ReligionsunterrichtReli: Morgen anders als gestern

Der herkömmliche Religionsunterricht reicht nicht mehr aus. Wie muss er sich ändern?

Es ist ein Begriff, der seit einiger Zeit wieder häufiger zu hören ist: „christliches Abendland“. Dass hierzulande wie in weiten Teilen Europas die Verwurzelung in einer religiösen, das heißt in erster Linie christlichen, Lebenswelt seit Jahrzehnten jedoch kontinuierlich schwindet, ist kein Geheimnis. Was weiß die Gesamtbevölkerung im Durchschnitt noch von Wesenselementen des Glaubens, was von der Bibel oder gar der Kirchengeschichte? Was eint und trennt die Konfessionen? Worin unterscheiden sich Christentum, Judentum und Islam?

Der einzige Ort, an dem solche Fragen noch ernsthaft - und einigermaßen flächendeckend - gestellt werden können und sollen, ist der im Artikel 7 des Grundgesetzes garantierte Religionsunterricht. Noch gibt es ihn in den meisten Bundesländern - immerhin. Doch aus Sicht der Religions­pädagogik bietet die Lage nur wenig Anlass zu Zufriedenheit oder Mut. Es stimmt auch: Je weiter man in Deutschland Richtung Norden und Osten schaut, desto dürftiger wird der Befund. Konfessioneller Religionsunterricht fristet oft nur ein Randdasein, ein ökumenischer, genauer: „konfessionell-kooperativer“ Religionsunterricht löst ihn vielerorts ab. Was heißt das für den Erfolg? Was bewirkt ein solcher Unterricht bei denen, für die er gedacht ist?

Wunschdenken . . .

Jedes Jahr kommen mehr als hundert Religionspädagogen in leitenden Positionen im bayerisch-schwäbischen Donauwörth zusammen, um brennend-aktuelle Problemfelder zu analysieren und zu diskutieren, zuletzt zum Thema: „Perspektivenwechsel im Religionsunterricht“. Schon im Eröffnungsvortrag, den Rudolf Englert von der Universität Duisburg-Essen wegen Erkrankung verlesen ließ, wurde die ganze Problematik deutlich. Ging man früher wie selbstverständlich davon aus, dass Lehrkraft, Schülerschaft und Lehrinhalt konfessionell einheitlich verbunden sind, erscheint dieses Modell des Religionsunterrichts angesichts der realen Verhältnisse nur noch als bloßes Wunschdenken. Schülerinnen und Schüler bringen kaum noch religiöse Bindung oder auch nur Grundkenntnisse aus dem Elternhaus mit. Christliche Glaubens­praxis, sonntäglicher Gottesdienstbesuch - Fehlanzeige. Auch die Lehrkräfte eignen sich religiöses Wissen zumeist erst außerhalb des Elternhauses an, im besten Fall schon in der eigenen Schulzeit, häufig wohl aber erst während des Studiums.

Indes werden, wie Englert darlegte, seit jeher hohe Ansprüche mit dem Konfessionalitätsprinzip verbunden. So hätten die Lehrkräfte „entsprechend dem Konzept der Glaubenszeugenschaft nicht nur als theologische und pädagogische Expertinnen, sondern auch als persönliche Repräsentanten einer bestimmten religiösen Tradition“ zu wirken. Dadurch sollten die Heranwachsenden „entsprechend dem Konzept des Konfessorischen zu eigener religiöser Positionierung gegenüber diesen Zeugnissen und Traditionen herausgefordert“ werden. So weit der Anspruch.

. . . und Wirklichkeit

Was aber ist die Realität? Eine Essener Forschungsgruppe machte über sechs Jahre videografierte Unterrichtsbesuche, insgesamt 113 Stunden in vierten und zehnten Klassen. Dabei ging es um zentrale Themen wie Schöpfung, Licht, Tod, Bergpredigt oder Weltreligionen. Positiv ließ sich durchweg feststellen, dass engagierte Lehrkräfte am Werk waren, die den heutigen didaktischen Anforderungen völlig gerecht wurden - sollten sie sich doch, so der momentane Mainstream in der pädagogischen Ausbildung, als „Arrangeure von Lernprozessen“ verstehen, um eine Art „Lernlandschaft“ zu eröffnen, und sich ansonsten darauf beschränken, „die selbstständige Arbeit der Schüler/-innen zu begleiten“. Die Folge: Die theologische Kompetenz der Lehrkräfte ist kaum gefragt, ein „persönliches Glaubenszeugnis“ kommt - übrigens auch aus individuellen Gründen - so gut wie nicht mehr vor.

