Ich habe mich zur Unterstützung des Verpflegungstrupps freiwillig gemeldet. Ich wollte sehen, wer da an Bord kommt, was das für Menschen sind. Ich habe in Hunderte von Gesichtern und Augenpaaren geschaut - für einen kurzen Augen-Blick, einen flüchtigen Kontakt. Für ein paar Sekunden halte ich jeden am Handgelenk fest und markiere auf dem roten Plastikbändchen, was er gerade von mir bekommen hat: Decke, Wasser, Handtuch und eine Schale Gemüsereis.
Es sind vor allem junge Leute: todesmutig, lebensdurstig, zukunftsbegierig. Was hat sie getrieben loszugehen? Alles und alle zurückzulassen? Welche Hoffnungen haben sie? Welchen falschen Versprechungen vom Paradies in Europa sind sie auf den Leim gegangen? Wie viele Eltern, Verwandte und Bekannte haben alles an Geld gegeben, damit es der eine oder die andere mal besser haben kann, als so ein beschissenes Leben in einem dreckigen und gefährlichen Winkel eines zerfallenden afrikanischen Landes zu führen?
Nur ein Bruchteil der Menschen, die jährlich aus den afrikanischen Ländern aufbrechen, erreichen lebend das „gelobte Land Europa“. Sie halten in Containern auf Lastwagen durch die Wüste aus, schlagen sich auf Schleichwegen zu Fuß durch oder reisen als Touristen getarnt ein. In Flüchtlingslagern in Libyen und Syrien sind zahllose Menschen im Stand-by-Modus. Sie warten auf eine Fluchtmöglichkeit. Das Mittelmeer ist mit 25 000 Ertrunkenen längst zum Massengrab geworden. Darauf hat Papst Franziskus seit seinem Besuch der italienischen Insel Lampedusa im Juli 2013 bereits mehrfach hingewiesen. Das Geschäft der Menschenschleuser ist milliardenschwer. Die Vereinten Nationen betrachten die derzeitige Situation als die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Menschen, die die deutschen Soldaten aus dem Mittelmeer gezogen haben, besitzen nichts außer dem, was sie am Leib tragen. Manche haben zwei T-Shirts und zwei Hosen übereinander angezogen - oder einen Anorak mit Mütze mitten im Sommer. Andere tragen nicht einmal Schuhe, sind barfuß unterwegs. Sie setzen alles auf eine Karte: Tod oder Leben. Hop oder Flop. Viele ertrinken, aber bei weitem nicht alle. Spätestens als ihr Schleuser-Boot von unseren Schützen mit scharfer Munition in Brand gesetzt wird und mit dunklen Rauchschwaden in den Fluten versinkt, gibt es kein Zurück mehr. Wenigstens kein freiwilliges.
Populisten regen sich auf: „Unser Boot ist voll“, sagen sie. „Return to sender“, das wäre ihnen am liebsten. So zum Beispiel die französische Politikerin Marine Le Pen vom Front National: Patrouillieren, Schiffe stoppen und zurückschicken. Fertig. „Das macht man zwanzig Mal und beim einundzwanzigsten werden sich die Flüchtlinge überlegen, ob sie das Geld für den Schleuser nicht lieber woanders ausgeben. Aber je mehr wir uns in Europa überlegen, wie wir die Flüchtlingsströme kanalisieren, desto mehr werden bei den Schleusern die Champagnerkorken knallen.“
Die Europäische Union will nun verstärkt auch militärisch gegen die Schleuserbanden aus Libyen vorgehen. Bereits im Mai hat der Europäische Rat eine Militäroperation beschlossen, um der Schlepperkriminalität im zentralen südlichen Mittelmeer Herr zu werden. Ob dies mit tauglichen Mitteln geschieht oder nicht, ist ein ganz anderes Thema. Der Fokus hat sich jedenfalls verändert. Stand bisher die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen im Vordergrund, soll nun das Geschäftsmodell der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetze im Mittelmeer unterbunden werden, indem man Schiffe und an Bord befindliche Gegenstände von Schleppern beschlagnahmt und zerstört. Eine erste Phase dient dazu, Informationen zu sammeln, um die Migrationsnetzwerke und Routen zu identifizieren. Danach sollen auf hoher See Schiffe, bei denen der Verdacht auf Menschenschmuggel oder Menschenhandel besteht, angehalten, durchsucht, beschlagnahmt oder umgeleitet werden. In einer dritten Phase kann es zu einer Zerstörung der Schiffe auch in den Hoheitsgewässern von Küstenstaaten kommen, insofern dazu eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und eine Zustimmung der betroffenen Staaten erteilt werden.
