Sie fühlen sich stark und tapfer. Kein Feind wird sie je bezwingen. Sie glauben, „es gebe nichts Schöneres auf Erden als das Militär“, als Soldaten mit schönen Uniformen, goldenen Rangabzeichen und glänzenden Säbeln. René, Bernard, Jacques, Étienne und Francine sind vom Militär begeistert, weil die Soldaten für das Vaterland ihr Leben hingeben. Das Herz schlägt höher, als das Kommando zum Marschantritt erteilt wird. „Gewehre schultern! Vorwärts, marsch!“, befiehlt General René. „Er trägt einen Zweispitz und reitet auf einem Schlachtross. Die Kopfbedeckung ist aus Papier, und das Ross ist ein Stuhl.“ René ruft: „Vorwärts! Vorwärts… Im Esszimmer sind die Chinesen. Wir wollen sie angreifen!“
Noch ist der Krieg ein Kinderspiel. Noch findet der Aufmarsch im Esszimmer des Elternhauses statt. Doch die Szene aus der Erzählung „Truppenparade“ des französischen Literaturnobelpreisträgers Anatole France (1844-1924) ist wie eine böse Vorahnung. Das kindliche Aufrüsten und Mobilmachen, das die Kurzgeschichte aus dem Jahr 1900 beschreibt, handelt von einer Generation, die vierzehn Jahre später als echte Soldaten in die erste Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zieht. Wohl wenige ahnten 1914, wie viel Leid, Schmerz und Zerstörung der Erste Weltkrieg (1914-1918) mit seinen industriell geführten Materialschlachten bringen würde. Wie zahlreiche zeitgenössische Künstler und Intellektuelle gehörte auch Anatole France anfangs zu den Befürwortern eines Krieges, der allen naiven Fortschrittshoffnungen ein Ende setzte. Von den Erlebnissen an der Front versprachen sich die Akademiker eine regenerierende Wirkung, gar „Reinigung“ und Erneuerung. Anatole France bekannte später, dass das Eintreten für den Krieg der größte Irrtum seines Lebens war.
„Glaubt an diesen Kampf!“
Auf deutscher Seite unterzeichneten über neunzig Gebildete, darunter die Physiker Max Planck und Wilhelm Conrad Röntgen sowie der Chemiker Fritz Haber, einen „Aufruf an die Kulturwelt“, in dem sie die „Lügen“ der Alliierten aufzählen. So habe Deutschland den Krieg nicht provoziert und die Neutralität Belgiens beim Einfall deutscher Truppen am 3. August 1914 nicht völkerrechtswidrig verletzt. In dem Appell heißt es: „Glaubt uns! Glaubt, dass wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir Euch ein mit unserem Namen und mit unserer Ehre!“
Gelehrtheit und Weitsicht sowie Patriotismus und Kriegswille gingen jedoch nicht immer Hand in Hand. So zeigten sich der britische Philosoph Bertrand Russel und der französische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland von Beginn an als Kriegsgegner, erklärt der amerikanische Historiker Leonard V. Smith in dem Sammelband „Der Erste Weltkrieg - eine europäische Katastrophe“. Rolland berichtete im Frühsommer 1919 von den Schuldgefühlen zahlreicher Intellektueller: „Ihrer Weisheit gewiss, haben sie überheblich, unversöhnlich Millionen junger Leben dem Triumph der Wahngebilde ihres Geistes geopfert. Die Geschichte wird es nicht vergessen.“ In einem Brief an Rolland schrieb der Physiker und Pazifist Albert Einstein: „Die Gelehrten der verschiedenen Länder gebärden sich, wie wenn ihnen … das Großhirn amputiert worden wäre.“
Neben der vielfach bezeugten Kriegsbegeisterung versammelten sich im Juli 1914 aber auch tausende Menschen in vielen deutschen Städten zu Antikriegsdemonstrationen. Die Massenbewegung der Arbeiterschaft versetzte sogar Kaiser Wilhelm II. in Unruhe, der die „Sozialisten“ und ihre „antimilitaristischen Umtriebe in den Straßen“ auf keinen Fall duldete. Die Hoffnung der Kriegsgegner, den bevorstehenden Bankrott der Zivilisation zu stoppen, wurde jedoch endgültig nicht erfüllt, als bei einer Reichstagssitzung am 4. August 1914 sogar die oft als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichneten Sozialdemokraten einstimmig für die Gewährung von Kriegskrediten votierten.
