Es war fünf nach zwölf, als Papst Franziskus die Sala Regia im Vatikan betrat. In dem Prunkraum aus dem 16. Jahrhundert warteten fünfhundert Gäste auf ihn, darunter die Spitzen der Europäischen Union, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesandte der Stadt Aachen, die ihm den Karlspreis für seine Verdienste um Europa verliehen. Fünf nach zwölf - schon alles zu spät für Europa?
Es ist schon erstaunlich: Da haben die Europäer vor zehn Jahren noch Gott aus der Präambel des Vertragswerks gestrichen, da hat Franziskus I. im November 2014 vor dem Europaparlament in Straßburg Europa die Leviten gelesen, indem er beklagte, Europa (nach Vorstellung der antiken Griechen eine von Zeus verführte phönizische Königstochter) sei zur Großmutter geworden, nicht mehr fruchtbar und lebendig - und nun pilgerten Parlamentspräsident Martin Schulz, Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratsvorsitzender Donald Tusk nach Rom - fast einem Gang nach Canossa gleich, um dem Papst zu huldigen und höheren Beistand zu erflehen.
Es muss schlimm stehen um Europa. Und es steht schlimm. Eine Krise folgt der nächsten: Bankenkrise, Griechenlandkrise, Terrorkrise, Ukrainekrise, Flüchtlingskrise - alles jedoch Krisen, die mit den Instrumentarien der Politik zu managen oder, wie man noch neudeutscher sagt, irgendwie zu „handeln“ sind. Die eigentliche Gefahr für Europa aber geht von innen aus. Das Einheitswesen ist in seinem Kern gefährdet, denn seine Teile drohen das Ganze auszuhöhlen.
In nahezu allen Ländern sind die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Das Fatale: Die bisher großen Parteien übernehmen deren Parolen und nähern sich deren Zielen an, aus Furcht, noch mehr Wähler an sie zu verlieren. Indem sie dem Populismus nachgibt und sich inhaltlich anpasst, verhilft die bisherige politische Klasse den Europagegnern indirekt und schleichend zum Erfolg. Nationalismen nehmen zu, dem Gemeinschaftsprojekt, das 500 Millionen Bürger in 28 Staaten zu einen versucht, droht der Verfall. Höchste Zeit für die höchsten Berufseuropäer, die Alarmglocke zu läuten und das bei einer übergeordneten Instanz, die - obgleich Weltkirche - wie keine zweite für die Geschichte des Abendlandes steht.
Wertebasis im Wanken
Der Notschrei war deutlich: „In tiefer Sorge um den Zusammenhalt Europas kommen wir hierher“, sprach der Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp in Rom. Die „Erosion des kulturellen und moralischen Fundamentes in Europa“ sei beängstigend, „rechtsextreme Parolen und Strukturen der Renationalisierung dringen in die Mitte der Gesellschaft vor“. Auch Martin Schulz wollte „es klar sagen: Europa durchlebt eine schwere Solidaritätskrise; unsere gemeinsame Wertebasis gerät ins Wanken“, Populisten trieben ihr böses Spiel, indem sie Ängste schürten. Der Papst teilte die Analyse und sprach selbst von einem „heruntergekommenen Europa“. „Was ist mit dir los, humanistisches Europa?“
Es waren zwei Gesichter, die während der Verleihung gezeichnet wurden. Zwei Gesichter Europas: Das eine entwarf der geehrte Franziskus I., das andere setzte sich zusammen aus den Befürchtungen, die in den Reden von Schulz, Juncker und Tusk beherrschend waren. Das eine war schön, das andere hässlich, eher ein Schreckgespenst. Das eine war das Gesicht der Integration, das „sich anderen nicht widersetzt“, sondern „dem Züge verschiedener Kulturen eingeprägt sind … und das aus der Überwindung der Beziehungslosigkeit kommt“, das andere war das der Ausgrenzung, das Europa der „Renationalisierung und der Kleinstaaterei“ (Schulz), das Europa, das Mauern baut und Zäune zieht, das „abweisend und egoistisch“ ist (Tusk).