Die meisten Deutschen befürworten dieses Vorhaben, wie eine Umfrage des Politbarometers ergab. 55 Prozent der Bundesbürger unterstützen einen Militäreinsatz gegen die Schleuser, 38 Prozent sprechen sich dagegen aus. Die einfache Formel lautet: Keine Schlepper und keine Boote bedeutet keine Flüchtlinge mehr. Man hätte sich so einer komplexen und dramatischen Problematik elegant entzogen. Man müsste sich nicht mit den Ursachen beschäftigen, warum Menschen lieber das Risiko des Sterbens auf See und eine ungewisse Zukunft in welchem Aufnahmeland auch immer auf sich nehmen, statt zuhause zu bleiben.
Die Pässe der Geretteten sind längst über Bord gegangen, um das Herkunftsland zu verschleiern, um zu vermeiden, dass man sie unverzüglich in ihr Heimatland zurückverfrachtet, wenn keine hinreichenden Gründe auf ein Asyl bestehen. Ruhig sind diese Menschen, gelassen, friedlich, unaufgeregt. Nicht allen sieht man die Strapazen des Fluchtweges an, der irgendwo in einem afrikanischen Land vor Wochen oder Monaten begann, in einem überfüllten Boot mit über hundert oder fünfhundert Leuten an der libyschen Küste fortgesetzt wurde und auf einem deutschen Kriegsschiff kein Ende findet, sondern nur um ein wenige Stunden dauerndes Aufatmen unterbrochen wird, bis es weiter ins Ungewisse geht.
Wie müssen wir auf die Herausgefischten wirken: im Vollschutz eingepackt vom Kopf bis zu den Füßen, mit Atemmaske, Brille und Gummihandschuhen und das Ganze noch mit Panzertape sorgfältig abgedichtet, als wäre gerade ein ABC-Alarm ausgelöst worden. Die Zonen, in denen die Flüchtlinge eingesperrt sind, hinter Containern und Stahlgitterkisten, bewacht von Soldaten mit Maschinengewehren, werden zum „kontaminierten“ Bereich erklärt, als hätten dort alle die Pest. Ein Vorgeschmack auf die Festung Europa.
Auch eine ganze Reihe kleiner Kinder und Babys sind dabei, geschickt eingewickelt im Huckepack-Tuch ihrer Mütter. Die Kinder haben voll die Ruhe weg und schauen mit großen Augen die Menschen um sich an. Ob sie sich später mal daran erinnern werden? Werden sie irgendwann einmal diese Flucht als Trauma bezeichnen, von dem sie nicht mehr loskommen und das ihnen Albträume verursacht? Die deutsche Beschaffungsbürokratie hat an alles gedacht: Pampers in den Größen, small bis large. Im Organisieren und im Durchführen von Vorschriften sind wir Deutschen schon ziemlich gut: Soundsoviel Kalorien sind die Vorgabe für das Flüchtlingsessen, soundsoviel Prozent Eiweiß und soundsoviel Prozent Fett müssen enthalten sein. Also kriegen die das. Keiner kann, soll, darf sich beschweren.
Wir unterstützen mit unseren Steuergeldern keine Flüchtlinge - so der offizielle Sprachgebrauch der verordneten Political correctness -, sondern helfen in Seenot geratenen oder schiffbrüchigen Personen. Wir tun etwas, was die Marine im Notfall immer macht - nur etwas konzentrierter. Insofern müssen die in Seenot Geratenen sowieso für alles und jedes dankbar sein. Wer kann schon erwarten, dass ein zufällig vorbeifahrendes Schiff Verpflegung, Decken und Hygieneartikel für Hunderte von Schiffbrüchigen eingebunkert hat und diese mit logistischer Perfektion versorgt?