Die politischen Entscheidungen - wie dieser berühmt gewordene „Burgfrieden“ der SPD - und die sich überschlagenden Ereignisse seit dem als Kriegsauslöser ausgemachten Mord am österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajewo wurden vor allem auch unter Schriftstellern und Dichtern ganz unterschiedlich beurteilt. Während die einen von „großen Tagen“ sprachen, distanzierten sich andere deutlich von jeder „hurrapatriotischen“ Kriegshetze. Der österreichische Schriftsteller und Journalist Karl Kraus etwa beschwerte sich über einen beispiellosen „stürmischen Anschluss an die Banalität“. Damit habe er aber weniger die spontane Volksbegeisterung für den Griff nach den Waffen gemeint „als vielmehr eine in Kreisen von Publizisten und Professoren um sich greifende Bereitschaft zur intellektuellen Kriegsführung“, heißt es in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“.
In der Drachenhöhle
Die Bildungselite habe sich regelrecht auf die Suche gemacht nach einer Idee, die zeigt, dass dieser Krieg geführt werden darf, dass er gar lohnenswert ist. „Unter den zahlreichen Begründungsfiguren, die teilweise auf eine lange Vorgeschichte im Kaiserreich zurückblicken konnten, war der Gedanke der kulturellen Überlegenheit besonders verbreitet. Deutschland sei die Aufgabe gestellt, ‚den europäischen Osten und Vorderasien zu befruchten, durch Vorbild und Leitung die Völker dieser Länder zu kultivieren und zu heben‘. Die Deutschen verstanden sich als Kulturvolk, ein Volk, das in Konzertsälen, Opernhäusern, Theatern und Bibliotheken zu Hause war.“
Umso verwerflicher war die Zerstörung der dreihundert Jahre alten Universitätsbibliothek im belgischen Leuven mit ihrem einzigartigen, unwiederbringlichen Buch- und Handschriftenbestand. „Als in der Nacht vom 25. auf den 26. August 1914 deutsche Soldaten die Löwener Bibliothek, eine der ältesten der Welt, in Flammen aufgehen ließen, hatte Deutschland den Krieg moralisch bereits verloren“, erklärte der Autor und Vorsitzende der gemeinnützigen Konejung-Stiftung, Achim Konejung, während einer Geschichtsexkursion der Bensberger Thomas-Morus-Akademie in die Champagne, eine der vom Ersten Weltkrieg am stärksten beeinträchtigten Regionen Frankreichs.
Wer von Norden über die Städte Sedan und Rethel durch die wellige, fast baumlose Landschaft der Champagne in Richtung Reims fährt, kommt durch ein Gebiet, das bis heute die Wunden des „Grand Guerre“ trägt. Viele Dörfer, die vor hundert Jahren bei den Gefechten zerstört wurden, erkennt man am markanten Bruchstein-Baustil der Zeit der „Reconstruction“. Andere Siedlungen - wie beispielsweise das Dorf Nauroy - wurden aufgrund der enormen Zerstörungsausmaße an anderer Stelle oder nie wieder aufgebaut. Auf dem erst vor wenigen Jahren wiederentdeckten alten Friedhof von Nauroy fand man den Grabstein eines deutschen Soldaten, der während des Krieges auf dem Dorffriedhof bestattet wurde. „Für Freiheit, Recht und deutsche Ehre, ruhe sanft in fremder Erde“, lautet die Grabinschrift. Ein Name und Sterbedatum sind nicht überliefert. Der globale Krieg verschlang geradezu das Individuum.
