Das Sommerloch war schuld. Die politikfreie Zeit hat über Wochen für „modische“ Schlagzeilen gesorgt und die westliche Bevölkerung mit der islamischen Kleiderordnung für gottesfürchtige Musliminnen vertraut gemacht. Fast jede Zeitung befleißigte sich, in Fotos und Grafiken die Unterschiede zwischen Hidschab, Niqab, Burka und weiteren Verschleierungsarten zu erklären. Wem das nicht genug war, der durfte sich an einer im Burkini aus den Wellen steigenden „Wassernixe“ sattsehen, an dem, woran nichts zu sehen war. Soll, darf, muss der Staat per Gesetz solche „Parallelwelten“ aus dem öffentlichen Leben einer freizügigen Gesellschaft verbannen? Was ist der hiesigen Kultur zuzumuten anzuschauen, wovor muss man sie bewahren?
In Frankreich, wo längst ein Burkaverbot auf Straßen und Plätzen herrscht, wandte sich das Volk samt Legislative zuletzt dem Strandleben zu, um selbst dort, wo die große republikanische körperliche Freiheit herrscht, zu reglementieren, was angemessen, was chic sei und was nicht. Der Bikini, der viel Fleisch sehen lässt, ist es, der Burkini ist es nicht - bis aus oberster Warte das Verbot erst einmal gekippt wurde, um sich juristische Bedenkzeit zu verschaffen.
Die einen meinen, der Islamisierung Europas müssten wenigstens symbolisch Grenzen gesetzt werden, indem man die fremdartige, anstößige Verhüllung verbietet. Es handele sich - so ein Einwand - faktisch um „Säcke“, die über die Köpfe der Frauen gestülpt würden, um deren Person unsichtbar zu machen. Das werte das Frausein selber ab, erniedrige es. Andere verweisen auf die Religionsfreiheit und das Recht eines jeden Individuums, anzuziehen, was es will. Manche Gegner gesetzlicher Maßnahmen befürchten - unausgesprochen - vermutlich jedoch nur, dass die milliardenschweren arabischen Scheichs und ihre Clans samt Harems, eingeflogen meistens per Großraum-Privatjet, unserer Wirtschaft und unserem Staat dann fernbleiben. Mit Gesundheitstrips und Wellnesskuren zu bester und teuerster Behandlung sowie durchgemanagten Shopping- und Freizeittouren der begleitenden, stets ganzkörperverhüllt wandelnden Frauen bescheren sie der Nation, ihrer Privat-Hochleistungsmedizin sowie den obersten Luxus-Etablissements, exklusivsten Nobelboutiquen und Juwelieren reiche Gewinne.
Vom Feigenblatt zur Haute Couture
Im erregten Pro-und-Contra verschleierter Frauen wird allerdings durchgehend ausgeblendet, dass der Mensch keineswegs frei ist und niemals frei war in dem, was ihm die Natur oder die Kultur zur Bekleidung bereithielt. Bereits in den ersten Abschnitten der Bibel greifen die Menschen nach Feigenblättern, um ihre - genitale - Blöße vor Gott zu verbergen, vor dem sich eigentlich kein Mensch schämen muss. Daraufhin hat Gott ein Einsehen mit dem Menschen und seiner Scham. Der Erhabene selber „machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit“. Dieser frühe, ja erste kulturstiftende Akt der Verhüllung machte aus dem Tier Mensch den Menschen Mensch.
Seit diesem Urgeschehen machen Kleider Leute und Leute Kleider, hoch verfeinert in der Haute Couture, der gehobenen Schneiderei, die mit teuersten Materialien oft nur den Reichsten und Schönsten zugänglich ist. Diese posieren auf den großen Unterhaltungs-Laufstegen der Welt und können es sich auch wieder erlauben, zur Neugier der Medien und zum Amüsement des Volkes manchen Hauch Nacktheit frivol durchblitzen zu lassen. Aber auch über die breite Masse herrscht seitdem das Modediktat, dazugehören zu müssen. Die Modezaren, Stylisten, Produzenten, Marketingleute, Warentempel und willigen Vollstrecker der Hochglanzmagazine geben saisonal die Trends vor, woran sich die Masse erfreuen soll. Man/frau kauft und meint, sich einzigartig in dem zu verwirklichen, was alle ähnlich kaufen für das große Schaulaufen von Sehen und Gesehenwerden. Darunter gibt es noch die besonders wagemutigen Selbstdarsteller, die sich auf Bodypainting-Events mit Farbe auf nackter Haut anziehen und zu extravaganten Fantasy-Persönlichkeiten stylen lassen. Tattoos und Piercings als Kleidungsstücke der eigenen Art sind zur Massenware geworden. Sie schmücken Körpergegenden, die entweder nur dem Blick einer intimen Beziehung oder der allgemeinen Beschau freigegeben werden. Jeder und jede will anders sein, wenn er/sie auch nur das ist, was mehr oder weniger alle sind, wobei jeder/jede meint, sich so in seiner/ihrer ersten oder eher zweiten Haut als unverwechselbar existent auszuweisen.
