Nach den Anschlägen der Dschihadisten in Paris hatten mehrere Vertreter muslimischer Staaten umgehend beteuert, dass solche Gewalt nichts mit dem Islam zu tun habe. Auch der sunnitische „Rat der höchsten Religionsgelehrten“ Saudi-Arabiens verkündete: „Der Islam billigt keine Terroristen. Diese Akte sind das Gegenteil der Barmherzigkeit, die die Religion in die Welt gebracht hat.“ Im schiitischen Iran sagte der Außenamtssprecher, Hussein Dschaberi: „Diese Terroristen sind keine Muslime und haben nichts gemeinsam mit den Maßstäben und Werten des Islam.“ Nur: Die Attentäter selber verstehen sich ausdrücklich als fromme Muslime. Und die Zahl der ausländischen Kämpfer, die sich dem „Islamischen Staat“ oder verwandten Gruppen als religiöse Kämpfer anschließen, hat sich innerhalb von weniger als zwei Jahren nahezu verdoppelt, wie die „Frankfurter Allgemeine“ schrieb. Zwischen 27000 und 31000 junge Männer reisten aus 86 Ländern nach Syrien und in den Irak, etwa 5000 von ihnen kamen aus Westeuropa.
Sympathie für den IS
Angelockt werden sie oft über die sozialen Medien, die auch die Einstellung der arabischen muslimischen Bevölkerung zu den Attentaten in Paris zeigen. Der Journalist Constantin Schreiber, Moderator einer Online-Sendung für arabischsprachige Flüchtlinge hierzulande, hat die Reaktionen erkundet. Auf „Zeit online“ berichtete er, dass auf Twitter, Facebook und arabischen Websites dem Westen „blanker Hass“ entgegenschlug, „fast Applaus für die Attentäter, die unser Leben aus den Fugen heben wollten“. Die „Welt“ bestätigte: Im Golf-Emirat Qatar ist jede zweite über Twitter verschickte Kurznachricht über den „Islamischen Staat“ wohlwollend, in Pakistan sind es 35 Prozent.
Schreiber zitierte beispielhaft eine Stimme im Forum auf der Website des Fernsehsenders „Al-Arabiya“ aus Dubai: „Lang lebe der IS!“ Im Online-Auftritt das Senders „Al Jazeera“ aus Qatar fand sich das Bekenntnis: „Wir erfreuen uns am Blut Frankreichs.“ Ein anderer IS-Unterstützer stellte ein Foto von einem Konvoi der Terrormiliz ins Netz und schrieb dazu: „Allah verteidigt seine Diener, Hollande. Wir werden euch erniedrigen, oh ihr Schweine Frankreichs.“ Auf einer palästinensischen Facebook-Seite wurde eine Karikatur gezeigt: Am Krankenbett eines Leichtverletzten - „Europa“ -, um dessen Zeigefinger eine Mullbinde gewickelt ist, sinniert ein trauriger Mensch, der als „die Welt“ gekennzeichnet ist. Hinter seinem Rücken, im Nachbarbett, befindet sich ein liegender, vollständig in Binden gehüllter Patient: „Syrien“. Keiner kümmert sich um ihn, weil das verletzte Europa vorgeht. Ein Zuschauer von Schreibers Sendung schickte ihm eine Liste der größten Terroristen aller Zeiten, darunter Hitler, Stalin, Mao Zedong. Er fügte die Zahlen der Ermordeten an, für die diese Diktatoren verantwortlich sind, und fragte: „Wie viele muslimische Verbrecher sind dabei? Beantworte das für dich selbst.“
Schreiber wies darauf hin, dass die Masse an Hass-Kommentaren auf Arabisch verfasst ist, weshalb diese Texte im Westen kaum zur Kenntnis genommen werden. Im arabischen Raum wiederum schäme man sich nicht für das Ausmaß an Hetze gegen den Westen, gegen die Christen, gegen die „Ungläubigen“. Keines der arabischen Medien „reagiert darauf, sperrt die Kommentarfunktionen oder bezieht Stellung“. Kein arabischer Politiker fordere Facebook auf, menschenrechtsverletzende Kommentare mit radikalislamischer Gesinnung zu sperren.