Seenot als Massenphänomen
Flüchtlinge in so hoher Zahl sind aber keine Seenotlage mehr, sondern ein Massenphänomen mit einer weitreichenden nationalen und internationalen gesellschaftspolitischen Dimension. Es geht um wesentlich mehr als um einen humanitären Einsatz. Die vielen ertrunkenen Flüchtlinge offenbaren das klägliche Scheitern der EU-Flüchtlingspolitik. Der Grundsatz, dass politisch Verfolgte Asyl genießen, dass Menschen, die wegen ihrer Religion um ihr Leben fürchten müssen, und Kriegsflüchtlinge geschützt werden müssen, gehört zum genetischen Code einer europäischen Union, die auf den grausamen Erfahrungen der Schlachtfelder zweier Weltkriege, von Flucht und Vertreibung entstanden ist.
Doch der Vorschlag des Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, die Flüchtlinge nach einem fairen Schlüssel zu verteilen, wird blockiert. Statt schnell zu helfen, wird gefeilscht - aus reinem Eigennutz. Die Staaten, die sich sperren, verstoßen gegen Europas Grundgesetz. Gemeinschaft heißt gemeinsam handeln. Gerade in der Not. Europa sei ein Kontinent der Menschlichkeit, sagen wir. Menschenwürde und Menschenrechte seien unsere höchsten Rechtsgüter. Darauf sind wir stolz. Unsere Menschlichkeit müssen wir jedoch beweisen. Angesichts von Millionen Flüchtlingen kann sich Europa nicht mehr abschotten wie bisher.
Die Gesichter, in die ich auf dem Schiff blicke, sind nicht verbittert, nicht abgehärmt oder ausdruckslos. Die Flüchtlinge sind nicht ausgemergelt oder unterernährt. Eine Wohlstandswampe hatte nur einer: der mit der coolen Sonnenbrille, der Lederjacke und den guten Schuhen. Manche sind wackelig auf den Füßen und machen nur ganz kleine Schritte. Die meisten haben Kleidungsstücke an, die wir irgendwann einmal in eine deutsche Kleidertonne geworfen haben und die in Afrika wieder aufgetaucht sind. Dort, wo sie vielleicht einmal zu Ramschpreisen hergestellt und dann in unsere Supermarktketten zu Schnäppchenpreisen exportiert worden sind. Noch ein bisschen weniger Textil, und dann hätten wir’s mit dem nackten Überleben nicht mehr nur im sprichwörtlichen Sinn zu tun.
Heiliger Boden der Rettung?
Einige haben Rosenkränze um den Hals oder große Holzkreuze, andere spärlichen Billigschmuck, und viele Mädchen haben Restspuren von Nagellack an den Fingern, meistens in Perlmutttönen. Ein bisschen religiöse Würde und menschliche Schönheit muss schon sein, wenn man ansonsten verlaust und verkrätzt ist, ja ziemlich verludert ausschaut. Manche fragen, wo Osten sei, und setzen sich mitten im Chaos, in diesem orientalischen Bazar, der in Kürze entstanden ist, auf den Boden und verrichten auf der Decke ihre Gebete. Viele ziehen an Bord ihre Schuhe aus. Heiliger Boden? Boden der Rettung? So wie die Kirche, die Moschee oder die gute Stube zuhause, wo man selbst die Armenhütte nicht mit dem Staub und Morast der dreckigen Straßen in Berührung bringen will?
Einer will eine zusätzliche Decke, weil ihm so kalt ist. Aber das gibt die Vorschrift nicht her. Außerdem hat es an Deck in der Sonne 26 Grad. Wenn einer kommt, heißt es, dann kommen die andern auch, und so viele Decken haben wir dann auch wieder nicht. Also: keiner. „One blanket per person only! Sorry! Please go back to your place“, sagt der Soldat mit der Schusswaffe am Gürtel. Der andere, der ein zweites Mal kommt und noch was zu essen haben will, weil er so viel Hunger hat, muss am besten gleich von Anfang an schon mit dem europäischen Gerechtigkeitsdenken konfrontiert werden. Die Kalorienzahl ist ausreichend berechnet laut Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Das muss reichen. Nicht jedem das Seine, sondern: Jedem das Gleiche: „1,5 Suppenkellen voll“, so steht es auf der Thermobox schwarz auf weiß. Sollen sie froh sein, dass sie überhaupt etwas kriegen. Sind sie auch! Sagen freundlich „Thank you“ und setzen sich still wieder hin.
