Kirche in der UkraineKiew, die Krim und das dritte Rom

Die Geschichte der Kirchen in der Ukraine spiegelt die Zerrissenheit des Landes wider. Werden die Kirchenführer die Krise weiter befeuern?

Als die Ukraine sich aus der zerfallenden Sowjetunion löste und 1991 ihre Unabhängigkeit erhielt, hatte sie nichts, womit sie ihren Zusammenhalt als Nation begründen konnte: keinen Gründungsmythos, keinen gemeinsamen Sprachraum und erst recht keine gemeinsame Frömmigkeits- oder Glaubensgeschichte. „Die Ukraine ist ein Kind der sowjetischen Nationalitätenpolitik“, meint Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität in der „Zeit“. Es sei ein Fehler des Westens, sie wie einen gewachsenen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zu behandeln, gleichsam als eine „Nation von Opfern“, die über Jahrhunderte unterdrückt wurde „und erst nach dem Ende der Sowjetunion aus tiefer Finsternis erwacht sei“. Baberowski fragt kritisch: „Gab es eine ukrainische Nation, als Zar Peter die Residenz der Kosaken verwüstete? Wollten die Bauern des 19. Jahrhunderts Ukrainer sein? Und wussten sie, was ein Ukrainer war und wie man sich in einen solchen verwandelte?“

Tatsache ist, dass die Siedlungsgebiete der Ukrainer nie ausschließlich von Ukrainern bewohnt waren. Erst Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich Ukrainisch als Schriftsprache nachweisen. Um 1900 entstanden die ersten national gesinnten Parteien. Zwischen 1917 und 1921 gab es erste Versuche, einen unabhängigen Staat auszurufen. Im kollektiven Gedächtnis hat sich allein die Hungerkatastrophe von 1932/33 erhalten, der sogenannte „Holodomor“, für den Stalin verantwortlich ist. Doch die Erinnerung an eine Katastrophe reiche nicht, um ein Nationengefühl zu begründen, meint Baberowski. Seiner kühnen Deutung ist scharf widersprochen worden. Aber sie zeigt doch, wie wichtig es für einen modernen Staat auch heute noch ist, eine historische, vielleicht sogar mythisch-religiöse „Meta-Erzählung“ zu haben, die ihn gewisserweise rechtfertigt und überhöht. Religion und Kirche spielen dabei eine kaum zu überschätzende Rolle. Das wurde besonders deutlich in der Rede Putins, mit der er die Besatzung und Eingliederung der Krim ins russische Machtgebiet rechtfertigte. Er sprach von der Krim als einem heiligen Ort und von Kiew als der „Mutter der russischen Städte“, was je nach politischer Ausrichtung als Drohung oder Verheißung verstanden worden sein dürfte.

Die Kirche der Zaren

Für viele Russen ist die Ukraine der mythische Geburtsort des Reiches, wo mit der Taufe der Kiewer Rus 988 unter Großfürst Wladimir die Christianisierung, aber auch die Reichsbildung begann. Das Höhlenkloster am Dnjepr war das erste geistliche Zentrum der russischen Kirche, das sich später ostwärts, nach Moskau, verlagerte. Der Aufstieg der Rus ging mit dem Aufstieg der russischen orthodoxen Nationalkirche einher. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 sah sich das Moskauer Reich als Nachfolger des byzantinischen Weltreichs, und die russische orthodoxe Kirche fühlte sich als die Kirche Christi schlechthin. Dieses Selbstbewusstsein zeigt sich bis heute zum Beispiel in der Rede von „Moskau als dem dritten Rom“. Da das erste Rom vom wahren Glauben abgefallen, das zweite Rom (Konstantinopel) in die Hände der Ungläubigen gefallen sei, müsse nun Moskau als „drittes Rom“ zum Zentrum der Christenheit werden. 1461 erklärte die russische orthodoxe Kirche zunächst einseitig ihre Autokephalie, also ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, was anfänglich zu einer Isolation in der orthodoxen Welt führte. Doch ein gutes Jahrhundert später war die russisch-orthodoxe Kirche nicht nur unbestritten autokephal, sondern erhielt 1598 auch den Rang eines Patriarchats. Zum ersten Mal in der Neuzeit war damit ein Patriarchat gegründet worden. Zu den traditionellen, seit der Antike anerkannten Patriarchaten Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem kam nun noch Moskau hinzu. Diese Aufwertung darf jedoch nicht im Sinne einer Emanzipation vom Staat verstanden werden, ganz im Gegenteil. Die Zaren sahen die Kirche „geradezu als Teil des Staates an und betrachteten sie damit als ihrer Autorität unterworfen, so dass man faktisch von einer Herrschaft der Zaren über die Kirche sprechen kann“, schreibt der Münsteraner Theologe Thomas Bremer in seiner Kirchengeschichte „Kreuz und Kreml“.