Die Geschichtsausstellung „Centre d’interpretation Marne 14-18“ in der nordfranzösischen Ortschaft Suippes, unweit der früheren Gefechtsstellungen, zeigt den Krieg nicht in der Abstraktheit der Zahlen von Toten und abgefeuerten Granaten, sondern dokumentiert die Lebensumstände von Einzelnen, der Zivilbevölkerung, von Militärs und Kriegswitwen. Die Notizen des französischen Soldaten Antoine Bieisse, der bereits am 20. August 1914 schwer verletzt wurde, können in ihrer schlichten Eindringlichkeit und dem nicht gekünstelt wirkenden Spannungsbogen als Fragmente einer Schützengraben-Literatur bezeichnet werden: „Ich schreie, aber meine Kameraden sind schon gegangen… Wohin sind sie gegangen? Was ist aus ihnen geworden? Ich weiß es nicht. Die Gefechte gehen weiter, so dass mich sogar eine zweite Kugel auf Ellenbogenhöhe in den linken Arm getroffen hat… Die Stunden verstreichen, und wir sind immer noch da ohne Hilfe. Ich leide immer mehr. Hier und da sterben einige Verletzte… Es ist elf Uhr und ich bin seit fünf Stunden ohne jeden Verband! Mitten in unseren Schmerzen rufen wir mit allen Kräften um Hilfe, damit man uns hört. Nichts, nichts, nichts. Es wird Nacht, eine schreckliche Nacht, in der ich nicht aufhöre zu wimmern.“ Antoine Bieisse blieb noch drei Tage ohne jegliche Versorgung. Am vierten Tag, schreibt er, habe er die Hoffnung ganz verloren. „Die Luft ist nicht mehr zum Aushalten: Ein bestialischer Gestank verbreitet sich, denn die Toten sind zahlreich. Die Krähen und andere Vögel sind schon da, auf meinen Kameraden, es ist schrecklich, grauenhaft.“ Völlig entkräftet, beinahe verblutet und „halb tot“ vernimmt der Soldat nach Tagen den Schall eines Rettungshorns. „Mit letzter Kraft stoße ich einen Schrei aus, der glücklicherweise gehört wird, denn sofort antwortet mir eine Stimme: ‚Wo seid ihr? Schießt nicht, es ist das Rote Kreuz!‘“
Auch unter den Soldaten der verfeindeten Parteien gab es zeitweise gegenseitige Hilfe. In der „Caverne du Dragon“, der Drachenhöhle, einem unterirdischen Steinbruch auf dem markanten Höhenzug und kriegsstrategisch bedeutenden „Chemin du Dames“, pflegten französische und deutsche Soldaten eine gewisse Art von „Co-Habitation“, ein Zusammenleben. Zwar trennte man die Gruppen durch eine Wand aus Sandsäcken und Brettern in dieser unterirdischen Kaserne ab, doch galt das ungeschriebene Gesetz, hier nicht aufeinander zu schießen. Statt Schussspuren fand man Notizzettel wie diesen: „Über Tage kämpfen mit einer Idee: den Krieg beenden.“ Als französische und deutsche Soldaten in ihren Feldpostbriefen vom gemeinsam gefeierten Weihnachten 1914 berichteten, wurden die Schreiben von der Zensur einkassiert und kamen nie bei den Adressaten an. Vom „Frieden“ mitten im Krieg, wie überhaupt von Ereignissen am Kampfplatz, durfte nicht berichtet werden. Als Strafe versetzte man sogar etliche Soldaten an die russische Front im Osten.
Der Todeskampf der Basilika
Im Westen zeigte sich schon während der ersten Kriegsmonate, dass sich das im militärischen Denken vorherrschende Konzept der „Entscheidungsschlacht“ überholt hatte - sowohl auf französischer als auch auf deutscher Seite. Der sogenannte Plan XVII der französischen Armeeführung unter Oberbefehlshaber Joseph Joffre mit der Militärdoktrin der „Offensive à outrance“, der „Offensive bis zum Äußersten“, scheiterte ebenso wie der bereits 1905 ausgearbeitete deutsche Schlieffen-Plan. Der preußische Offizier Alfred Graf von Schlieffen (1833-1913) meinte, ein zukünftiger europäischer Konflikt werde ein Zwei-Fronten-Krieg sein. Weil aber Russland lange bräuchte, um seine Truppen zu mobilisieren, gelte es, zunächst Frankreich innerhalb von wenigen Wochen zu schlagen, um die Soldaten anschließend nach Osten zu verlagern. Der Theorie zufolge sollten fünf von acht deutschen Armeen über Belgien und Luxemburg marschierend den französischen Truppen in den Rücken fallen. Die vierte Armee sollte durch die Champagne bis nach Reims vorstoßen. Der Schlieffen-Plan scheiterte, weil Belgien den Durchmarsch deutscher Truppen nicht akzeptierte und Großbritannien daraufhin in den Krieg eintrat; eine Wendung der politischen Bedingungen, die Graf von Schlieffen (1833-1913) überhaupt nicht bedacht hatte.