Nur als entschieden wurde: Es gibt noch mal einen Nachschlag, da treibt der in der Evolution angelegte und bis heute wirksame Futterneid sie zur Krippe. Da tricksen und betrügen sie, schieben und drängeln, so dass nicht mal die drohende Stimme per Lautsprecher sie zurückhalten kann. Keiner rückt freiwillig einen Schritt zurück. Keiner will verstehen, was es heißt: „Go back to the line!“ Wer nicht hören will, muss fühlen. Also mehrere Soldaten im Vollschutz gegen die hereindrückende Menge, um sie zurückzudrängen. Die Schlagstöcke der Feldjäger bleiben Gott sei Dank am Gurt.
Naive Betroffenheitssentimentalität nach Gutmenschenart ist wenig zielführend. Es handelt sich nicht um die Ärmsten der Armen. Man braucht - unterstützt von Familien - tausende von Euros oder Dollars, um die Schleuser bezahlen zu können. Mit Schleusergeldern in Millionenhöhe werden auf dunklen Wegen extremistische Gruppen finanziert. Weil die Schleuser um die zusätzlichen patrouillierenden Schiffe wissen, verstärken sie ihre Aktivitäten und können somit den Flüchtlingen erweiterte „Garantien“ liefern: Sie können eher damit rechnen, aufgefischt zu werden.
Bundeswehr und Deutsche Marine haben jedoch einen anderen Grundauftrag, als - einem Shuttleservice gleich - dem Flüchtlingsverkehr zu dienen. Doch die aktuelle politische Vorgabe, sich gezielt in ein bestimmtes Seegebiet zu begeben und dort nach Flüchtlingsbooten zu suchen, ist qualitativ etwas anderes, als Schiffbrüchigen zu helfen, die man bei der Erledigung einer anderen Auftragslage eher „zufällig“ trifft. Insofern ist die humanitäre Aktion zwiespältig: Einerseits rettet man direkt Menschen, andererseits wird man indirekt zum Helfershelfer der Fluchtorganisateure.
Zwei Tage seien sie auf dem Meer unterwegs, erzählen mir einige der Geretteten. Tausend bis zweitausend Dollar hätten sie für die Überfahrt bezahlt. Dafür fliegt unsereiner zwei bis drei Wochen in den Urlaub - all-inclusive im Fünf-Sterne-Hotel am Strand des warmen Mittelmeers. Nur drüber nachdenken, wie viele Flüchtlinge ertrunken am Meeresgrund liegen, das muss dann doch nicht sein.
Und wohin geht die Reise? Nach Deutschland möchten sie, nur nicht nach Italien. Doch genau dorthin kommen sie, um weiterverteilt zu werden wie Stückgut, das man auf Bestellung durch Europa karrt. „Da sind ein paar hübsche Mädels dabei“, sagt mir ein Feldjäger. „Die werden wahrscheinlich in irgendeinem Puff landen. Was sollen die denn bei uns schon machen ohne Geld und ohne Ausbildung?“ Auch das wird wohl eine realistische Geschäftsidee dieses Menschenhandels sein, um das geliehene Geld für die Flucht nach Europa wieder zurückzubezahlen.
Es heißt, dass das Flüchtlingsproblem nur durch Zusammenarbeit mit den Regierungen der betroffenen Heimatländer gelöst werden kann. Was aber, wenn diese Regierungen einer der Hauptgründe für die Flucht sind? Wenn Länder wie Simbabwe oder Gambia insgeheim froh sind über jeden, der das Land verlässt, weil sie damit einen Esser oder ein aufsässiges Element weniger haben? Wenn in Äthiopien, Sudan, Somalia ein Menschenleben nichts wert ist und das Elend auf dem Mittelmeer in der dortigen Presse mit dem Prinzip Gleichgültigkeit behandelt wird?
Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist kurzatmig. Naivität gießt Öl ins Feuer der Populisten. Eine gerechtere Verteilung der Flüchtlingsquoten, bei der alle Mitgliedsstaaten der EU mitmachen, ist Voraussetzung für alles Weitere: für eine großherzigere Aufnahme von Flüchtlingen in akuten Notsituationen und eine neue Regelung für legale Einwanderungen. Um barmherziger sein zu können, muss die EU zugleich härter auftreten und für mehr Gerechtigkeit untereinander sorgen.