Ukrainer gegen Ukrainer

In der Ukraine verlief die Geschichte jedoch anders. Nach der Verlagerung des geistlichen und weltlichen Zentrums nach Moskau entstand in Kiew zunächst ein Vakuum. Im 14. Jahrhundert gab es dort sogar zwei Metropolien, eine vor Ort, und eine, die ihren Sitz im neuen Machtzentrum Moskau hatte. Politisch stand die Ukraine jahrhundertelang sowohl unter dem Einfluss Russlands als auch unter der polnisch-litauischen Großmacht, die überwiegend katholisch geprägt war. Beinahe parallel zum Aufstieg der russischen orthodoxen Kirche zum Patriarchat gab es in Kiew eine gegenläufige Bewegung, eine Annäherung von Teilen der orthodoxen Hierarchie an die katholische Kirche. In der sogenannten Union von Brest unterstellten sich orthodoxe Bischöfe der Kiewer Metropolie 1596 dem Papst. Diese Union wurde allerdings im niederen Klerus und im einfachen Volk ungenügend vorbereitet, so dass sich schon bald Widerstand regte und nur ein Teil der Gläubigen der mit Rom unierten Ostkirche folgte, während ein anderer Teil sich der 1620 erneuerten orthodoxen Hierarchie unterstellte.

Aus Sicht der Moskauer Metropoliten und Patriarchen gehörten die orthodoxen Christen in der Ukraine stets zu ihrem Herrschaftsbereich. Doch diese Sichtweise deckte sich nicht immer mit dem Empfinden der Gläubigen und dem Selbstbewusstsein des Metropoliten von Kiew. Zudem hatte sich mit der unierten Kirche eine weitere eigenständige Kirche im „orthodoxen Hoheitsgebiet“ etabliert. Hier liegen die Wurzeln der bis heute außerordentlich zersplitterten Kirchenlandschaft in jener Region, mit heftigem Streit, Kirchenbesatzungen und zum Teil blutigen Verfolgungen. Den Namen - „griechisch-katholisch“ - verdanken die Unierten der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, zu deren Reich im 18. Jahrhundert die heutige Westukraine gehörte. Das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche muss vom Papst bestätigt werden, die Liturgie folgt dem ostkirchlichen Ritus, das Priesteramt steht auch verheirateten Männern offen.

Während des Ersten Weltkriegs kämpften Ukrainer sowohl im russischen wie im habsburgischen Reich als Soldaten gegeneinander. Im darauf folgenden Bürgerkrieg zwischen anti-bolschewistischen Weiß-Gardisten, sowjetischen Rot-Gardisten und polnischen Interventionstruppen wurde Kiew zwischen 1919 und 1920 fünfmal besetzt und wiederbesetzt, Odessa sogar noch öfter. Als sich schließlich die Sowjetmacht in der Ukraine festsetzte, begann für alle Kirchen eine schwere Zeit. Es bildete sich eine Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, die sich 1921 vom Moskauer Patriarchat für unabhängig erklärte. Sie wurde zwar zunächst von den Bolschewiken unterstützt, die dadurch die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats schwächen wollten. Doch die schnell an Mitgliedern wachsende Kirche wurde zu selbstbewusst und national. Mitte der zwanziger Jahre geriet sie in die Mühlen der Verfolgung und wurde 1930 verboten. Viele ihrer Priester wurden erschossen. Auf damals polnischem, heute westukrainischem Territorium kam es jedoch in den vierziger Jahren zu einer Neugründung einer ukrainisch-orthodoxen Nationalkirche, der sich vor allem im Ausland lebende Ukrainer anschlossen. Sie verstand sich lange als reine Diaspora-Kirche, die sich vor allem um ihre Gläubigen in Amerika, Kanada und Australien sorgt, hat aber nach der Wende wieder in der Ukraine Fuß gefasst und unterstützte die Gründung einer neuen autokephalen ukrainisch-orthodoxen Kirche, die etwa 1200 Gemeinden und rund 700 Geistliche umfasst.

