Es waren drei Papiere, auf denen der Zerfall der kommunistischen Diktaturen markiert wurde: die Unterschrift der polnischen Partei unter den Gründungsakt der „Solidarnosc“, der ersten freien Gewerkschaft im kommunistischen Machtbereich. Das ungarische Staatsbudget, in dem der Reformer Miklós Németh mit einem Strich seines Rotstifts die Beseitigung des Eisernen Vorhangs anordnete. Und der Zettel zu einem reformierten Reisegesetz, mit dem der SED-Politbürokrat Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 die Berliner Mauer versehentlich aufschloss. Jahre später hat der einst mächtige Ost-Berliner Bezirksparteichef, der in Berlin 86-jährig gestorben ist, erkannt, was er unbeabsichtigt bewirkt hat. „Wenn Sie anfangen, die Diktatur durch gewisse Reformen zu lockern, dann zeigt sich, dass diktatorische Regime durch Reformen nicht zu verbessern oder zu veredeln sind, sondern sie sind durch Reformen nur abzuschaffen.“
Der Satz könnte von Michail Gorbatschow stammen. Mit seinem Programm „Glasnost“, das heißt Offenheit plus Kritik, und „Perestroika“, also Reform plus Umbau, hatte der Russe den stalinistischen Betonklotz Sowjetunion erschüttert. Die deutschen Kommunisten leisteten gegen Gorbatschow hilflos Widerstand, denn sie fürchteten um ihre Macht und die Existenz ihrer DDR. Die Menschen riefen im Spätsommer 1989 „Gorbi“ zu Hilfe, in Leipzig, Ost-Berlin und später überall in der DDR.
Zettels Albtraum
Auch Günter Schabowski sah das Ende der SED-Herrschaft kommen. Denn sein Politbüro-Genosse und Stasi-Minister Erich Mielke hatte die Motive der mehreren zehntausend DDR-Bürger, die über Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei in den Westen flohen, und die Aufbrüche im Inneren der DDR dokumentiert. Das Motto der Daheimgebliebenen: „Bleibe im Lande und wehre dich täglich!“ Schabowski, einer der „jungen“ im Gerontokraten-Kabinett der SED, blieb trotz alledem auf Parteilinie, wenn auch geschmeidiger als die unbelehrbaren Alt-Stalinisten. Doch im Gegensatz zu den gut zwanzig Mitgliedern des Politbüros, des obersten SED-Gremiums, und den rund zweihundert Mitgliedern und Kandidaten des SED-Zentralkomitees war Schabowski der einzige SED-Prominente, der später die Verbrechen der Partei eingestand und dafür Mitverantwortung übernahm. Dieser mutige Schritt der Wahrheit war für die deutsche Einheit mindestens so wichtig wie sein immer wieder zitierter Versprecher: „… Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort … unverzüglich.“
Ich habe Günter Schabowski in den Jahren nach der Wende mehrfach zu persönlichem Gespräch getroffen. Im März 2009 konnte ich ihn vor den Teilnehmern der „Mainzer Tage der Fernsehkritik“ im ZDF ausführlich befragen. Dort bestritt er den historischen „Versprecher“. Tatsache ist, dass das Politbüro am 9. November wegen der ungezählten Flüchtlinge, die über Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei ihre Heimat DDR verließen, in panischer Eile ein „Reisegesetz“ für alle DDR-Bürger beschlossen hatte. Doch die SED wollte die Macht über „ihre Menschen“ damit nicht komplett aus der Hand geben. Die sollten - zahlreichen umständlichen Paragraphen folgend - Anträge stellen und sich die Reise „von oben“ genehmigen lassen. Diese angeblich „großzügige Regelung“ sollte am 10. November morgens in Kraft treten. Parteichef Egon Krenz hatte Schabowski mit dem Hinweis „Gilt sofort!“ in die Pressekonferenz am 9. November geschickt. Krenz hoffte: „So können wir uns endlich etwas Entlastung vom Druck und den Protesten auf der Straße verschaffen!“
„Auf Nimmerwiedersehen!“
In den späten Abendstunden des 9. November sollte er zuerst an der Bornholmer Brücke Recht bekommen. Schabowski war nach seiner Zettel-Botschaft in die SED-Prominentensiedlung Wandlitz nach Hause gefahren. Dort sah er am späten Abend im West-Fernsehen, was sein „Versprecher“ angerichtet hatte - ein Albtraum.