Und es tauchte ein drittes Gesicht auf, ein von außen kommendes. „Plötzlich klopft die Globalisierung an unsere Tür“, sagte Oberbürgermeister Marcel Philipp. „Sie hat ein Gesicht, und es sieht anders aus, als wir geglaubt haben: Es schaut uns an und berichtet von Furcht, Vertreibung, Armut, Hunger, von Krankheit, Krieg und Tod. Es ist das Gesicht eines Menschen, es sind die Gesichter vieler Menschen. Wegschauen geht nicht mehr.“ Der französisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas (1906-1995), der sich viel mit dem Phänomen des Antlitzes beschäftigt hat, würde angesichts dieser Begegnung von einer Verpflichtung sprechen, die vom unendlichen Anspruch des Anderen ausgeht. Hinter der unbedingten Inpflichtnahme durch ihn blieben alle ethischen Abwägungsfragen, wie sie jüngst etwa der Bonner Sozialethiker Martin Honecker im Sinne einer politischen Ethik vorgeführt hat (vgl. CIG Nr. 19, S. 208), sekundär.
Der Papst folgt dieser unbedingten Inpflichtnahme. Er steht für Integration, für Multikulti - wie könnte es anders sein, steht er doch mehr als einer Milliarde Katholiken vor aus allen Kontinenten. Doch er befürwortet kulturelle Vielfalt nicht bloß wegen der äußeren Zusammensetzung seiner Kirche, sondern begründet ihre Vorzüge inhaltlich: „Reduktionismen und alle Bestrebungen der Vereinheitlichung“ seien weit davon entfernt, Reichtum und irgendwelche höheren Werte hervorzubringen. Im Gegenteil: Sie „verurteilen unsere Völker zu einer grausamen Armut: jene der Exklusion. Statt Schönheit und Größe mit sich zu bringen, ruft das Ausgrenzen anderer Feigheit, Enge und Brutalität hervor. Weit entfernt davon, dem Geist Adel zu verleihen, bringt sie ihm Kleinlichkeit.“
Das Gewicht der Populisten
Der von Kleingeist geprägte Rückzug ins Nationale, flankiert von übersteigertem Patriotismus, der Ablehnung alles Fremden bis hin zu Rassismus, ist fast überall in Europa festzustellen. Und fast immer sind es die weiten ländlichen Gebiete, wo der Zuspruch dafür am größten ist. Hier bei den angeblich von den Zentralregierungen Vernachlässigten oder aber - wenn eine Gegend gedeiht - bei den angeblich von den Zentralregierungen Abgezockten gelingt es den Populisten, Ängste zu schüren, Neid zu wecken und Stimmen in hohem Ausmaß zu gewinnen.
In Österreich liegt die fremdenfeindliche FPÖ, deren Vertreter die Europäische Union schon mit dem Dritten Reich verglichen hat, derzeit in allen Umfragen vor den bisherigen Volksparteien ÖVP und SPÖ. Demnächst werden die Haider- und Strache-Anhänger wohl den Bundespräsidenten stellen. In Frankreich ist der Front National unter Marine Le Pen gut vierzig Jahre nach seiner Gründung bei der Europawahl 2014 mit knapp 25 Prozent der Stimmen erstmals stärkste französische Partei geworden. In Großbritannien hat die rechtspopulistische Partei Ukip (UK Independence Party) mit Nigel Farage an der Spitze den Brexit als Hauptziel, den Austritt Großbritanniens aus der EU. 1994 war Ukip zum ersten Mal bei einer Europawahl angetreten und hatte ein Prozent der Stimmen geholt. 1999 waren es schon sieben Prozent, 2004 16,8 Prozent und 2014 28 Prozent der Stimmen. Sie ist die stärkste britische Partei im Europaparlament.
In Italien ist die Lega Nord des Ehrenpräsidenten Umberto Bossi äußerst erfolgreich. Die rechtspopulistische, teils fremdenfeindliche und separatistische Partei lehnt den Zentralstaat Italien und dessen Symbole ab, Europa schon gar. In den Niederlanden schaffte es der Rechtspopulist Geert Wilders, der schon wegen des Verdachts auf Volksverhetzung vor Gericht stand, zum „Politiker des Jahres“.
Der regierende Ungarische Bürgerbund, genannt Fidesz, ist eine Partei, die einen autoritär-nationalistischen Kurs fährt. Das ausgerufene Ziel von Ministerpräsident Viktor Orban: ein „nicht-liberaler Arbeiterstaat“. Seit 2012 gilt in Ungarn eine neue Verfassung, in der die „Republik Ungarn“ schlicht in „Ungarn“ umbenannt worden ist. Der Begriff der Republik, der die Gleichheit aller Bürger beinhaltet und der auf Europa bezogen die Gleichheit aller Europäer bedeuten würde, kommt im Staatsnamen nicht mehr vor. Wenn Orban von Brüssel redet, spricht er von „Bürokraten“, die im Sold von Bankiers und gierigen Multis stünden. Zu Beginn der neuen Regierungsperiode ließ Ungarns Parlamentspräsident die europäischen Flaggen einholen. Dieselbe Ablehnung europäischer Symbole gibt es in Polen. Dort verbannt die rechte Kaczynski-Partei PiS europäische Flaggen aus dem öffentlichen Raum.
