade, nicht die polnischen“ - so titelte der „Tygodnik“, dem man die Lust an der Provokation nicht absprechen kann.

Es ging um die Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die zwei Jahre zuvor von zunächst dreizehn Mitgliedsstaaten in Istanbul unterzeichnet worden war. Wie die Theologin und Publizistin Zuzanna Radzik ausführt, reagieren polnische Bischöfe allergisch auf die Übereinkunft, besonders auf ihre Präambel. Darin wird auf die häufig strukturellen Ursachen der Gewalt hingewiesen, auf die „historisch bedingte“ und ausgeprägte Ungleichheit der Geschlechter. Für den Vorsitzenden der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Józef Michalik, sind Verweise auf Kultur, Tradition, Religion in diesem Zusammenhang Teil einer „großen Lüge“. Er sieht in der Konvention eine weitere Etappe des langen Marsches, in dessen Verlauf die traditionelle Familie „relativiert und abgeschafft“ werden soll.

Zuzanna Radzik gesteht dem Bischof zu, seine Sorgen und Zweifel auszusprechen. Gleichwohl erscheinen ihr die Verhältnismäßigkeiten nicht gewahrt. Anders als die amerikanischen Bischöfe in ihrem Pastoralbrief „When I Call For Help“ („Wenn ich um Hilfe ersuche“; 1992), in dem durchaus von dem zwiespältigen Antlitz der Religion die Rede ist, baue Erzbischof Michalik vor allem auf Konfrontation. Dabei sei die Istanbuler Erklärung viel zu bedeutsam, in ihrer Aufzählung der Missstände nur allzu faktengesättigt, um sie lediglich der Polemik anheimzustellen. „Mögen auch etliche der Formulierungen die Bischöfe beunruhigt haben, so ist es schade, dass sie über ihre Sorgen nicht mit mehr Behutsamkeit gesprochen haben. Die Übermittlung wäre dann besser gelungen. So aber ging es wie üblich aus.“

Das „Übliche“ aber ist dem „Tygodnik“ zu wenig. Das gilt für die neu entflammte „Gender“-Debatte, also die Auseinandersetzung über die soziale Rolle der Geschlechter, die auch Anfang 2014 angeregt geführt wird. Das gilt ebenso für die grundsätzliche Frage nach dem Glaubenkönnen in einer Welt, die sich rasant von traditionellen Anschauungen emanzipiert.

Auf seine Weise sorgt der „Tygodnik Powszechny“ für die angemessene Stimmenvielfalt, wenn er dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn und dem tschechischen Geistlichen und Intellektuellen Tomáš Halík gleichzeitig viel Platz einräumt. Schönborns Gedanken über die zunehmende „Marginalisierung des Christentums“ in Europa können als Bestandsaufnahme und Weckruf zugleich gelesen werden. Halíks Unterscheidung zwischen einem folkloristischen, einem intellektuellen und einem im Alltag verwurzelten Glauben verweist auf die Wirklichkeit einer vielschichtigen Gesellschaft, die sich in keine Formel packen lässt. „Der individualistische Glaube charakterisiert häufig die Suchenden. Ich denke, dass er - unabhängig davon, ob es der Kirche gefällt oder nicht - zu einer allgemeinen Haltung wird und die Beziehung der Glaubenden zu der institutionalisierten Kirche verändern wird.“

Auch Tomáš Halík sieht die Zukunft des europäischen Christentums in einer offenen Kirche verankert, wobei dies nicht mit „progressiv“ gleichzusetzen ist. Eine Kirche, die gerade die Unruhigen, die Suchenden erreichen möchte, sei nicht eine Kirche der Links-oder-Rechts-Schablonen, vielmehr eine der Tiefe. „Wenn die Kirche überleben soll, dann muss der Katholizismus in einem viel größeren Maße eine geistliche Tiefe aufweisen, muss er verbunden sein mit einer andauernden Formung seiner Gläubigen. Denn die postmoderne Gesellschaft ist, wie die Soziologen sagen, geprägt durch eine Vielzahl von Systemen, die sich gegenseitig beeinflussen. Und wenn eines der Systeme in sich geschlossen ist, unfähig zum Dialog mit anderen - dann degeneriert es.“

