Das „Philosophie Magazin“ hat auf Weihnachten hin die Familie entdeckt: „Zuflucht oder Zumutung?“ fragt das aktuelle Heft. Darin äußert sich die Philosophin Barbara Bleisch zum Eltern-Kinder-Verhältnis und vertritt die Ansicht, dass Töchter und Söhne ihren Vätern und Müttern „nichts schulden“, weder Dankbarkeit noch Fürsorge, auch nicht im Alter. Ein hartes Urteil! Zwar bestehe, wie Bleisch einräumt, zwischen den engsten Angehörigen einer Familie eine „wahre Verbindung“, die weit über das Freundschaftliche hinausgeht. Doch diese leitet sich bestenfalls von der „genetischen Abstammung“ her und sei vor allem eine „juristische Zuschreibung“. Mehr nicht. Schon gar nicht ergebe sich aus der verwandtschaftlichen Bindung eine lebenslange Pflicht, sich umeinander zu kümmern.
Damit stellt die Autorin eine durch die jüdisch-christliche Prägung weiter Kulturkreise verinnerlichte humanistische Haltung infrage, die in den Zehn Geboten formuliert ist: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ (vgl. Ex 20,12). Dieses vierte Gebot ist im Bewusstsein ersetzt vom Recht auf und der Pflicht zur Selbstverwirklichung, Autonomie: dass jeder Mensch ein unabhängiges Individuum sei. Barbara Bleisch weist zudem darauf hin, dass es derart unglückliche, ja tragische Eltern-Kind-Beziehungen gibt, dass die Kinder überhaupt keine Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern empfinden können.
So sehr man sozialpsychologisch und psychotherapeutisch diese Einstellung bestätigt finden mag, so sehr wird sie fragwürdig, wenn in einer Familie jemand pflegebedürftig wird. Jetzt tritt der Ernstfall ein, an den die meisten Betroffenen bis dahin lieber nicht denken wollten. Was passiert mit dem Kranken? Wer kümmert sich um ihn? Muss Mutter oder Vater gleich ins Pflegeheim? Wer hat das zu bezahlen? Und was hat das mit mir zu tun? Solche existenziellen Fragen stellen sich mit aller Härte, zumal Gesundheit zu den Heiligtümern schlechthin gerechnet wird.
An den Fakten lässt sich allerdings erkennen, dass die Sorge um die alten Eltern und Großeltern weiterhin die meisten Kinder und Enkelkinder beschäftigt. Derzeit gibt es im Land 2,8 Millionen Menschen, die bislang als Leistungsempfänger der Pflegeversicherung registriert sind. Laut der bisher letztgültigen Statistik von 2013 werden mehr als zwei Drittel von ihnen, rund 1,8 Millionen, zu Hause versorgt, überwiegend von Töchtern, Schwiegertöchtern und Enkelinnen, oft mit Unterstützung ambulanter Pflegedienste. Das andere Drittel wird in Alten- und Pflegeheimen betreut. Doch die Verhältnisse werden sich, glaubt man den Fachleuten, in den nächsten zehn Jahren dramatisch ändern.
Wenn man aber nicht fit ist?
Die Freiburger Sozialarbeiterin Anne Helmer hat in der Zeitschrift „Diakonia“ (November) einen Ausblick auf die deutschen Verhältnisse gegeben. Demnach werden hier ab 2020 die ersten Menschen der starken Geburtenjahrgänge zwischen 1960 und 1970 das Rentenalter erreichen. „In der Folge wird wahrscheinlich nicht nur der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung, sondern auch der Anteil hochaltriger Menschen über 85 Jahre bis zum Jahr 2050 auf mehr als zehn Millionen ansteigen.“
Öffentlich wird - insbesondere durch die Werbeindustrie - der fitte, aktive, gesunde Alte inszeniert. Er nimmt am gesellschaftlichen Leben teil, wenn er sich nur auf die Heilsversprechen der Pharmakonzerne sowie der Tourismusbranche einlässt. Alles andere wird möglichst ausgeblendet: dass der alte Mensch eben alt ist, gebrechlich wird an Körper und Geist - und dass das die Regel und nicht die Ausnahme ist. Der Wiener Theologe Paul M. Zulehner sprach diese Realität als „die enge Welt des Kranken“ an. „Die Aufmerksamkeit ist nicht mehr auf die schöne weite Welt gerichtet, sondern wendet sich auf sich selbst zurück … In dieser engen und daher angstgefärbten Welt machen sich Sorgen breit, vor allem, wenn es eine schwerere Krankheit ist mit vielleicht ungewissem … Ausgang“, bis hin zum Tod. Wer hilft mir, wenn ich nicht mehr kann? Wer steht mir seelisch bei?
Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat in einem Gedicht von der „B-Seite des Daseins“ gesprochen: „Und dann ist auf einmal alles ohne Reiz / Die Welt ist noch da, voll diverser Gegenstände / Von mittlerem Interesse, flüchtig sind sie und vergänglich / Stumpfes Licht fällt vom abstrakten Himmel. // Das ist die B-Seite des Daseins“. Das „B“ spielt auf die früheren Single-Vinyl-Platten an, die auf der A-Seite den Hit präsentierten und die B-Seite mit weniger Beliebtem füllten. Läuft also alles auf „B“ hinaus?