Die Wurzeln des Wahns
In der politischen Klasse herrscht Schweigen oder Beschwichtigung vor. So antwortete die jordanische Königin Rania auf den Terror von Paris mit den Worten: Terror sei überall auf der Welt schlimm. Dubais Scheich Mohammed al-Maktum, dessen Emirat sich westlich orientiert gibt, westlicher als jeder andere Teil der arabischen Welt, und der fast täglich Botschaften auf Twitter verfasst, schrieb zu den Pariser Terrorattacken - nichts. Schreiber: „Kondoliert wird kaum, viele arabische Politiker ignorierten den Terror von Paris komplett.“
Die Ursachen dieser sozialen Kälte und fehlenden Empathie in den heißen Wüstenregionen rund um den arabischen Halbmond versucht der Buchautor und Psychologe Ahmad Mansour zu ergründen. Er beobachtet bei vielen Personen eine fehlgeleitete arabische Loyalität, weshalb sich der Hass gegen „Ungläubige“ ungehemmt Bahn bricht. Der arabischstämmige Israeli, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt, hat beim Surfen auf arabischen Websites festgestellt: Einerseits werde die Terrormiliz „Islamischer Staat“ von vielen Arabern abgelehnt, werden deren Gräueltaten verurteilt. Andererseits: „Auf den Grundtenor: Das in Paris ist schon schlimm, folgt sogleich: Doch was Muslimen widerfährt, ist ungleich schlimmer!“
Mansour wirbt deshalb auf „Zeit online“ für ein kritisches Hinterfragen muslimischer Traditionen, für ein Durchbrechen des tief verankerten Schwarz-Weiß-Denkens. „Die Ideen mancher Eliten, vieler Imame und normaler Bürger in der arabischen Welt weisen Ähnlichkeiten mit der Ideologie des ‚Islamischen Staats‘ auf.“ Aus jedem arabischen Land reisen mittlerweile Jugendliche in den Dschihad. „In arabischen, türkischen Moscheen sowohl im Inland wie im Ausland zeichnen Imame gern Schwarz-Weiß-Bilder vom schlimmen Westen, von dekadenten und verleumderischen Europäern, Amerikanern, Juden, Israelis. Das ist die Standard-Folklore der aktuellen arabischen Welt - so bekannt wie still toleriert.“
Hart geht Mansour mit den Internet-Hetzern ins Gericht: Sie würden nichts zur „Verantwortung für die eigene Lage“ sagen. Das hänge mit den vielen Tabus in den weitgehend traditionellen, patriarchalischen Gesellschaften zusammen, die von Vätern, Onkeln und großen Brüdern bevormundet werden. Dies gehe Hand in Hand mit einer Pädagogik der Angst, mit Gewalt in der Erziehung, Gewalt gegen Frauen „und mit einem so anrührend rückständigen wie gefährlichen Buchstabenglauben bei der Lektüre des Koran. Allzu oft werden dabei auch Selbstmordattentäter als Helden für die Sache aller Muslime verherrlicht.“ Sich selber fühlt man dagegen nur als Opfer, sieht sich nicht mitverantwortlich für die eigene Rückständigkeit. Die Spaltung des Denkens „in Feinde und Opfer“ habe zum Entstehen der radikalislamischen Bewegungen beigetragen. Es sei riskant und naiv, diese Haltung als „Tradition“ einfach hinzunehmen.
Der libanesische Journalist Zuheir Quseibati, Büroleiter der Tageszeitung „Al Hayat“ in Beirut, forderte seine arabischen Mitbürger auf, endlich in den eigenen Reihen nach den Wurzeln von Extremismus, Fanatismus und Wahn zu forschen. Im Internet-Portal „Qantara“, das von der „Deutschen Welle“ als Dialogforum mit Muslimen betrieben wird, beklagt Quseibati, das arabische Denken sei in einem rückständigen Muster gefangen, das sinngemäß lautet: „Rache für Armut durch Selbstmord“. Nur zu gerne haben viele Araber bis in die jüngste Vergangenheit hinein in Parolen zur Befreiung Palästinas eingestimmt und sich damit gebrüstet, auf der Seite der Armen zu stehen. „Fabriken, die ihnen Einkommen und Würde gebracht hätten, haben wir jedoch nicht gebaut. Stattdessen haben wir Hunderte von Moscheen errichtet, und als Osama bin Laden erschien, blieb tausenden Universitätsabsolventen scheinbar nichts anderes übrig, als ihr Wissen in die Dienste von Al-Qaida zu stellen und in Terrorcamps zu gehen … Wir alle sind schuld an der Katastrophe.“
Endlich islamische Islamkritik
Wie aber soll ein geistiger Wandel in der islamischen Welt angestoßen werden? Ahmad Mansour rät: „Wir Muslime müssen uns kritische Fragen stellen, die Modelle unserer Väter überdenken, unsere Erziehungsmethoden, die Tabuisierung der Sexualität. Wir sollten auch damit beginnen, unsere Religion, unseren Koran historisch-kritisch zu betrachten und auszulegen und im Zuge dessen aufhören, die Welt in Muslime und Nicht-Muslime einzuteilen.“
Der islamische Theologe und Religionspädagoge Abdel-Hakim Ourghi aus Freiburg fordert eine „mutige Islamkritik“, eine Kritik der religiösen Quellen, eine geistige Wende seiner Religion. In der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb er, dass der unreformierte Islam, wie er sich in der Breite zeigt, „keine Religion des Friedens“ sei. Ourghi verlangt, die Entstehung des Koran und der Sammlung der Mohammed-Sprüche (Hadithe) in ihrem historischen Zusammenhang zu deuten. „Die Lösung der Gewaltfrage im Islam besteht nicht in einem muslimischen Aufstand der Anständigen … Die Muslime müssen endlich die kanonischen Quellen ihres Glaubens … kritisch infrage stellen.“ Sie müssen erkennen, dass radikale Koraninhalte, die eine scharfe Trennung von „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ schaffen, nicht weiter verharmlost und ignoriert werden dürfen. Diese Dualität präge das Denken tief, etwa weil diese Aufspaltung durch das tägliche Rezitieren aus bestimmten Stellen des Koran noch verfestigt wird.