Verfolgt und unterwandert

In den Untergrund gedrängt und brutal verfolgt wurde auch die griechisch-katholische Kirche, die vor allem für die Ukrainer im Westen in die Rolle einer Nationalkirche hineingewachsen war. 1939 verfügte sie über fünf Bistümer mit Lemberg als Erzbistum und Sitz des Großerzbischofs, zehn Bischöfe, 2950 Priester, 4440 Kirchen und 195 Klöster. 4,2 Millionen Gläubige gehörten ihr an. Der Kampf Moskaus gegen die Unierten - wie zuvor gegen die autokephalen Orthodoxen - sollte den ukrainischen Nationalismus schwächen. Daher ordnete Stalin 1946 die Zwangsvereinigung der griechisch-katholischen Kirche mit der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats an, wobei der Anschein erweckt werden sollte, dass dies freiwillig geschehe. Als sich Erzbischof Josef Slipyi weigerte, wurde die griechisch-katholische Kirche der Kriegsverbrechen und der Kollaboration beschuldigt. Die gesamte hierarchische Führung sowie mehr als 2000 Geistliche und Ordensleute wurden verschleppt oder getötet. Trotzdem konnte die Kirche nicht völlig ausgemerzt werden. Bereits unter den Reformen Gorbatschows erblühte ihr religiöses Leben neu. Gegenüber der russischen orthodoxen Kirche bleibt man höchst misstrauisch.

Doch auch diese hat unter dem Sowjetregime gelitten, wenn auch in anderer Weise. Nachdem die Bolschewisten sie in der Anfangszeit fast bis zur völligen Vernichtung verfolgt hatten, begann ab dem Zweiten Weltkrieg eine Phase der Duldung. Das hing unter anderem damit zusammen, dass sich die russische Kirche nach Kriegsbeginn sofort hinter die bolschewistische Regierung stellte und erhebliche Summen zum „Verteidigungsfonds“ beitrug, mit dem die Waffen der Roten Armee finanziert wurden. 1943 erlaubte ihr Stalin, wieder einen Patriarchen zu wählen. Nach dem Krieg gab es keine aktiven Verfolgungen mehr, sondern „nur“ Unterwanderungen und Spionage. Geheimdienstagenten wurden in die Kirche eingeschleust und versuchten, die Wahl der Bischöfe zu beeinflussen. Ranghohe Bischöfe waren zum Teil direkte Mitarbeiter des Geheimdienstes. Wurden Priester oder Klostergemeinschaften zu aktiv oder politisch unbotmäßig, wurden sie entmachtet. Selbst das berühmte Kiewer Höhlenkloster wurde in den frühen sechziger Jahren geschlossen.

Russische „Symphonia“

Nach 1991 erfuhr die russische orthodoxe Kirche eine bislang nie da gewesene Aufwertung. Nach innen erlebte sie einen ständigen Mitgliederzuwachs, nach außen rechtfertigte sie als moralische Autorität und Hüterin traditioneller Werte das nach-kommunistische Staatswesen. Unter Putin wurde sie faktisch wie eine staatliche Institution behandelt und mit steuerlichen Privilegien sowie dem Recht, Religionsunterricht zu erteilen, ausgestattet. Diese enge Verflechtung ist von beiden Seiten gewollt. Die besondere Beziehung zwischen Staat und Kirche lässt sich am besten mit dem Fachwort der „Symphonia“ beschreiben. Gemeint ist ein geradezu symbiotisches Verhältnis, eine Art politische Orthodoxie, in der Staat und Kirche trotz unterschiedlicher Rollenverteilung aufs Engste zusammenarbeiten. „Im Westen hat ein langwieriger und schwieriger Prozess dazu geführt, dass es diese enge Wechselbeziehung heute nicht mehr gibt, wobei der Trennungsprozess meist von den Staaten und nicht von den Kirchen initiiert wurde. Zugleich ist in den westeuropäischen Gesellschaften die Bedeutung von Religion zurückgegangen. In Russland hat es eine gewaltsame und seitens der Kirche unfreiwillige Trennung der Kirche vom Staat gegeben, nach langen Jahrhunderten großer Staatsnähe, und heute wird die Kirche bei der Suche nach einer neuen staatlichen Identität wieder gefragt“, bilanziert Bremer.