Oft werden Modediktate als solche gar nicht mehr wahrgenommen und mit der Freiheit zur Selbstinszenierung verwechselt. Kollektives Brauchtum und subtiler Gruppenzwang geben vor, wie man/frau zu welchem Fest, zu welcher Party, in welchem Club zu erscheinen hat. In der Dienstleistungsbranche, etwa dem Finanz- und Gerichtswesen, schränken Kleidervorschriften oder Konventionen die persönliche „Kreativität“ ein. In Schwimmbädern war zeitweise die Badekappe auch für Männer Pflicht. Und lange ist es noch nicht her, dass sich Top-Schwimmathletinnen in wenig erotische „Burkinis“, Ganzkörper-Schwimmanzüge, zwängten, um darin schneller zu sein als in herkömmlichen Outfits, sprichwörtlich wie der Fisch im Wasser. Im Streit über die Akzeptanz muslimischer Besonderheiten scheint diese Modewelle vergessen zu sein.
Dirndl hier, Latzhose da
Mode ist allerdings nicht nur dazu da, möglichst viele Menschen gleich zu machen, indem sie in ihnen die Illusion weckt, darin unverwechselbar auszusehen. Gleiche Kleidung sorgt ebenso für Gruppenunterscheidung. Die Uniformen der einen heben sich trotz Ähnlichkeit ab von den Uniformen der anderen. So sind Freund und Feind klar erkennbar, ob im Krieg oder auf dem Fußballplatz. Die völkischen Trachten sorgen für Differenz, teilweise fein abgestimmt, sodass an Frauen zu erkennen ist, wer unverheiratet, wer verlobt, wer verheiratet, wer Witwe ist. Das Standesbewusstsein stiftet Identität. Kleider begründen Gemeinschaft - in Unterscheidung von anderen. Das wird man demnächst bei den Dirndl- und Lederhosenträgern auf der Münchner Wiesn wieder bewundern können.
Bekleidung, die mit dem Gewohnten bricht, will oft nicht nur die Besonderheit des Trägers, der Trägerin unterstreichen, sondern bewusst provozieren, protestieren, Opposition ausdrücken: ob es der Schlabberlook der Hippies war oder das emanzipatorische Tragen von Latzhosen, in denen Frauen gegen den Patriarchalismus aufbegehrten. Gegen weibliche Fesselung befreiten sie sich von Korsett und BH. Joschka Fischer legte als Alternativer im etablierten hessischen Landtag in legendären Turnschuhen den Amtseid als erster grüner Minister der Bundesrepublik Deutschland ab. Männer mit langen Haaren und Frauen mit Kurzhaarschnitt oder Glatze haben sich auf ihre Weise gegen die gesellschaftliche Konvention gestellt. Einst war der Minirock ein aufrührerisches, anstößiges Signal gegen bürgerliche Verklemmtheit und spießige Prüderie. Die Entscheidung muslimischer Frauen, sich in unserem Kulturkreis selbstbewusst gemäß der eigenen Tradition zu verhüllen, markiert wiederum eine Gegenbewegung gegen die überbordende körperliche Schamlosigkeit auf allen Kanälen. Keiner der „Außenstehenden“ kann wirklich von Fall zu Fall beurteilen, was bei Hidschab, Niqab, Burka Unterdrückung ist und was - religiös-moralische - persönliche Überzeugung.