Der interreligiöse Dialog sei zum Scheitern verurteilt, solange die Muslime sich nicht deutlich gegen die Aufspaltung positionieren. „Die zwischen 622 und 632 in Medina verkündeten Koranpassagen müssen in ihrem historischen Kontext verstanden werden.“ Als abgrenzende Äußerungen gegen Juden und Christen hätten sie „nur eine temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert“, erläutert Ourghi. Zudem sollten die in Mekka entstandenen Koranteile einen verbindlichen Vorrang vor den übrigen, späteren Texten haben. In den zwischen 610 und 622 verfassten Suren seien „universell sinnstiftende Lehren“ enthalten.
Der Preis der Christen
Im Westen sollte auch nicht missachtet werden, was hohe orientalische Kirchenführer zum Verhältnis Islam-Christentum sagen. Denn sie haben weitaus mehr Erfahrung im Zusammenleben mit Muslimen wie auch in den Konflikten als ihre westlichen Amtskollegen oder selbsternannte „Experten“. Der Patriarch der mit Rom verbundenen Kirche der Maroniten im Libanon, Kardinal Bechara Raï, hatte noch vor der Entscheidung des Bundestags, in den nahöstlichen Krieg militärisch einzugreifen, die westlichen Regierungen aufgefordert, sich gegenüber der arabischen Welt zurückzuhalten. „Wir Christen im Nahen Osten zahlen den Preis für die Entscheidungen dieser Regierungen“, sagte Raï der Katholischen Nachrichten-Agentur. Muslime des Nahen Ostens betrachteten jede Entscheidung einer westlichen Regierung als christliche Entscheidung und die Christen im Nahen Osten als Verbündete des Westens. „Deshalb müssen die Staaten des Westens jeden Konflikt mit der arabischen Welt vermeiden, damit die Muslime keinen Grund sehen, Christen anzugreifen.“
Der Patriarch der mit Rom verbundenen Chaldäer, Louis Raphael I. Sako, warnte die Europäer wiederum davor, den muslimischen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten naiv zu begegnen. Diese Menschen würden ihre Traditionen und ihre islamisch geprägte Mentalität mitbringen, die vielfach nicht mit westlichem Denken vereinbar sei. Es bestehe die Gefahr von Parallelgesellschaften, und unter den Flüchtlingen könnten durchaus Terroristen sein. Zwar müsse man alles daran setzen, an der Integration der Neuankommenden zu arbeiten. Der Patriarch gab jedoch zu bedenken, dass eine zu hohe Konzentration muslimischer Flüchtlinge in einem Wohnviertel neue Probleme schafft. Christliche Flüchtlinge, von denen es allerdings nur relativ wenige gibt, würden sich hingegen sehr leicht integrieren.
Das bestätigt der irakische Dominikaner Nagib Michael, der sich im Nahen Osten um Flüchtlinge kümmert. Hingegen sei die große Mehrheit muslimischer Flüchtlinge viel weniger integrationswillig und integrationsfähig. Er bezweifle, dass Muslime ihre religiöse Einstellung aufgeben, sich als etwas Besseres als Nichtmuslime zu fühlen. Unter den aus dem Nahen Osten eingewanderten Flüchtlingen sind nach Nagibs Einschätzung „lediglich ein bis zwei Prozent“ Christen. Diese versuchen überwiegend auf legalen Wegen in den Westen zu gelangen, was allerdings fast unmöglich sei. Denn kaum eine christliche Familie bekommt ein Visum für ein westliches Land. In den meisten Flüchtlingslagern außerhalb Europas lebten Christen zumeist aus Angst so gut wie nie mit muslimischen Flüchtlingen zusammen. Er selbst habe fast mehr Angst um die Zukunft Europas als um die Zukunft des Nahen Osten. „Das lehrt uns unsere Erfahrung als Christen unter Muslimen. Aber niemand hört uns zu. Europa versteht uns nicht.“