Für die Menschen auf dem Schiff der deutschen Marine lautet die bange Frage jedoch: Wo werden wir landen? Welches Land wird uns widerwillig dulden, notgedrungen per Quotenregelung aufnehmen müssen? „Nein, solche Typen, die uns unsere schönen Dixi-Klos vollscheißen wollen wir nicht länger haben als nötig.“ In Sachen Hygiene sind wir hierzulande ziemlich empfindlich. Wer schon nicht sauber aufs Klo gehen kann, was soll man von dem denn erwarten? Aber: eine Handvoll Toiletten für 550 Leute. Wie sauber sollen die denn hinterher eigentlich sein?
Ein Flüchtling klagt über heftige Schmerzen. Die Ärzte rücken mit dem Skalpell an und entfernen ihm gekonnt einen großen blutig-eitrigen Abszess. Vorteile auf beiden Seiten: Seine Beschwerden werden nicht in einer versifften nordafrikanischen Barbierstube, sondern auf dem Schiff der Marine professionell kuriert. Und über die Bundeswehr wird in der Presse zu lesen sein, dass das eigens eingeschiffte Fachärzteteam fachmännisch einige Verletzte behandelte. Wo Hubschrauber nicht fliegen, Maschinengewehre daneben schießen und die Ausrüstung als veraltet gilt, tun solche Meldungen gut.
Ertrinkende Menschen aus dem Meer fischen ist humanitär und immer richtig. Diejenigen, die das tun, haben das Gefühl, etwas Wichtiges getan zu haben. Mit dem Meer verbinden Europäer touristische Erholung, wirtschaftliche Möglichkeiten wie den Fischfang oder sogar kulturell-ästhetischen Genuss in Dichtung und Malerei. Für die Flüchtlinge ist es dagegen das Symbol für das Abgründige und Tiefe, das Dunkle und Verschlingende. Konkret: Schiffbruch, Untergang, Ertrinken und Tod.
Bedrohliches Meer in der Bibel
Das Neue Testament schildert diese existenzielle Bedeutung am Beispiel des Sees von Gennesaret, den es auch als Galiläisches Meer bezeichnet. Nach dem Umzug Jesu von Nazareth an den See heißt es bei Matthäus: „Das Volk, das im Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnen, ist ein Licht erschienen“ (4,16). Es ist kein Zufall, dass Jesus als erste Jünger Fischer beruft, Leute, die mit Netzen und Booten umgehen und die um die bedrohlich-tödliche Seite dieses Elements wissen. „Ich werde euch zu Menschenfischern machen“ (4,19). Für wen? Eben für die, die im Dunkeln sitzen und im Schattenreich des Todes und die in welchen Abgründen auch immer zu versinken drohen. Seien es Krankheiten und Leiden (4,23), von denen Jesus im Anschluss viele heilte, oder eben andere Situationen, die der „Barmherzigkeit“ (5,7) bedürfen.
Sehr schnell hat man diese Texte spiritualisiert: Menschen zu fischen bedeute, „Heiden“ für den christlichen Glauben zu gewinnen, zu missionieren, zu taufen. Einmal eingefangen, fanden und finden sich die Gläubigen in einem engmaschig gestrickten Netz an moralischen, religiösen, kirchenrechtlichen Vorschriften wieder. Religionspädagogisch und liturgisch wird dieses Motiv immer noch in naiv anmutender Weise gebraucht, wenn etwa bei Erstkommunionfeiern im Altarraum ein Bild mit einem Netz und vielen Fischen mit den Namen der Kinder darin zu sehen ist. Fische geraten ungewollt und heimtückisch in ein für sie unsichtbares Netz und werden wider Willen an Land gezogen. Doch das trifft mitnichten die Grundabsicht Jesu mit Blick auf seine eigene Mission und die der Jünger. Ihm geht es darum, die Todesbedrohung der Menschen - dafür steht das Meer eben auch - völlig neu zu bedenken. Die Betroffenen sollen mit dem Netz der Barmherzigkeit aus den Bedingungen, die sie hinunterziehen und vernichten können, gerettet werden. Auch die Erzählung vom barmherzigen Samariter zielt genau in diese Richtung. Der Erstretter wird als Vorbild hingestellt.
