Noch nie war die Macht der Weltmächte so groß wie heute. Zwar hat der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa das riesige Staatengebilde Sowjetunion zerschlagen. Doch auch ein „niedergegangenes Imperium“ schlägt manchmal zurück - und nicht selten umso heftiger. Stärke wird zu Schwäche, in der Schwäche wiederum baut sich Stärke auf. Darin liegt die Ambivalenz aller Macht. Nichts ist auf ewig festgeschrieben. So hat eine neue Welle von Patriotismus und Populismus das geschwächte Russland wieder „aufgeschwemmt“, die politische Klasse genauso erfasst wie die einfachen Bürger und die Intelligenzija. Die Ukraine-Krise zeigt, wie Machtverlust durch Machtgewinn ausgeglichen werden soll. Aber übersteigerter Machtgewinn birgt in sich bereits wieder den Keim zur Erosion der Macht. So weiß momentan niemand, ob Putins Versuch, an alte Herrlichkeit und Herrschaft anzuknüpfen, gelingt - oder sogar das Gegenteil bewirkt.
Zudem sind ökonomische Macht, politische Macht, militärische Macht und Überlegenheit nicht immer das Maß aller Dinge. Vermeintlich feste Ordnungen können selbst durch kleinste Chaos-Kräuselungen in heftige Turbulenzen geraten und eine Super-Nation zutiefst verunsichern. Das haben die Attentate des 11. September 2001 eindrücklich gezeigt. Ein Drama, ein Trauma - und vielleicht noch mehr. Jedenfalls erlebt plötzlich nicht nur Amerika, sondern auch Russland und China geradezu entsetzt, wie sich aus der „Peripherie“ der Welt eine ganz neue Macht als Feind erhebt, der die bisherige so selbstverständliche „Gewaltenteilung“ und Gewalten-Einteilung der Welt zwischen Washington, Moskau und Peking infrage stellt: ein Radikalislam, der die Mächtigsten selbst auf deren eigenem Territorium mit Nadelstichen das Fürchten lehrt, im Orient und in vielen Gegenden Afrikas wie Asiens ein Dschihadismus, der keine Grenzen kennt, weil er alle Grenzen überschreitet. Das gelingt den Leuten von Isis, Al-Qaida, Boko Haram, Abu Sayyaf, Al Shabaab - oder wie auch immer sie heißen mögen -, obwohl sie keine Atomraketen besitzen wie die Supermächte, keine Marschflugkörper, keine Neutronenbombe, keine biologischen oder chemischen Kampfstoffe, keine MiGs, Thunderbolts, Harrier, Chengdu, Shenyang, Xian, Apache-Kampfhubschrauber oder sonstige Militärflugzeuge, keine Drohnen. Ihnen reichen vielfach Gewehr und Schwert und Pick-ups. Der nunmehr von Amerika und Frankreich angeführte Luftkrieg gegen den Bodenkrieg des „Islamischen Staats im Irak und in Groß-Syrien“ belegt im Grunde eins: dass Macht manchmal recht machtlos erscheint. Nicht nur bei den neuen „Alliierten“ herrscht allgemeine Verunsicherung und Verlegenheit, wie es möglich ist, dass vermeintlich „Kleine“ sich als so viel mächtiger erweisen, als die „Großen“ vermuteten.
Wieder einmal bestätigt sich: Die wirkungsvollste Droge des Menschen ist und bleibt: die Macht, der Wille zur Macht. Im Rausch der Macht werden nicht selten gewaltigste Kräfte und Phantasien freigesetzt, verstärkt von Hass und dem Gefühl, zurückgesetzt, betrogen worden zu sein - von wem auch immer. Nun aber sei die Stunde der Rache da. Dann werden selbst die elementarsten Gesetze der Vernunft und des Humanen ausgehebelt.
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Ist Macht aber zwingend von Grund auf böse? Ist sie geradezu wesenhaft darauf angelegt, von einem „Krieg“ zum nächsten „Krieg“ zu stolpern, seien es die Kriege in den persönlichen Beziehungen oder die Kriege ökonomischer, politischer, militärischer, kultureller, wissenschaftlicher, religiöser, konfessioneller oder sonstiger Art im Konkurrenzkampf der Parteiungen, Völker, Stämme, Clans, Nationen?
Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel weist in den „Stimmen der Zeit“ (Oktober) auf die ernüchternde geschichtliche Erfahrung hin, „dass Kriege zwischen den Völkern nicht der Ausnahmefall, sondern der Normalfall waren. Jede Nachkriegszeit wurde wieder zur Vorkriegszeit.“ Diese Erkenntnis mag die Bürger eines vorwiegend friedlichen Europa erschrecken. Sie könnte ihnen jedoch heilsam Illusionen rauben, damit sie sich nicht allzusehr naiv in Sicherheit wiegen. Können auch uns neue heftige Konflikte drohen? Oder sind wir dagegen immun?
Jedenfalls scheinen inzwischen sogar den multikultiseligen und vertrauensseligen Deutschen die Augen aufzugehen in dem Maße, in dem die staatlichen Sicherheitsbehörden durchsickern lassen, wie sehr muslimische Gotteskrieger längst mittendrin in diesem Staatswesen „schlummernd“ ihre Netzwerke knüpfen. Möglicherweise ist doch nur eine weit ausholende, effektive IT-Geheimdienstüberwachung - Snowden hin, Snowden her - in der Lage, dem organisierten Verbrechen der Dschihad-Ideologie rechtzeitig auf die Spur zu kommen. Anders sind die erstaunlichen Ermittlungserfolge jedenfalls nicht zu erklären, die zuletzt in Australien, Europa und Amerika geplante brutale Terrorakte gerade noch verhindern konnten. Aber auch diese Fälle sind wohl nur die „Spitze eines Eisbergs“.
Dass auf Krieg irgendwann wieder Krieg folgt, als sei es ein in die Geschichte eingeschriebenes Naturgesetz, heißt jedoch nicht, sich dem Schicksal lethargisch ergeben zu müssen. Vorbeugung und Risikominimierung sind die vornehmste Aufgabe moderner Staatswesen: die Atavismen der menschlichen Natur durch politische, soziale, kulturelle und juridische Regulative einbremsen. Teufel: Man kann aus den schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit lernen „und Sicherungssysteme für die Erhaltung des Lebens und der Freiheit der Bürger entwickeln“. Ohne Macht ist dem Missbrauch der Macht nicht entgegenzuwirken. Ohne Macht lässt sich Macht nicht kontrollieren. Die menschheitsgeschichtlich bisher erfolgreichste Erfindung „guter“ Macht ist die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat mit allem, was an demokratischen Instanzen dazugehört. Das schließt die Arroganz der Macht zwar nicht aus, dämmt sie jedoch ein. Teufel bewertet den Rechtsstaat noch vor anderen Entdeckungen als „die größte Errungenschaft unserer Kultur und Geschichte“. Diese Institution denke konsequent vom Menschen und von seinen Rechten her. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Teufel plädiert entschieden für das Subsidiaritätsprinzip. So „organisieren sich Staat und Gesellschaft von unten nach oben.“ Kein modernes Gemeinwesen dürfe dahinter zurückfallen.
Die Machtfrage und die Problematik des Machtverlustes selbst mächtiger Institutionen und Instanzen betreffen jedoch nicht nur die weltliche Sphäre von Staaten oder Gesellschaften. Auch kleinere Gemeinwesen und Gemeinschaften haben Macht, verlieren Macht und müssen sich von Zeit zu Zeit fragen, was eigentlich Sinn und Ziel ihrer Macht sind, aus welchen inneren Quellen sie schöpfen, wofür sie leben, was ihre Überzeugungskraft ausmacht. Auch Glaube bedeutet Macht - oft genug mit der Versuchung zur Allmacht.