In der Grundschule geht laut Untersuchung „die Tendenz der unterrichtlichen Arbeit in Richtung eines adaptiven Umgangs mit religiösen Zeugnissen“. Damit ist gemeint: Elemente der religiösen Tradition werden so ausgewählt und angepasst, „dass sie im Wesentlichen bestätigen, was man aus eigener Erfahrung weiß: dass es gute und schlechte Zeiten gibt, dass es Gefühle intensiven Miteinanders genauso wie der Verlassenheit gibt, dass es wichtig ist, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten“.Die Angebote bleiben „niederschwellig“, der Zugang zu biblischen Texten wird „so unaufwendig wie möglich“ angeboten. Die Gefahr einer „Trivialisierung religiöser Traditionen“ ist nicht von der Hand zu weisen.

In den weiterführenden Schulen geht, so Englert, die Tendenz „eher in Richtung eines informativen Umgangs“: Religiöse Traditionen werden sehr zurückhaltend eingebracht „und in einem eher sachkundlichen Modus vorgestellt“. Ob da bei Einzelnen „eine persönliche Reflexion in Gang kommt“, bleibt dahingestellt.

Englert stellte fest, dass im Reli­gions­unterricht kaum noch im Sinne des Erkenntnisgewinns diskutiert wird. Die heutige Schülergeneration wolle selten persönlich Stellung beziehen, selbst wenn die Lehrkraft spannende Fragestellungen aufzubauen versucht. Das ernüchternde Ergebnis: Religiöse Fragen haben nur noch „geringen lebenspraktischen Streitwert“. Das Bekenntnishafte spielt so gut wie keine Rolle mehr. Wie steht es um die Wahrheitsfrage, die in kirchlichen Verlautbarungen so gerne als Wesensmerkmal des Religionsunterrichts hervorgehoben wird? Auch hier macht sich Ernüchterung breit: „Es ist nicht einmal mehr klar, in welchem Sinne von einer Wahrheit religiöser Vorstellungen und Überzeugungen überhaupt noch die Rede sein kann.“ Rudolf Englert sieht stattdessen eine zunehmende Verflüchtigung der Wahrheitsfrage „ins subjektive Ermessen“.

Was soll man also tun angesichts dieser ernüchternden Analyse? Unbestritten entwickelt sich der Religionsunterricht immer mehr in Richtung einer „Religionskunde“. Verkündigung und Ermahnung zu engagierter Kirchlichkeit laufen, falls überhaupt noch versucht, mehr oder weniger ins Leere. Was bleibt dann noch? Bietet vielleicht auch eine gut gemachte Religionskunde Chancen? Und worin besteht dann noch der Unterschied zum bloßen Ethikunterricht?

Zunächst gilt es, noch einmal genau danach zu fragen, was „Konfessionalität“ heute eigentlich bedeutet. Der Münchener Theologe Peter Neuner sowie Ulrike Link-Wieczorek von der Universität Oldenburg betonten einmütig, dass „Konfessionalität in versöhnter Verschiedenheit“ einen Wert in sich hat. Das bedeutet zum einen die Notwendigkeit, das Wertvolle an bekenntnisgebundenen Traditionen hervorzuheben und zu bewahren, zum anderen aber auch die Pflicht, Verschiedenheiten nicht zu verschweigen, mit Neuners Worten „auch jene Besonderheiten beim Anderen anzuerkennen, die man selbst nicht übernehmen will“. Link-Wieczorek illustrierte am Beispiel der Leuenberger Konkordie. In dieser haben 1973 lutherische, reformierte, unierte und vorreformatorische Kirchen gegenseitig die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft anerkannt und aufgenommen. Das zeigt, wie Ökumene gelingen könnte, indem das Gemeinsame in den Vordergrund tritt, das Trennende benannt und ein Dialog gepflegt wird, der freilich intensive Selbstreflexion voraussetzt.

Gesucht: elementare Theologie

Solche Überlegungen sind hilfreich für das Konzept eines recht verstandenen konfes­sio­nell-kooperativen Religionsunterrichts, der, wie aufgezeigt, in einigen Gebieten Deutschlands einen nicht mehr zu organisierenden rein konfessionellen Unterricht zu ersetzen versucht. Das Prinzip der Überkonfessionalität erfordert allerdings in besonderem Maße, gründlich darüber nachzudenken, was genau zum „Markenkern“ des Christseins gehört.

Der evangelische Theologe Hartmut Rupp aus Heidelberg ist der Ansicht, dass das Wesentliche oft schon in ganz elementaren Kinderfragen zur Sprache kommt. Eher indirekt würden Kinder etwa nach Wahrheit und Gerechtigkeit fragen, nach Hilfsbereitschaft, nach Gut und Böse, aber auch nach einem letzten Woher und Wohin. Ohne eine „elementare Theologie“ aufseiten der Lehrkräfte bleiben die damit gegebenen Chancen des Religionsunterrichts ungenutzt. „Elementare Theologie“ kann die Schranken des Bekenntnishaften überschreiten. Es lässt sich dennoch feststellen, dass eine konfessionelle Verankerung des Unterrichts die Kompetenz der Unterrichtenden in der Regel erheblich steigert.