„Piotr 2.0“

Die Wochen zwischen dem Rücktritt von Benedikt XVI. und der Wahl Jorge Mario Bergoglios zum 265. Nachfolger Petri waren natürlich auch im „Tygodnik“ von zahlreichen Betrachtungen zum Zustand der global wirkenden Kirche und zum Anforderungsprofil von „Piotr 2.0“ geprägt. Kurz vor dem Konklave stellte die Redaktion acht Kardinäle vor, die von manchen Fachleuten im besonders hohen Maße als papabile angesehen wurden. Der Erzbischof aus Buenos Aires war freilich nicht dabei, was zwei Wochen später Pater Adam Boniecki, den ehemaligen Chefredakteur (1999-2011) und jetzigen Redaktor senior formulieren lässt: „In den Prognosen der Vatikanisten kam Kardinal Bergoglio nicht vor, obwohl er es sollte, falls er in dem Konklave vor acht Jahren tatsächlich als die ernsthafteste Alternative zu Kardinal Ratzinger galt. Wir dachten, dass im Laufe der acht Jahre am Kardinalsfirmament neue Sterne aufgegangen sind, und doch … auch dieses Mal Bergoglio.“

Ungeachtet der Fehlprognose brauchte die Redaktion nicht lange, um den Anwalt einer armen Kirche in ihr Herz zu schließen. Wie könnte man die bisherige Amtsführung von Franziskus in wenigen Worten, in einem Slogan gar, zusammenfassen, fragte Marek Zajac (7. April 2013). Der Autor setzt etliche Male an, um aus der Vielzahl auffälliger, berührender Aspekte eine Summe zu ziehen: Franziskus - „der unbequeme Papst“. Niemand könne diesen Papst oberflächlich für sich vereinnahmen. Seine Worte und Gesten dienten der Christus-Begegnung, der Wiederbelebung der Kirche. Wer den christlichen Glauben für andere Zwecke benutze, werde Franziskus nicht auf seiner Seite haben.

Zajac erwähnt Magdi Cristiano Allam, einen aus Ägypten stammenden Intellektuellen, der 2008 äußerst öffentlichkeitswirksam vom Islam zur katholischen Kirche konvertierte. Nun verließ Allam die Kirche wieder, auch deswegen, weil ihm die warmherzigen Aussagen der Päpste zum Islam als naiv und gefährlich erscheinen. Zajac: „Franziskus ist ein unbequemer Papst für diejenigen, die nicht verstehen, dass die Warnungen Jesu vor dem Pharisäertum auch unsere Kirche betreffen.“

Unbequem und inspirierend

Unbequem - das ist der „Tygodnik“ selbst. Titelgeschichten über die Alterung der Gesellschaft, über den Umgang mit psychisch Kranken, über das Zusammenleben mit Minderheiten wie den Roma, über die unklaren Ziele des schulischen Religionsunterrichts oder über das Übel und die Sünde der Pädophilie zeigen, dass die Zeitung auch dort hingeht, wo es wehtun kann. Mit Verdrängung und Verschweigen, so ihre offensichtlicher Grundsatz, werden keine Probleme gelöst. In einem besonderen Maße gilt dies für die innerkirchlichen Konflikte, die in Polen lange brauchen, um ein öffentliches Forum zu finden, für die es häufig keine transparenten, einer demokratischen Gesellschaft entsprechenden Dialogwege gibt.

So widmete der „Tygodnik“ dem Zusammenstoß zwischen dem 1960 geborenen Pfarrer Wojciech Lemanski und seinem Erzbischof Henryk Hoser von Warschau-Praga zwei Titelgeschichten, dazu eine Reihe weiterer Artikel. In dem Konflikt, der auch jenseits polnischer Medien ein Echo fand, werden einmal mehr die klassischen Dilemmata der Kirche im Hinblick auf ihre internen Kritiker oder auch nur unruhigen Geister deutlich.