Dramatischerweise jedoch stand im Herbst 1914 tatsächlich ein deutscher Militärverband vor Reims und beschoss das Symbol der „Grande Nation“: die Krönungskathedrale der französischen Könige, in der der Merowingerkönig und als Begründer des christlichen Frankenreichs angesehene Chlodwig I. (466-511) der Legende nach am Weihnachtsfest 496 oder 497 von Bischof Remigius getauft wurde, nachdem er siegreich aus der Schlacht bei Zülpich im Jahr 496 hervorgegangen war. Daraufhin ließen sich vom 13. bis zum 18. Jahrhundert fast alle Monarchen des Landes in Reims inthronisieren und salben.
„Sie war die am besten erhaltene Kathedrale Frankreichs. Allein ihretwegen könnte man katholisch werden. Ihre Türme stiegen auf, als wollten sie zeigen, dass sie nicht mit dem Stein endeten“, schrieb der französische Journalist Albert Londres in seinen dramatischen Frontdepeschen. Unter der Überschrift „L’agonie de la basilique“, „Der Todeskampf der Basilika“, dokumentiert Londres den Angriff deutscher Granaten auf die gotische „Notre-Dame von Reims“ am 19. September 1914. „Fotografien zeigen nicht ihren wahren Zustand. Fotografien geben nicht die Tönung des Todes wieder. Wahrhaftig weinen kann nur, wer vor ihr steht, wer als Pilger kommt… Die Chimären, die Strebebögen, die Wasserspeier, die Kolonnaden, alles übereinandergeworfen, vermischt, zerhackt, zum Verzweifeln. Ihr Künstler von einst, die ihr euren Glauben diesen Steinen eingeflößt habt, jetzt seid ihr gestorben… Das Geschütz schleudert weiterhin unablässig seine Blitze in die Stadt… Was macht das jetzt noch aus? Die Kathedrale von Reims ist bloß noch eine Wunde.“ Achim Konejung nannte gegenüber der Reisegruppe der Thomas-Morus-Akademie diesen blindwütigen Zerstörungsakt ein „Zeichen deutscher Kulturbarbarei“.
Angesichts dieser Geschichte rührt es bis heute viele Besucher zu Tränen, vor der wiederaufgebauten Kathedrale von Reims zu stehen, in der im Juli 1962 der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer einander die Hände reichten und die deutsch-französische Freundschaft festschrieben. Gegenüber Erzbischof François Marty sagte de Gaulle am symbolträchtigen Ort: „Exzellenz, Bundeskanzler Adenauer und ich kommen in Ihre Kathedrale, um die Versöhnung Frankreichs mit Deutschland zu besiegeln.“ Es ist wie ein Zeichen der „Auferstehung“ des historischen Kirchenbaus sowie der Staatenbefriedung nach Jahrhunderten blutiger Irrtümer zwischen zwei Völkern, dass das mittlere, 1974 von Marc Chagall (1887-1985) entworfene Glasfenster der Achskapelle in „Notre-Dame von Reims“ eine Geste des Anfangs, des Neubeginns, der Wiederaufrichtung, des einen Gottes zeigt: „Die Hand des Schöpfers“.