Couch-Potato-Komfortzone
Das ganze Ausmaß der nationalistischen Reaktion in Europa ist den meisten Deutschen noch nicht bewusst. Erstens, sagt die Politikwissenschaftlerin und Direktorin des European Democracy Lab, Ulrike Guérot, verdeckt das Mehrheitswahlrecht in einigen Nachbarländern die wahre Größe und Gefahr der Rechtspopulisten. Und zweitens interessierten sich die Deutschen in ihrer „Couch-Potato-Komfortzone“ zu wenig für die Probleme in den anderen Ländern der EU. Dort aber wachse nicht nur der Zorn auf Brüssel, sondern auch der auf Deutschland.
Welchen Anteil sollte Deutschland, das trotz - oder gerade wegen - aller Krisen ökonomisch so glänzend dasteht, am europäischen Verfallsprozess haben? Kanzlerin Angela Merkel, die sich vor der Karlspreisverleihung in einer Privataudienz mit dem Papst getroffen hatte, wurde in der Sala Regia mit starkem und lang anhaltendem Applaus empfangen. Liegt sie doch in Sachen Humanität in der Flüchtlingshilfe mit dem Papst auf einer Linie. Merkel zeigt sich als eiserne Verfechterin christlicher Werte. Mit ihrer Willkommenskultur hat sie politisches Profil gezeigt gegen alle Widerstände aus gegnerischen wie eigenen Reihen.
Das war nicht immer so. Ein Jahrzehnt ihrer bald elfjährigen Kanzlerschaft war sie vor allem die Moderatorin, die Zauderliche, die nach Umfragen Regierende, die Entscheidungen erst traf, wenn klar war, wo die Mehrheiten liegen. Sie war diejenige, die meist „auf Sicht fuhr“, diejenige, die für die CDU die Mitte erobert hat, indem sie die konservative Partei, der sie vorstand, sozialdemokratisiert und die Sozialdemokraten verzwergt hat, diejenige, die für Mainstream stand, diejenige, die Höchstwerte in der Popularität erreichte, indem sie um keinen Preis polarisierte - diejenige, die durch ihren Regierungsstil ein Land politisch sedierte.
Kann es sein, dass das profilfreie Mainstream-Regieren, dass die von der Politik selbst herbeigeführte politische Lethargie im Land die Gegenreaktion jener provozierte, die sich nun als „Alternative“ des Establishments verstehen? Kann es sein, dass das „gealterte, erdrückte Europa“, von dem der Papst in Straßburg sprach, die Folge mangelnden Mutes und fehlender Tatkraft ist, in deren Folge die antieuropäischen Kräfte erst stark werden konnten? So in etwa dürfte es der ehemalige Kanzler und ganz und gar überzeugte Europäer Helmut Kohl sehen. In einem Beitrag anlässlich der Karlspreisverleihung, in dem er sich vehement für Europa starkmacht, schreibt er: „Verlorengegangen zu sein scheint … die Einsicht, dass Europa den klaren politischen Willen braucht, um zu gelingen. Das ist gefährlich … Schon mehrfach wurde in der deutschen und europäischen Geschichte das einmal Erreichte vertan und wurden Grundsätze über Bord geworfen, wurden kurzsichtig regional oder national motivierte Entscheidungen über das große Ganze gestellt und wurde schließlich zu spät gehandelt.“
Mit den politisch Verantwortlichen geht Kohl hart ins Gericht. Die Debatte sei geprägt von „Kleinmut“, „fehlender Weitsicht“, „Geschichtsvergessenheit“, „Leichtfertigkeit“ und „Verantwortungslosigkeit“. „Das Projekt Europa wird nicht mehr mit dem gebotenen Ernst und Schwung vorangetrieben“, schreibt Kohl seinen Epigonen ins Stammbuch. Kommissionspräsident Juncker zeigte sich in diesem Sinne einsichtig. Ein Rückzug in „unsere eigene Behaglichkeitszone“ sei keine Lösung, sagte er im Apostolischen Palast. „Wir müssen zum Mut unserer Vorgänger zurückfinden.“ Dann rief Juncker den Europäern wie um sich Mut zu machen ein „Audaces fortuna juvat“ entgegen („Den Tapferen hilft das Glück“), und wie wenn er in Brüssel völlig allein gelassen wäre von den 28 Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, flehte er: „Also, ihr alten Europäer, hört die Stimme von Papst Franziskus, wacht auf!“
Wie aber kann das gealterte, müde gewordene Abendland wieder neu und kräftig in Schwung kommen? Wie ist das Projekt Europa - Elan und Kreativität vorausgesetzt - voranzutreiben? In der Analyse des Philosophen Jürgen Habermas sind es im Wesentlichen drei Bedingungen, die „mehr Europa“ ermöglichen. Dabei ist zu fragen, welchen Beitrag Deutschland als mächtigstes Land in Europa leistet.