Genau dies tut inzwischen auch die Deutsche Marine. Soldaten werden zu Menschenfischern. Anders kann man dies nicht bezeichnen. Das Evangelium gewinnt eine ungeahnte Aktualität. Sie fahren tage- und nächtelang an der Nordküste Libyens dorthin, wo die Seefahrtrouten der Flüchtlinge verlaufen. Sie lassen Fallreep und Sicherungsnetze hinunter, Rettungsinseln und Rettungsschwimmer, um die in Seenot Geratenen vor dem Ertrinken zu bewahren. Sie geben ihnen zu essen und zu trinken, heißen sie willkommen. Zunächst sind die Geretteten in Sicherheit. Die Frage ist nur: wie lange?
Als wir die Flüchtlinge an italienische Schlepper - Schlepper sind keine Schleuser, selbst wenn das so klingt, sondern Schiffe und Boote - wieder abgeben, beugen sich manche herunter und berühren mit der Hand den Boden des Schiffes. Andere bekreuzigen sich wie Fußballer vor dem Match, bevor sie die Trittstufen hinuntersteigen. Religion und Glaube spielen für diese Menschen offensichtlich eine Rolle. Mehr als 250 Personen kann der Schlepper nicht transportieren. Als die erste Fuhre davonfährt, winken sie uns allen zum Abschied noch einmal zu. Vielleicht werden wir ja den einen oder anderen in Deutschland zufällig wiedersehen. So gut wie auf dem „5-Sterne-Tanker“ der Deutschen Marine werden sie es jedenfalls so schnell nicht wieder haben. Das ist sicher. Ich spreche mit einem der italienischen Offiziere: Seit fünf Jahren macht er das schon. Was für uns die Ausnahme ist, ist sein Alltag: Afrikaner ans italienische Festland bringen. Bei schönem Wetter und ruhiger See fast tägliche Routine. Zigtausende sind es jedes Jahr.
Kraft für wertvolle Dienste
Nicht wenige Soldaten gehen jeden Tag an Bord in die „Mucki-Bude“. Das sieht man ihnen auch an: Brustmuskeln, knackiger Bizeps, flacher Bauch. Dass sie mit ihrer Kraft nicht nur gut dastehen, sondern wertvolle Dienste leisten können, bewundere ich schon. Einige Frauen sind so schlapp, dass sie es nicht schaffen, die steile Stelling runterzugehen. Vielleicht haben sie auch Höhenangst oder fürchten sich, im letzten Augenblick noch zu stolpern und ins Wasser zu fallen. Sie werden dann von solchen Kraftpaketen ganz einfach samt ihren Kindern locker auf den Arm genommen und sicher nach unten getragen. So kann jeder mit seinen Fähigkeiten an seinem Ort etwas Gutes tun. Ich hätte das nicht gekonnt. Während seines Einsatzes ist dieses Schiff einmal komplett um Afrika herumgefahren. Was aber wissen wir eigentlich von diesem Kontinent, seinen vielen Ländern, seiner Geschichte? Von den zerfallenden Staaten, seinen Regierungsformen und Konflikten? Von der europäischen Kolonialherrschaft und deren Spätfolgen bis zum heutigen Tag? Von Armut, Dürre, Hunger und Missernten? Von Bürgerkriegen und ethnischen Auseinandersetzungen? Von Christenverfolgungen und islamistischen Terroristen? Ich habe die Flüchtlinge gefragt, wo sie herkommen: Eritrea, Guinea, Äthiopien, Nigeria, Elfenbeinküste, Mali, Sambia, Senegal, Libyen, Niger. Ob sie die Wahrheit sagen - wer weiß es schon so genau?
Die Besatzung ist stolz auf das, was sie da geleistet hat. Darf sie auch sein. Es ist eine Premiere, ein neues Kapitel in der Geschichte der Deutschen Marine. Eine neue Herausforderung für alle Beteiligten: Teamwork in Feinabstimmung. Das zusätzlich eingeschiffte Funktionspersonal hat zeigen können, was es drauf hat.