Männer misstrauen Männern
Allerdings ist die Ganzkörperverschleierung von Frauen im islamisch-arabischen Kulturkreis keineswegs - wie unterstellt wird - ein Ausdruck allgemeiner muslimischer Züchtigkeit, Keuschheit, Reinheit, Rechtschaffenheit, also moralischer Überlegenheit. Ganz im Gegenteil handelt es sich dabei um einen Reflex, einen stofflichen Abwehrzauber gegen die aus einer archaischen nomadischen Stammeskultur überlieferte exzessive Sexualisierung der Männergesellschaft. Vor der muss sich die Frau als Frau verstecken, um ihr nicht zum Opfer zu fallen, um bloß nicht die Männerehre der eigenen Familie, des eigenen Clans zu verletzen. Das Verhüllen der Reize in wohlweislicher Kenntnis der männlich-kulturellen Realitäten soll der Übergriffigkeit vorbeugen, bewacht von Ehemann, Brüdern, Onkels, die um die sexuell aufgeladene, unzüchtige Männlichkeitstradition ihrer Kultur sehr genau wissen, weshalb die Männer den - anderen - Männern misstrauen. Diesen grundlegenden Vertrauensverlust muss die Frau per Totalverschleierung ihrer Reize kompensieren.
Nicht zu vergessen ist das Ventil, das auch muslimischen Männern per Doppelmoral ein freizügiges Vergnügen erlaubt, bei Frauen, die nicht als ehrbar gelten. In der orientalischen Kultur gibt es außerdem die Tradition des Bauchtanzes, jene schlängelnde, verführerische Bewegung vor Männeraugen, die vieles erahnen lässt, ohne es sichtbar zu machen. Eine Anspielung auf diese Tanzform mit Schleier findet sich in der Bibel, im Markus- und im Matthäusevangelium, in der Erzählung vom erotischen Auftritt der Tochter der Herodias in einer Männer-Honoratiorenrunde, der die Enthauptung Johannes' des Täufers folgt. Die arabische Zivilisation hat das tänzerische Spielen mit der Sinnlichkeit zwischen enthüllender Verschleierung und verschleiernder Enthüllung vor Männeraugen - und keineswegs zur weiblichen Selbstverwirklichung und selbstbewussten Eigen-Körperwahrnehmung, wie westliche Bauchtänzerinnen und Kursleiter(innen) naiv propagandistisch meinen - bis zur Perfektion kultiviert. Dagegen ist Striptease, dessen Reiz ebenfalls im Wechselspiel von Verhüllen und Enthüllen liegt und nicht im ernüchternden „Ergebnis“ der puren Nacktheit, nur ein blasser Abglanz der Raffinesse arabischer Erotik und Exotik. Ein dauernackt in der Öffentlichkeit posierendes Sex-Model wie Micaela Schäfer hat dagegen überhaupt nichts reizvoll „Anziehendes“ mehr.
Der zerrissene Vorhang
Der verhüllte Mensch wahrt vor anderen sein Gesicht, sein Geheimnis. Der nackte Mensch gerät in der intimen lustvollen sexuellen Zweierbeziehung ekstatisch außer sich, pflanzt sich darin fruchtbar fort: Diese Spannung macht das am meisten Faszinierende und zugleich am stärksten Mysteriöse des Menschseins aus. Der Homo sapiens verbirgt sich in seiner Verletzlichkeit schützend vor anderen mit Hilfe seiner „Verkleidung“. Im Schutz der Geborgenheit und in der Polarität sexueller Zweisamkeit überwinden Mann und Frau realsymbolisch die Endlichkeit ihrer leiblich-sterblichen Existenz, indem sie in der Freude ihrer körperlichen Liebe neues Leben kreieren, Nachkommen zeugen - gegen den unabwendbaren Tod.
Das Wechselspiel von Verhüllen und Offenbaren als Grundzug menschlichen Lebens reicht daher auch an die Sphäre des größten Geheimnisses, des höchsten Schöpferischen, des Sakralen, Heiligen, Göttlichen heran. Zum Beispiel gab es im Jerusalemer Tempel ebenfalls das schützend Verhüllende: einen ersten Vorhang, der das Äußere, Profane, vom Inneren, Heiligen, abgrenzte. Dahinter einen zweiten Vorhang, der das Allerheiligste der Bundeslade nochmals abtrennte vom Raum der üblichen kultischen Handlung. Nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, schritt der Hohepriester - allein und abgeschirmt - hinter den Vorhang, um unmittelbar vor dem Geheimnis des allerheiligsten Gottes stellvertretend für das Volk zu opfern und von Gott Vergebung der Sünden zu empfangen. In der Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu erwähnen die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas, dass der Vorhang des Tempels zerriss. Im Opfertod Jesu, des Gottes- und Menschensohnes, geschieht und offenbart sich die große Versöhnung zwischen Gott und Mensch. Gott ist groß. Jenseits der „Geheimsache Tempel“ wird Gottes Rettungswille und Rettungstat vor aller Augen sichtbar.