Während des Ersten Weltkriegs wurde der Gottesgedanke dagegen oft schändlich missbraucht und für „Kaiser und Vaterland“ instrumentalisiert. So zeugen beispielsweise die Feldpredigten des in der zweiten Jahrhunderthälfte weithin geschätzten Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich (1886-1965), der zwei Jahre vor Kriegsbeginn in Berlin ordiniert und als freiwilliger Feldgeistlicher an der Westfront in Frankreich eingesetzt wurde, von einer nationalprotestantischen Kriegstheologie. In ihr wird „die Heiligkeit der deutschen Nation gefeiert, der Sieg der moralisch überlegenen Deutschen über ihre Feinde fest erwartet, der Herr im Himmel als ‚unser‘ Alliierter verehrt, der einfache Soldat wie der Offizier zum Heldentod ermutigt und immer wieder unbedingte Opferbereitschaft eingeklagt“, erklärt der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“. Wie wohl auch bei den anderen kriegsführenden Nationen gepredigt wurde, setzte Tillich das Opfer für das Vaterland, die Leiden der Verwundeten, Sterbenden und Gefallenen mit dem Opfertod Jesu am Kreuz gleich. In einer seiner frühen Feldpredigten heißt es, dass Gott die Leidenden unter das „große heilige Gesetz des Opfers“ gestellt habe. „In die göttliche weltbezwingende Ordnung hat er sie hineingestellt, dass sie nicht mehr sich selbst gehörten, sondern dem, was größer ist als sie, dem Vaterlande. Heiliger Stolz, dieses Opfers gewürdigt zu werden, soll jeden erfüllen, der mit wundem Leib, der mit wunder Seele auf dieses Jahr zurückblickt.“
Die hinter Tillichs Sätzen stehende Sakralisierung des Krieges sowie das in zahlreichen zeitgenössischen politischen Reden, Briefen und Texten der Erbauungsliteratur zu findende menschenfeindliche Gottes- und Glaubensbild waren jedoch auch damals für manchen wachen Kopf ebenso schwer erträglich wie für heutige Leser. Der katholische französische Schriftsteller Léon Bloy (1846-1917) empörte sich über die frömmelnden Kriegsredner, die „mit aller Gewalt die Tore zum Paradies der Märtyrer“ aufstoßen wollten. „Glaubte man ihnen, hätte jeder Einzelne sein Leben aus Liebe zu Gott geopfert, in übernatürlicher Loslösung von jeder irdischen Regung… Ach! Wahrhaftig, die armen Soldaten, die verlassen auf ihrem Bett aus gefrorenem Schlamm liegen, der ihr Leichentuch sein wird!“ Während Bloy es verweigerte, dem Leid einen höheren Sinn zu geben oder gar den Willen Gottes im Krieg zu erkennen, war für viele andere die Religion eine Art Nothelferin und Sinnstifterin mitten im Abgrund der Sinnlosigkeit.
Der Journalist, Schriftsteller und linke Demokrat Kurt Tucholsky (1890-1935) bemerkte 1927 im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg in einem Artikel mit dem Titel „Über wirkungsvollen Pazifismus“: „Kein Mensch vermag eine ganze Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muss sich einen Vers darauf machen. Er kann seine Leiden verfluchen oder loben, zu verdrängen suchen oder sie lebendig halten - aber dass sie sinnlos gewesen seien, das kann er nicht annehmen.“ In Kriegszeiten besaß vor allem das Religiöse die Funktion der therapeutischen Bewältigung des selbst oder von Familienangehörigen Erlebten und Erlittenen. An der höheren Sinngebung zu zweifeln, hätte für viele wohl den vollständigen psychischen Zusammenbruch bedeutet. So auch für den Generaloberst und Chef des Militärkabinetts Moriz von Lyncker (1853-1932), dessen Briefe an seine Frau als Quellen aus der militärischen Umgebung von Kaiser Wilhelm II. gelten können. Als Lyncker seine zwei Söhne Niklas und Bodo im Krieg verloren hatte, schrieb er: „Ich bin an mir selbst schon oft erschrocken, dass auch der Gedanke, dass Niklas für ein Großes und für das Vaterland sein Leben ließ, mir gar keinen Trost gewährt… Nie zuvor habe ich solch Schmerz kennengelernt. Es ist Gottes Wille; er allein weiß, warum er uns dies auferlegte. Durch Trübsal hier geht der Weg zu Ihm… Wenn man nicht in Allem, auch in dem Schwersten Gottes Hand erkennen will, ist man verloren.