Allerdings ist es der russischen orthodoxen Kirche nicht gelungen, dieses Modell auch auf den „Bruderstaat“ Ukraine zu übertragen und dort eine ähnlich dominante Rolle zu spielen wie in Russland. Zwar bekennen sich drei von vier Ukrainern zum orthodoxen Christentum, und laut Umfragen vertrauen 64 Prozent der Bürger „der Kirche“ als Institution. Das sind Werte, die weder die ukrainische Polizei, die Justiz, die Medien noch irgendeine andere zivile Organisation erreicht. Aber das Land ist zu zerrissen, und der „Wettbewerb“ der Kirchen, die mit Rom und Moskau jeweils unterschiedliche spirituelle Kraftzentren und theologische Denkmodelle haben, lässt weder eine politisch-religiöse Symbiose wie in Russland zu, noch können die Christen mit starker Stimme ein gemeinsames Zeugnis ablegen, indem sie sich zum Beispiel in einer christlichen Partei politisch engagieren. Die Zersplitterung und der Streit unter den Orthodoxen haben sogar noch weiter zugenommen. Neben der 1989 mit Unterstützung der Auslandskirche neugegründeten „Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche“ musste die Moskauer Kirchenführung 1991 die Abspaltung eines großen Teils ihrer Geistlichen hinnehmen, die unter der Führung des - 1997 vom Moskauer Patriarchat exkommunizierten - Patriarchen Filaret die „Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats“ gründeten. Zu dieser Kirche gehören etwa 3000 Geistliche und 4000 Gemeinden.

Die griechisch-katholische Kirche wiederum verlegte 2005 unter großem Protest der Orthodoxen ihren Hauptsitz von Lemberg nach Kiew und zeigt dadurch an, dass auch sie als gesamtukrainische Kirche wahrgenommen werden will.

Wer also die Äußerungen und Haltungen der verschiedenen ukrainischen Kirchenführer angesichts der Krim-Krise verstehen will, muss diese geschichtlichen Verwicklungen und Prozesse mitbedenken.

Die orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats unter Filaret unterstützte von Anfang an die Protestbewegung und kritisierte die Härte der Regierung gegen die Demonstranten auf dem Maidan. Sie setzte sogar die traditionellen Fürbitten für „unsere Regierung und das Heer“ zu Beginn eines jeden Gottesdienstes aus. Seither wird nur noch für „unsere gottbehütete Ukraine und das ukrainische Volk“ gebetet. Der greise „Patriarch“, der einen Verdienstorden von Präsident Janukowitsch aus Protest gegen dessen Politik der Gewalt ablehnte, warb schon früh dafür, dass sein Land möglichst schnell das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnet, was mittlerweile geschehen ist. Dieser Vertrag sei ein Schutz vor russischer Eroberung. Auch mit Kritik an der Moskauer Kirchenführung hält er sich nicht zurück: Er stelle sich die Frage, ob die russische Kirche eine Kirche Gottes sei oder die einer irdischen Macht. Wenn sie an der Seite der russischen Regierung sei, könne sie nicht mit Gott sein. Zusammen mit dem griechisch-katholischen Erzbischof Swatjoslaw Schewtschuk, dem Kiewer Oberrabbiner Yaakov Bleich und Vertretern von fünf protestantischen Kirchen verfasste Filaret einen Aufruf, in dem er die Vereinigten Staaten, die Europäische Gemeinschaft und die Vereinten Nationen auffordert, „die ausländische Invasion und die brutale Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten zu stoppen“.

Was denkt Kyrill?

Doch auch die Stimmung in der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, zahlenmäßig die größte Kirche des Landes, ist nicht bedingungslos pro-russisch. Die Kirche wird derzeit kommissarisch geleitet von Metropolit Onufrij, der den schwer erkrankten Kiewer Metropoliten Volodymir vertritt. In ihr gibt es mittlerweile eine offene Debatte, ob der geflüchtete Präsident Viktor Janukowitsch exkommuniziert werden soll. Metropolit Onufrij ist auch ein Gegner der militärischen Intervention auf der Krim. Noch vor deren Besetzung richtete er einen Brief an den Moskauer Patriarchen Kyrill I., in dem er ihn bat, „für die territoriale Integrität des ukrainischen Staates einzutreten“. Noch deutlicher wurde der für die Militärseelsorge zuständige Metropolit Augustin. Er erklärte, es sei seine Pflicht, ukrainische Soldaten, die „das Vaterland verteidigen“, zu segnen. Als ein orthodoxer Bischof einer mit Russland verbundenen Kirche werde er niemals seinen Segen dafür geben, „dass die ukrainischen Soldaten ihre Waffen niederlegen“.