Freie Bürger Christenbürger
Das alte, manchen bereits als antiquiert erscheinende „Gemeinwesen“ Kirche kann und darf sich solchen kritischen, gewissenhaften Beobachtungen und Selbstbeobachtungen - und notwendigen Korrekturen - ebenfalls nicht entziehen. Die streng zentralistisch-hierarchisch-monarchisch verfasste katholische Kirche müsste allmählich erkennen, wie man heute in modernen demokratischen Mitbestimmungssystemen mit Macht umzugehen, Macht zu teilen hat, um Glaubwürdigkeit und Autorität zu bewahren, ja neu zu gewinnen. Davon ist Erwin Teufel überzeugt. „So wie wir alle als Bürgerinnen und Bürger aus unserer Geschichte gelernt haben…, so könnte auch die katholische Kirche aus der Geschichte des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates lernen und Elemente des Rechtsstaates, der Menschenrechte, der Teilung und Kontrolle der Macht in ihre innere Ordnung aufnehmen.“ Der freie Bürger muss ebenso als Bürger in der Freiheit eines Christenmenschen respektiert werden.
In Deutschland hatte zuletzt der „Fall Limburg“ einen gewaltigen kirchlichen Glaubwürdigkeitsschaden, ja sogar Glaubensschaden angerichtet, weil diese Einsicht nicht beherzigt wurde. Der Fehler lag nach Teufels Einschätzung im System „und nicht im Versagen einzelner Beteiligter“. Der erfahrene Politiker zitiert den tschechisch-amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaftler Karl Wolfgang Deutsch: „Macht ist, nicht mehr zuhören zu müssen, weil man ja das Sagen hat.“ In Limburg sei das Problem gar nicht einmal vorrangig der falsche Einsatz von Geld oder die Kostenexplosion gewesen, sondern autokratische Entscheidungen, mangelnde Kontrolle, fehlende Zuständigkeit der Kontrollorgane und falsch verstandene Rücksichtnahme auf die Respektsperson Bischof.
Erwin Teufel sieht für die katholische Kirche jedoch viele Möglichkeiten, aus dem Schaden klug zu werden, wenn die Glaubensgemeinschaft die weltlichen Einsichten nutzt. Von der Integration, Vernetzung und Förderung verschiedener Gnadengaben auf Gemeindeebene über die Berufung von Pfarrern bis zur Bischofswahl ließen sich demokratisch-synodale Verfahren erproben und installieren. Auch da gilt, was Papst Franziskus anmahnt, aber - wie manche der jüngeren deutschen Bischofsernennungen zeigen - noch nicht verwirklicht ist: auf die Erfahrungen des Volkes Gottes hören, seine Mitbeteiligung fördern. Was man vor Ort regeln kann, soll vor Ort geregelt werden - so dezentral wie möglich, so zentral wie nötig. Dazu müssen die Ortskirchen jedoch auch selber die Initiative ergreifen und endlich energisch darauf drängen, entsprechende Reformen in Angriff zu nehmen.
Gewiss: Das verbessert noch nicht - wie man an den evangelischen Kirchen in noch trostloserer Lage sieht - das gestörte Glaubensklima, weckt noch lange nicht das Glaubensbedürfnis und beschleunigt aus sich heraus auch nicht die Theologie, um die Gottesfrage unter den Bedingungen wissenschaftlich-entmythologisierter Erkenntnis und kultureller Realitäten kreativ wie innovativ neu durchzubuchstabieren. Aber es könnte zumindest ein wenig mehr Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit schaffen. Diese hat sich mit Urteilen und platten Vorurteilen über Lehrautorität, Macht- und Geldgier ja längst ihre Meinung gebildet oder von anderen bilden lassen. Jedenfalls ist die Bevölkerungsmehrheit schon derart weit der christlichen Frohbotschaft entfremdet, dass es aller Mühe wert wäre, wenigstens ansatzweise dem Eindruck des Ewiggestrigen und Nur-noch-Exotischen von Kirche entgegenzuwirken. Fehlende Taten werden jedoch durch noch so viel Kirchen-PR und noch so teure Öffentlichkeitsarbeit, einschließlich der Unterstützung durch Unternehmensberatungskonzerne, nicht wettgemacht.