Pfarrer Lemanski ist niepokorny, ist „nicht demutsvoll und unterwürfig“, wenn sein Engagement für die jüdisch-christliche Annäherung auf mitbrüderliche Ausgrenzung und auf Spott trifft. Er fügt sich auch nicht automatisch in Reih und Glied, wenn er den Eindruck hat, dass die Erklärung der Bischöfe zu bioethischen Fragen für den durchschnittlichen Gläubigen unverständlich und zudem in unsensibler Sprache verfasst ist. Und er weiß die Möglichkeiten der modernen Medien für sich und seine Anliegen zu nutzen. Ob aber diese Merkmale den so eifrigen wie unkonventionellen Seelsorger bereits zu einem unakzeptablen Störer machen, der vielfach ermahnt und schließlich der Pfarrei verwiesen werden muss - darüber sollte, so die Haltung des „Tygodnik“, nicht nur unter „hierarchischen Gesichtspunkten“ entschieden werden.

In seiner ausführlichen Schilderung des „Kalendariums einer Katastrophe“ verweist Zbigniew Nosowski auch auf die jeweils ungewöhnlichen Aufgabenfelder der beiden Gegenspieler, wenn er schließt: „Wer, wenn nicht der Ruanda-Missionar und der Pfarrer ‚für die Juden‘ sollte Experte für die Versöhnung sein? Wer, wenn nicht polnische Geistliche, könnte eine Lösung im Sinne von ‚Wir vergeben und bitten um Vergebung‘ finden? Damit das passiert, muss man es vor allem wollen.“

Intellektuell und spirituell

Die Sätze mögen pathetisch klingen, sie sind aber einer Zeitung angemessen, die ihre Argumente und Kommentare stets aus der Teilnehmerperspektive heraus entwickelt. Diese Position unterscheidet sie von den weltlichen Publikationen, die ihre Kritik zumeist nicht mit der Sorge um die Kirche verbinden. Die Liberalität hingegen hebt den „Tygodnik Powszechny“ aus der Masse der frommen Publikationen heraus, die weithin auf die traditionellen Schwerpunkte des polnischen Katholizismus setzen, auf die kirchliche Einheit, die feierliche Liturgie, eine klare Ordnung von oben nach unten. Den Redakteuren aus Krakau sind diese Elemente wichtig und ungenügend zugleich. In den Komplexitäten der modernen Gesellschaft werden sich, so die Grundüberzeugung, auch die Wege der Evangelisierung und des kirchlichen Zusammenlebens zu ändern haben.

Bereits 1945, in einer der ersten Ausgaben, stellte Jerzy Turowicz fest: „Die bewussten, aktiven Katholiken bilden eine äußerst dünne Schicht, die die dicken Lagen der passiven Katholiken, der Taufscheinkatholiken, bedeckt.“ Der „Tygodnik“ findet sich seit jeher auf der Seite der bewussten, aktiven Christen, greift ihre Fragen und Sorgen auf. Ihnen bietet er, Woche für Woche, eine Menge intellektueller und spiritueller Nahrung. Dass er dabei die Ränder von Gesellschaft und Kirche nicht vergisst, ist eines seiner Markenzeichen. Wenn der Redaktor senior Adam Boniecki zur „Haltestelle Woodstock“ pilgert, einem seit 1995 allsommerlich im polnischen Küstrin stattfindenden spektakulären Rockfestival, dort seine Botschaft mit den Worten „Kochaj i rób, co chcesz“ (Liebe, und tue, was du willst“) umreißt, dann weiß er schon im Voraus, dass er dafür Schläge beziehen wird. Den Empörten weiß er mit einem ruhigen „Meine Herren, lasst uns die Verhältnisse wahren“ zu antworten. Vielleicht geht es dem „Tygodnik Powszechny“ genau darum: wie Pfarrer Lemanski aus der Reihe zu tanzen und dabei die Verhältnisse zu wahren.

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