Für den Moskauer Patriarchen Kyrill ist diese Situation äußerst heikel. Verhält er sich zu staatsnah im Sinne Putins, riskiert er, dass die Kluft zwischen Kiew und Moskau in seiner eigenen Kirche tiefer wird, zumal die russischen Bistümer auf ukrainischem Boden sich weitgehend selbst verwalten dürfen, auch wenn sie nicht im Sinne des orthodoxen Kirchenrechts autonom sind. Bezieht er aber Stellung gegen Putin, riskiert er das Konzept der „Sympho­nia“, die Nähe zur politischen Macht, von der seine Kirche bislang sehr profitiert hat.

In seiner Antwort auf Onufrij versicherte Kyrill diplomatisch, dass „ich alles Mögliche tun werde, um alle Machthabenden zu überzeugen, dass der Tod von Zivilisten auf ukrainischem Boden, der meinem Herzen teuer ist, nicht zuzulassen ist.“ In der Christus-Erlöser-Kathedrale betete er dafür, „dass es nie einen militärischen Konflikt gibt, dass nie Halbbrüder gleichen Glaubens auf fürchterliche Art zusammenstoßen“. Die territoriale Unabhängigkeit der Ukraine erwähnte er aber bislang ebenso wenig wie eine Militärintervention.

„Verbunden im Taufbecken“

Für den Sekretär der griechisch-katholischen Bischofssynode, Weihbischof Bogdan Dziurach, ist dies ein versteckter Hinweis darauf, dass Kyrill nichts gegen eine militärische Intervention einzuwenden hat. Gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur sagte Dziurach: „Wenn man sich also nur Sorgen um die Opfer bei der Zivilbevölkerung macht, so fragt man sich, ob hinter den allgemeinen Phrasen über die Bruderschaft des ukrainischen, weißrussischen und russischen Volkes nicht doch ein stiller Segen für das gewaltsame Vorgehen Putins in der Ukraine gegeben wurde.“

Dass diese Befürchtungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, zeigt eine Stellungnahme des Leiters der Synodalabteilung des Moskauer Patriarchats, Erzpriester Vsevolod Tschaplin, der zum engsten Beraterkreis Kyrills gehört und als Mann scharfer Worte gilt. Ähnlich wie Putin behauptet er eine Verschwörung des Westens, die letztlich die Seele Russland bedrohe. Ein russisches Eingreifen sei daher das Gebot der Stunde. „Orthodoxie aktuell“ zitiert Tschaplins Sicht so: „Eine kleine Gruppe, angetrieben von theologisch wie auch gesellschaftlich verlogenen Ansichten, erlaubt sich, die historische Wahl und den Willen eines ganzen Volkes zu vergewaltigen.“ Die russischen Brudervölker, die durch den heiligen Wladimir „im Kiewer Taufbecken“ fest miteinander verbunden sind, müssten nun jenen helfen, „die angesichts des Einfalls einer neuen Horde eine Willenskrise durchleben“. Es sei völlig klar, dass es der Ukraine nicht gelingen wird, „sich auf ihre internen nationalen Prozesse zu beschränken. Das bedeutet … die mögliche Einmischung jener Kräfte, die nicht wollen, dass die Ukraine ein Teil der ostchristlichen Zivilisation bleibt.“

Droht der Ukraine nun womöglich auch noch ein Krieg der Konfessionen? Einerseits sind die Kirchen offenbar zu schwach, um regulierend einwirken zu können. Ihr erzieherischer Einfluss auf das Volk, die Oligarchen und Eliten ist gering. Andererseits ist es ihre Pflicht, sich gerade in dieser Situation auf das gewaltlose Vorbild Jesu zu besinnen.

Christ in der Gegenwart im Abo

Unsere Wochenzeitschrift bietet Ihnen Nachrichten und Berichte über aktuelle Ereignisse aus christlicher Perspektive, Analysen geistiger, politischer und religiöser Entwicklungen sowie Anregungen für ein modernes christliches Leben.

Zum Kennenlernen: 4 Wochen gratis

Jetzt testen