Erstens: Die Führungsrolle, die Deutschland aus demografischen und ökonomischen Gründen zufällt, darf nicht zu nationalen Alleingängen führen, schreibt Habermas. Wie war das während der Griechenlandkrise, die noch nicht ausgestanden ist: Wie kooperativ war Berlin? Hat es dem Rest Europas nicht seine Austeritätspolitik aufgezwungen, unter der vor allem das griechische Volk zu leiden hat? Hat es nicht die enorme Jugendarbeitslosigkeit vor allem in den südlichen Ländern zementieren geholfen, indem es mit Rekordhandelsüberschüssen nicht nur gegen Grundregeln der Währungsunion verstieß, sondern mit hohen Export- und geringen Importraten den Krisenländern die Marktanteile beschnitt und somit die Wirtschaftsentwicklung in etlichen Mitgliedsländern hemmte? Waren es womöglich diese finanz- und wirtschaftspolitischen Alleingänge, die die europäischen Partner veranlassten, es Deutschland heimzuzahlen und in der Flüchtlingsfrage die Solidarität zu versagen?
Europäer in Vollzeit, in Teilzeit
Zweitens: Die Politik muss ihre Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene gegenüber den Märkten zurückgewinnen. Lange war sie laut Habermas einer „neoliberalen Selbstentmächtigung“ verfallen. Sie ließ zu, dass aus den Märkten generierte Technokraten Politik bestimmten und nicht gewählte Politiker. Auch hier ist zu fragen: Wie stand es um Deutschland? Wie leicht hat Angela Merkel die politische Gestaltung Europas aus den Augen verloren und sich stattdessen „den Marktimperativen“ unterworfen, als sie verkündete: „Wir werden Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist“?
Drittens: Strukturelle Ungleichgewichte in der Eurozone können nicht ohne Transferleistungen abgefedert werden. Habermas fordert eine gemeinsame Struktur- und Wirtschaftspolitik, die demokratisch zu legitimieren ist durch einen von der Gesamtheit der europäischen Bürger gewählten Gesetzgeber, der einen „von nationalen Egoismen bestimmten Modus der Willensbildung, wie er im Europäischen Rat vorherrscht“, ablöst.
Ulrike Guérot, die Gründerin des European Democracy Labs, schließt sich Habermas an, wenn sie fordert: „Wir müssen aus der Trilogie Kommission, Rat, Parlament raus.“ Statt der immer wieder geforderten Reformen sei ein kompletter Umbau von Europa nötig. Die Idee eines Staatenbundes habe sich als Irrweg erwiesen, weil transnationale, europäische Lösungen ständig durch nationale Interessen torpediert würden. Jean-Claude Juncker hat es in Rom so ausgedrückt: „An einem Tag, an dem man alles kriegt, ist man Vollzeit-Europäer; an einem anderen Tag, an dem man etwas abgeben muss, ist man Teilzeit-Europäer.“ Statt der Vereinigten Staaten von Europa fordert Guérot die Republik Europa. Das heißt Direktwahl eines europäischen Präsidenten und ein Zweikammernsystem, das die Kompetenz hat, eine einheitliche Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik zu machen.
Auch Franziskus I. hat seine Vision von Europa. Es ist eines der Solidarität und Mitmenschlichkeit. Im Stile Martin Luther Kings beendete er seine Rede mit einem neunfachen „Ich träume von einem Europa, …“ Die Fortsetzung eines der neun Sätze lautete: „… in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist.“ Rechtspopulisten, hört auch ihr die Stimme des Papstes!