„Ich wurde am 20. Januar 1990 aus der Partei ausgeschlossen mit der Begründung: Du hast die Sache der Partei und die DDR durch die Grenzöffnung verraten“, erzählte Schabowski. Er war 38 Jahre Parteimitglied, lange Zeit Chefredakteur der SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“, die für die Verbreitung der ideologischen Richtlinien landesweit zuständig war. Zuletzt amtierte Schabowski als mächtiger Bezirksparteichef für Ost-Berlin. „Für mich war der Rauswurf der schäbige Versuch einer Selbstentlastung, einen Schuldigen für den Parteibankrott festzumachen“, sagte er. Denn die Mitglieder der Schiedskommission, die den Ausschluss verhängten, waren bis zu dieser Sitzung Mitläufer wie die meisten Genossen und weder Dissidenten noch geheime Opposition in der SED. Sie hatten die Faust allenfalls geballt in der Tasche versteckt. Mit Hilfe von Gregor Gysi unterzog sich die SED einer Schnellreinigung und nannte sich flugs „Partei des demokratischen Sozialismus“. So geläutert, traten wenige Wochen nach dem Mauerfall Alt-Genossen als Ankläger und Richter zugleich über „die da oben“ zusammen.
Voller Wut hat Schabowski die Sitzung des Parteigerichts verlassen. Es war zunächst ein schmerzhafter Bruch mit seinem lebenslangen Glauben. „Wir waren ja ein Verein, der den Generalsekretär (Honecker) vergottete. Das gehört zur Liturgie kommunistischer Parteien. Der war sozusagen ein lebender Buddha. Er bestimmte die Linie.“ Schabowski war in dem SED-Altenkreis mit sechzig Jahren einer der „Jüngeren“. Er war nicht „wie die Älteren den besonderen Prägungen der Stalin-Zeit ausgesetzt“. Wohl deshalb hatte er im Herbst der „friedlichen Revolution“ mit zwei, drei anderen Politbürokraten den Versuch gewagt, Honecker als Parteichef abzuwählen. „Einer äußerte anfangs die Vorstellung, wir gehen in sein Büro und sagen zu ihm: ‚Erich, tut uns leid, aber dein Job ist beendet.‘ Absurd. Dann würde Honecker doch auf den Knopf am Schreibtisch drücken und sofort kämen die Sicherheitsnadeln aus dem Nebenzimmer herein, und wir wären verhaftet worden.“
Die Absetzung Honeckers als Generalsekretär gelang dennoch. Als „treuer Kommunist“ hat er - weil Einstimmigkeit Parteigesetz war - seiner eigenen Abwahl zugestimmt. „Er meinte, damit für sich das Recht zu bewahren, sich noch als Mitglied dieses Ordens zu fühlen.“ Erst später musste er erfahren, dass mehr als zwei Millionen Parteigenossen ihren Hohenpriester zum obersten Sündenbock gemacht hatten. Je mehr Schuld man auf Honecker abwälzen konnte, desto besser konnte man sich eigener Verantwortung für die Fehler und Vergehen der Partei entziehen.
Günter Schabowski fühlte sich durch die SED-Nachfolgepartei zunächst „exkommuniziert.“ Ihm war vorgeworfen worden, seine Vorrechte als Politbüromitglied nur „scheibchenweise“ zugegeben zu haben. Auch hielt man ihm vor, für Privatreisen ins Ausland Flugzeuge der Regierung missbraucht zu haben. Er räumte daraufhin ein, „parasitär gelebt zu haben“. Ein Jahr später, inzwischen mit „frisch gewonnener Klarheit im Kopf“, wollte er der PDS fast ein Dankschreiben schicken. Denn „durch die Abstoßung der von mir vergotteten Partei, durch die Auseinandersetzung mit den ‚Sakramenten‘ von Marx und Engels“ habe sich bei ihm erst die Unabhängigkeit entwickelt, „unbefangen die Denkkonstruktionen zu prüfen“ und die Fragen zu stellen: „Warum ist das von Anfang an schief gewesen und schief gelaufen?“
Die Bekehrung
Bis heute gilt er in linken Kreisen als „Verräter“. Von Genossen wurde zudem stets der Vorwurf erhoben, er sei ein „Opportunist der Wende“ gewesen. Schabowskis Antwort: „Das dröhnt aus der Ecke, wo man bei der eigenen Unbelehrbarkeit verharrt und das Verleugnen eigener Verantwortung und Schuld durch Schmähung einer anderen Adresse betreibt.“