Berliner Streicheleinheiten
Mächtige Kirche? Das war einmal. Inzwischen mehren sich die Zweifel, wieviel Macht die Kirche überhaupt noch hat - sowohl über ihre eigenen Gläubigen als auch in Politik und Gesellschaft. Ist vieles womöglich nur noch eine Fassade der Macht? Der Eindruck drängt sich auf, dass insbesondere Kirchenleitungen - geblendet von oberflächlichen Meinungsumfragen und wohlwollenden Antworten - sich in der Illusion der Macht eingerichtet haben, obwohl ihre Autorität substanziell längst entmachtet ist. Auf dem Parkett der großen Politik meint man noch mittanzen zu dürfen. Eine Scheinwirklichkeit. Denn längst hat sich ein tiefer und breiter Graben aufgetan zwischen der ständig bemühten Schmeichel-Rhetorik der Kooperation von Staat und Kirche und der massiven antikirchlichen Distanzierung der Bevölkerung, dem gewaltigen Abbruch des Christlichen im echten Leben. Die diplomatischen Berliner Streicheleinheiten, die von kirchlichen Lobbyarbeitern für ihre Institutionen gern aufgenommen werden, können kaum mehr darüber hinwegtäuschen, dass im „Volk“ die christliche Substanz für den kircheninstitutionellen Überbau und dessen gesellschaftspolitische Ansprüche mehr und mehr schwindet. Wieviel religiöse Geistesmacht geht denn tatsächlich noch vom Volke aus? Und wieviel Geistesmacht gibt „Kirche“ dem Volk zurück - als Anregung vielleicht doch zu einem modernen, plausiblen Glauben?
Der nach dem Weggang von Kardinal Rainer Maria Woelki aus Berlin zum Verwalter des dortigen Bistums bestellte Tobias Przytarski sagte in einem KNA-Interview: „Wenn man ehrlich ist, spielen wir in der Gesellschaft keine ganz so große Rolle in der Hauptstadt. Auf der politischen Ebene gibt es die Katholischen Büros, aber im Bereich Wissenschaft, Kultur und Medien lässt sich bestimmt noch einiges mehr machen.“ Zur Rolle der Kirche in der Hauptstadt der Bundesrepublik folgte die nüchterne Einschätzung: „Wenn wir da nicht mehr vorkommen, dann kommen wir bald auch woanders nicht mehr vor.“
Dies gilt auch im Umkehrschluss. Wenn das Christentum samt Kirche geistig - und das heißt auch intellektuell - nicht mehr viel auf die Waage bringt, wird der ganze schöne Schein formaler Macht und Vollmacht erlöschen. Schon jetzt ist im Hinblick auf die von Przytarski genannten Bereiche festzustellen, dass sich das Glaubensleben aufgrund eines nach wie vor kirchlich manifesten Antimodernismus von den bedeutendsten Entwicklungen und Fortschritten unserer Wissens-Zivilisation weitgehend verabschiedet, jedenfalls dagegen isoliert hat. Das Christentum als einstmals progressiver Kulturbringer und Kulturstifter, als Träger und Vordenker sogar einer Leitkultur, erscheint da überhaupt nicht mehr relevant.
Geistesmacht
Kardinal Karl Lehmann nahm in einer Predigt bei der jüngsten Bischofskonferenz-Versammlung Bezug auf den Rangstreit der Jünger, wer wohl einmal den Ehrenplatz zur Rechten Jesu einnehmen werde. Jesu Antwort gemäß dem Markusevangelium lautet: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ Lehmann erklärte dazu mit Blick auf seine Amtskollegen: „Dieser Text trifft … ins Herz. Bei all der Unterscheidung der Geister … ist es immer wieder die Macht, die uns verführt… Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Auch jede geistliche Vollmacht ist tief vom Machtstreben her gefährdet.“
Nicht minder gefährdet ist aber auch die Macht, die meint, ohne geistige Vollmacht, ohne die Macht der Argumente auskommen zu können. Ohne sie ist alles nichts. Dann macht noch so viel äußere Macht innerlich machtlos - dies umso mehr, je stärker sie sich gebärdet und überzieht. Man sieht es säkular an Russland, Amerika, China, nun angesichts des Vordringens der neuen Dschihad-Mächte. Man sieht es religiös an einem in großen Teilen der Bevölkerung desorientierten Christentum mit erheblich geschwächtem Kirchenleben. Wahre Macht kommt weiterhin in erster Linie aus Geistesmacht. Jesus hatte sie. Die Christen brauchen sie. Und vielleicht auch die vielen Menschen guten Willens, denen Gott abhandengekommen ist, die ihn aber womöglich weit mehr vermissen, als sie ahnen.