Das kultische Verhüllen der Kreuze in der Fastenzeit, das in die Enthüllung der Passionsliturgie mündet, gibt den Blick frei auf jenen, „den sie durchbohrt haben“. Mehr noch öffnet dieser Akt den inneren Blick auf das, was menschliche Existenz zwischen Leiden und Erlösungssehnsucht ausmacht.
Der Verhüllungskünstler Christo hat ähnlich die Menschen zu neuem Sehen angeregt, zu einem, das nicht einfach sieht, was ist, sondern das ahnend sieht, was nicht zu sehen ist, aber dennoch ist. Mit dem Akt der Enthüllung sieht der Mensch das, was er einmal zu sehen und zu kennen glaubte, völlig neu, nicht nur in einem anderen Licht. So waren viele berührt, die in Scharen zur Verhüllung des Reichtags und später zu seiner Enthüllung nach Berlin pilgerten, um das Gewohnte anders zu sehen und tiefer zu verstehen: wie Macht und Ohnmacht - beide zugespitzt politisch repräsentiert - unser Dasein bestimmen, in Abhängigkeit von Mächten und Gewalten, ja einer Macht, die jenseits - transzendent - unseres Machens liegt.
Das nackte Wesen Mensch
Kleidung ist in allen Kulturen ein Vorhang, so wie Hidschab nichts anderes als Vorhang bedeutet und Niqab vom Wortstamm her Bezug nimmt auf das Bohren eines Loches, hier auf den Augenschlitz. Das Verhüllende von Bekleidung verweist stets auf das unantastbare Geheimnis des Menschen, auf das Entzogene, nicht Greifbare, niemals endgültig Durchschaubare jedweder Person. Der Mensch ist sich selbst ein Geheimnis. Wie er dies kleidungsmäßig vor sich und vor anderen symbolisieren kann, das hängt von kulturellen, religiösen, profanen Überlieferungen ab. Die aber wandeln sich, manchmal sehr langsam, manchmal rasant. Trotz aller Aufklärung bleibt der Mensch im Tiefsten das unbekannte, nackte, verletzliche Wesen. Mitsamt seiner Sexualität und fruchtbaren Kraft, die daraus erwächst, ist und bleibt er das große Tabu aller Kulturen. Und das ist auch gut so. Selbst die inzwischen inflationären, konventionellen sexuellen Tabubrüche auf der Bühne, im Film und in der Öffentlichkeit, ja gerade sie, bestätigen letztlich das Tabu und den wahren Sinn der Menschen für das Tabu, sonst hätten sie ja keine stets provozierende und voyeuristische Wirkung, wären langweilig und somit obsolet.
Kleider und Kleidungsbräuche mögen sich ändern, die Scham bleibt - nicht, um sich um des Schämens willen zu schämen, sondern um das Geheimnis zu wahren, das jedes Menschsein einzigartig umgibt, ob das der Frau oder das des Mannes. Daher sollte auch in kritischen Phasen der Menschheitsgeschichte und der kulturellen Konfrontation nicht vergessen werden, wem die Kleidung - welcher Art auch immer - letztlich dient: dem Selbstschutz, dem Personenschutz, der Würde der individuellen Person, seiner innersten Freiheit.
Kleider machen Christen
Womit soll sich der Mensch bekleiden, welche Kleidung soll er ablegen? Der Kolosserbrief gibt allen, die, angeregt vom Christusereignis, ihren Blick auf das Himmlische richten, einen schlichten Rat: „Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht … Früher seid auch ihr darin gefangen gewesen und habt euer Leben davon beherrschen lassen. Jetzt aber sollt ihr das alles ablegen: Zorn, Wut und Bosheit; auch Lästerungen und Zoten sollen nicht mehr über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden … Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allen. Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“
Kleider machen Leute. Kleider machen auch Christen. Es sind vor allem geistige Kleider, von denen die öffentliche Kleiderordnung selten spricht. Im Kleiderstreit über Verhüllen und Enthüllen könnte auch einmal an diese vergessenen Kleider, die wesentlichen, erinnert werden. Sie sind großen Teilen unserer Zivilisation inzwischen ebenso fremd wie Hidschab, Niqab oder Burka, vielleicht sogar noch fremder.