Aber auch aus der antikommunistischen Opposition ist immer wieder zu hören, Schabowski sei ein „Wendehals“ gewesen, der sich der „neuen Zeit“ angepasst habe. Doch der Mann hat, wie kein anderer aus der Riege der SED-Machthaber, Selbstkritik geübt. Keine Selbstkritik, wie sie Stalins Schergen sogar verdienten Genossen in Schauprozessen abverlangten, Geständnisse von unglaublichen Verbrechen, die angeblich gegen die Partei und die Revolution begangen worden sein sollten. Schabowskis Selbstkritik war echt und freiwillig. Er bekannte, für Verbrechen nicht an der Partei sondern für Verbrechen durch die Partei schuldig geworden zu sein. Er nannte sich selbst einen Konvertiten, „weil ich kein Kommunist mehr bin, nicht erst seit jetzt. Der Prozess, diese innere Auseinandersetzung hat schon vor vielen Jahren eingesetzt. Wenn man den Bankrott einer solchen Partei erlebt und damit direkt und unmittelbar verantwortlich für die Folgen dieser Politik ist, dann ist man mitschuldig geworden“, so Günter Schabowski bei unserem Gespräch in Mainz. „Dann setzt man sich natürlich auch mit den Fundamenten seines Irrglaubens, also der Ideologie auseinander, der man sich unterworfen hat. Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes brauchte es etwa anderthalb bis zwei Jahre, um tiefer einzudringen in das, was für das verblendete Denken verantwortlich ist.“
Fast acht Jahre nach der Maueröffnung wurde Schabowski im „Politbüro-Prozess“ gemeinsam mit Krenz und weiteren Genossen vom Landgericht Berlin wegen der Mauertoten angeklagt und zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland ließ Revision zu, der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil. Günter Schabowski war ein Jahr im Gefängnis und kam dann auf Bewährung frei. Als einziger der ranghohen Angeklagten hat er „der bundesdeutschen Justiz das volle Recht von Anfang an“ zugebilligt, „über uns zu Gericht zu sitzen, um zu klären, wie weit hast du und du und du Schuld und wie weit hast du für diese Schuld Strafe auf dich zu nehmen“.
Das Geständnis
Schabowski erinnerte sich, dass „in der Frage von Schuld“ die Begegnung mit den Nebenklägern während des Prozesses bestimmend war, mit Eltern von jungen Menschen, die an der Grenze umgekommen waren. „Sie waren an der Grenze erschossen worden, nicht deshalb, weil sie sich krimineller Vergehen schuldig gemacht hätten, sondern einzig und allein deshalb, weil sie mit dem System oder dem SED-Regime nicht einverstanden waren.“
Dann sein Geständnis: „Selbst wenn ich an diesem Grenzregime mit seiner tödlichen Konsequenz nicht unmittelbar beteiligt war, so war ich doch Mitglied des absolutistischen Machtgremiums namens Politbüro, das den Morden hätte ein Ende bereiten können. Ich wusste von den Tötungen an der Grenze. Wenn ich geltend gemacht hätte, dass wir damit aufhören müssen, dann wäre ich aus dem Politbüro rausgeflogen. Vielleicht wäre ich als Straßenfeger gelandet, aber ich wäre nicht erschossen worden wie diese jungen Menschen.“ Er sagte deshalb vor Gericht: „Ich nehme meine Schuld an.“ Das hat er dann auch gegenüber den Eltern der Opfer erklärt: „Selbst, wenn Sie mir das nicht nachsehen können, wenn Sie sich mir und meinem Bekenntnis verweigern, muss ich es hinnehmen. Bis an mein Lebensende.“ Und weiter: „Ich war Vertreter eines Regimes, das sich auch damit delegitimiert hat, weil es nur existieren konnte durch eine Abschottung mit Hilfe von tödlichen Waffen. Das ist meine Schuld und Verantwortung.“
Mit seinem Zettel fand Günter Schabowski Eingang in die Geschichtsbücher. Mit seiner Suche nach Wahrheit, seinem Geständnis und der Bitte um Verzeihung verdient er ehrendes Andenken.
Joachim Jauer, langjähriger ZDF-Korrespondent in Osteuropa und in der DDR, Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Kennzeichen D. Friedliche Umwege zur deutschen Einheit“ (Camino im Verlag Katholisches Bibelwerk).