Hier wird der zentrale Unterschied zum üblichen Ethikunterricht deutlich. Wer Ethikunterricht erteilt, hat normalerweise keine theologische Kompetenz. Er nähert sich den Religionen - unter denen das Christentum eher stiefmütterlich durchgenommen wird - von außen, behandelt sie irgendwie gleichrangig-neutral gegenüber anderen Religionen und hütet sich vor einem eigentlichen Bekenntnis. Wahrscheinlich wird vom Lehrenden jede Art von Gottesglauben abgelehnt - wie es auch der Großteil der Schüler tut.

Anders hingegen eine theologisch ausgebildete Lehrkraft: Sie weiß normalerweise genauer, wovon sie spricht. Theologische Entwicklungen, wie beispielsweise ein historisch-kritischer Zugang zu Bibeltexten, sind zumeist geläufig. Veraltete religiöse Vorstellungen finden keinen Platz mehr. Nach den Erfahrungen des Autors wird in mancher Ethik-Unterrichtsstunde längst überholtes religiöses Wissen dargelegt, etwa wenn der Lehrer fragt: „Christen glauben doch, dass in der Hölle Feuer brennt, oder nicht?“

Es zeigt sich - leider - ein nicht unerhebliches Manko in der Lehrerausbildung. Je elementarer der Religionsunterricht wird, je unumgänglicher sich vielerorts ein konfessionell-kooperativer, also ökumenischer Unterricht erweist und je mehr ein solcher sich religionskundlich versteht, umso hinderlicher erscheint das Fehlen an Kenntnissen über die jeweils anderen christlichen Konfessionen. Konfessionen im Plural: Auch die Orthodoxie muss ja in unserer Einwanderungsgesellschaft beachtet werden.

Diesem sich immer häufiger zeigenden Problem mangelnder interkonfessioneller Fachkenntnisse ging Lothar Kuld von der Pädagogischen Hochschule Weingarten auf den Grund. Das Problem verschärft sich, wenn es in einem ökumenisch ausgerichteten Unterricht zu konfessionellen Vorurteilen innerhalb der Schülergruppe kommt. Was wissen evangelisch getaufte Jugendliche über Eucharistie oder über Marienverehrung bei Katholiken? Was wissen umgekehrt diese über die evangelische Rechtfertigungslehre?

Nun stellt sich aber, so Kuld, bei Untersuchungen zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht heraus, dass dieser gerade die Neugierde auf die jeweils andere Konfession wecken kann. „Interkonfessionelles Lernen im Dialog“ sei möglich. Es müsste freilich bereits in der religionspädagogischen Ausbildung geübt werden - ein weites Feld für bislang weitgehend vernachlässigte Möglichkeiten.

Wer nur schwarzsieht, hat auch keinen Blick für die Chancen, die neue Entwicklungen bieten. „Versachkundlichung“ (Englert) bedeutet ja nicht Beliebigkeit oder Auswendiglernen von Lexikonwissen. Jeder Germanist weiß um die Mühe, die es kostet, Freude an der Literatur zu wecken. Ohne dieses Ziel aber müsste jeder Versuch scheitern, vom Wert literarischer Bildung zu überzeugen. Gilt dies nicht in ähnlicher Weise auch für die Religionspädagogik? Wer Deutsch unterrichtet, muss seine Freude am sprachlichen Kunstwerk zum Ausdruck bringen, wenn der Funke überspringen soll. Genauso aber muss derjenige, der Religionslehre (oder eben: Religionskunde) unterrichtet, glaubhaft zeigen können, wie eine religiöse Einstellung das eigene Leben bereichern kann. Vielleicht kommt es sogar mehr als in vielen anderen Fächern im Religionsunterricht auf die Lehrkraft an. Das heißt aber auch: In Mode gekommene didaktische Einseitigkeiten dürfen nicht bestimmend werden.

Dass die Auseinandersetzung mit reli­giö­sen Traditionen bereits einen Orientierungsgewinn garantiert, wie man früher meinte, ist sicherlich zu bezweifeln. Und doch kann Rudolf Englerts Schlussbemerkung ermutigen: „Stark ist der Religionsunterricht vor allem da, wo es um die individuelle Anpassung religiöser Zeugnisse, die Erweiterung christentums- und religionskundlicher Kenntnisse oder die Auseinandersetzung mit unmittelbar lebensrelevanten Fragen geht.“ In Anbetracht mancher gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen ist das nicht wenig. Es ist doch ganz gut, dass es Artikel 7 des Grundgesetzes gibt. Man muss ihn nur nutzen.

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