“ Für den in Leeds lehrenden Historiker Holger Afflerbach ist Lyncker kein Einzelfall, da die große Mehrheit der Militärs ihren soldatischen Überzeugungen treu geblieben sei. Persönliche Verlusterlebnisse und politisches Geschehen hätten viele voneinander abgekoppelt, so dass das Leid eine Privatangelegenheit wurde und nichts mit dem Feldzug zu tun hatte. Afflerbach erläutert in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“: „Das Leid des Krieges wurde praktisch zur Privatsache zwischen Gott und dem Individuum. Auch der Kaiser hing einer Prädestinationslehre an, die in dem Kriegsgeschehen das Wirken Gottes, nicht die Konsequenzen des eigenen Tuns sah… Diese Form der Religiosität war eines der tragenden Elemente, die es Lyncker und vielen anderen ermöglichte, die Leiden des Krieges so lange zu erdulden.“
Das Leid ist Privatsache
Die vermeintliche höhere Sinngebung wurde auch in der Dichtung über den Ersten Weltkrieg thematisiert. Auf zynische Weise gelang dies dem anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam (1878-1934) mit seinem Gedicht „Kriegslied“: „Aus dem Bett von Lehm und Jauche / zur Attacke auf dem Bauche! / Trommelfeuer - Handgranaten - / Wunden - Leichen - Heldentaten - / bravo, tapfere Soldaten! / So lebt der edle Kriegerstand, / das Eisenkreuz am Preußenband, / die Tapferkeit am Bayernband, / mit Gott, mit Gott, mit Gott, / mit Gott für König und Vaterland.“ Weil Mühsam einen radikalen antimilitaristischen Internationalismus propagierte und pazifistische Bewegungen mobilisierte, wurde er „wegen Verstoßes gegen das politische Betätigungsverbot“ bis zum Kriegsende 1918 unter Zwangsarrest gestellt.
Andere Künstler wie die Maler von Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus und Avantgarde suchten in den ersten Kriegsjahren einen Stil und eine Meinung. Während beispielsweise Oskar Kokoschka sein berühmtes Gemälde „Die Windsbraut“ verkaufte, um sich die teure Ausstattung der Kavallerie zu besorgen und 1916 in offiziellem Auftrag als Kriegsmaler tätig wurde, erklärte der deutsch-französische Maler Hans Arp nach Kriegsende: „Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.“ Eine besondere Herausforderung, so der amerikanische Historiker Leonard V. Smith, bestand darin, den modernen Charakter des Krieges darzustellen. Der schweizerisch-französische Künstler Félix Vallotton sei 1917 an die Front in die Champagne und in die Argonnen gereist, um später, wie in dem Bild „Plateau de Bolante“, völlig menschenleere, zerfurcht-verkrüppelte Landschaften zu malen. Der Italiener Gino Severini zeigt mit dem Werk „Kanone in Aktion“ sowohl eine „realistische als auch symbolische Gesamtdarstellung des mechanisierten, ohrenbetäubend lauten Kriegs“.
Der Lärm der Schlachten von 1914 bis 1918 klingt bis heute nach. Unter der Überschrift „Hundert Jahre Unsicherheit“ erklärte der Journalist Stefan Kornelius in der „Süddeutschen Zeitung“, dass die Motive vom Beginn des 20. Jahrhunderts wiederkehren: „der Zerfall staatlicher Autorität, der aufkeimende Nationalismus, der ewige Kampf um die Machtbalance“. Wie vor hundert Jahren ringen Europas Gesellschaften auch heute mit einer die ganze Lebenswelt verändernden Industrialisierung - diesmal der digitalen -, mit scheinbar alles beherrschenden internationalen Finanzmärkten, mit „dem unbändigen Wunsch nach Frische und Aufbruch“ bei gleichzeitig tiefer Angst vor neuen kriegerischen Auseinandersetzungen.
An der Fassade der Kathedrale von Reims, dem Symbol neuer, vor Gott besiegelter Freundschaft zweier vormaliger Feinde, steht ein in Stein gemeißelter lächelnder Engel. Er hat das „Zeitalter der Extreme“ überlebt, wenngleich mit „Wunden“. Sein Gesichtsausdruck aus Mut und Freude, Glaube und Zuspruch ist ein Zeichen der Hoffnung und zugleich Anspruch und Aufgabe, in Zeiten des Friedens den Frieden zu erhalten, den Frieden zu lieben.
Literatur:
Albert Londres, „Was sind neun Tage Schlacht? Frontdepeschen 1914“ (Diaphanes Verlag, Zürich 2014)
Horst Lauinger (Hrsg.), „Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in den großen Erzählungen der Weltliteratur“ (Manesse Verlag, Zürich 2014)