Die 85-jährige Martha S. (Name der Redaktion bekannt) aus Süddeutschland lebt seit drei Jahren in einem Pflegeheim. Die gebürtige Schlesierin ist unverheiratet und hat keine Kinder. Als Flüchtling fasste sie nach dem Krieg in einer Großstadt Fuß. Sie fand eine berufliche Tätigkeit in der Buchbranche, pflegte rege freundschaftliche Kontakte, engagierte sich im Vereinsleben und in einem Chor. Alles lief normal - bis zwei schwere Erkrankungen den Lebensradius in kürzester Zeit massiv einschränkten.
Ein Neffe, mit dem sie seit Kindheit eine gute Beziehung pflegt, kümmerte sich umgehend um die Anerkennung einer Pflegestufe. Er organisierte die tägliche Unterstützung bei der Sozialstation der örtlichen Caritas, übernahm auch die Aufgabe des gesetzlichen Betreuers. Schließlich konnte Martha S. nicht mehr selbstständig alleine zu Hause bleiben. Sie wohnt jetzt in einem kirchlich geführten Pflegeheim in der Nachbarschaft des Neffen.
Zu viert: aber kaum einer spricht
Martha S. hat ein helles Zimmer mit etwa 25 Quadratmetern und eine angeschlossene geräumige Dusche mit Toilette. Da sie keine Kinder hat, übernimmt die Sozialhilfe die finanzielle Lücke zwischen Rente, Pflegegeld und Heimkosten. Monatlich bleibt ihr von der Sozialhilfe ein Taschengeld von etwas mehr als hundert Euro. Es ist tragisch zu sehen, wie eine Frau, die ihr Leben lang gearbeitet und in die Sozialversicherung eingezahlt hat, am verdienten Lebensabend kaum das Geld hat, um sich einen Friseur oder die Fußpflege zu leisten.
„Am schlimmsten aber ist, dass wir immer mehr Mitbewohner bekommen, die dement oder aufgrund von Medikamenten teilnahmslos sind“, antwortet Martha S. auf die Frage, ob ihr etwas fehlt. Dadurch werde nicht nur die wörtliche Kommunikation immer schwieriger. „Wenn wir beim Essen zu viert am Tisch sitzen, spricht kaum einer.“ Das Angebot der Seelsorge, die im Heim (noch) von der örtlichen Seelsorgeeinheit gewährleistet wird, wurde zurückgefahren, auch weil es immer weniger Priester und Theologen gibt, die dies leisten könnten. Dennoch: Wenn im Pflegeheim in der eigens dafür vorgesehenen Kapelle Eucharistie gefeiert wird, geht Martha S. gern hin. Die Katholikin nimmt ebenso am evangelischen Predigtgottesdienst teil. Es ist, wie sie sagt, eines der „sinnvollen Tagesereignisse“ in der an Abwechslung nicht gerade reichen Pflegeheim-Realität.
Die Ideologie der Vorsorge
Eine in einem anderen Pflegeheim lebende CIG-Leserin beklagte, dass die Bewohner zu „Pflegeprodukten“ herabgewertet würden. Sie vermisse den Respekt. In der Einrichtung gebe man sich fast vollständig auf und müsse sich dem fügen, dass man sich nicht mehr selber versorgen kann. Auf der Suche nach Hilfe begibt man sich mit Vertrauen in andere Hände. Und weiß sich womöglich nicht aufgehoben, fühlt sich vielleicht sogar ausgeliefert: eben als „Pflegeprodukt“.
Die Nachfrage nach professioneller Pflege ist groß und wird ständig größer, aber es mangelt an gut ausgebildeten Kräften allüberall. Laut Anne Helmer werden in den nächsten fünfzehn Jahren mindestens 140000 zusätzliche professionell ausgebildete Kräfte benötigt. Dabei handelt es sich um eine „vorsichtige Schätzung“. Zwar ist politisch immer die Rede davon, dass Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe der pflegebedürftigen Menschen gewährleistet sein sollen, doch die Wucht der tatsächlichen Entwicklung spricht eine andere Sprache. Viele Heime können zum Beispiel den Bedarf an Pflegekräften lediglich mit ausländischen Bewerbern und Leiharbeitern decken, die zum Beispiel an Wochenenden einspringen. Das Sprachenproblem ist nicht zu unterschätzen, auch, dass bei bloß zeitweiliger Betreuung die Pflegenden die Gepflegten kaum kennen, wenig um ihre - nicht nur medizinischen - Bedürfnisse wissen. Ein anderes Problem ist die extrem schlechte Bezahlung. Mit dem Gehalt lässt sich kaum eine Familie finanzieren. Ein echter Skandal!
Der Gesetzgeber hat zwar mit dem neuen Pflegestärkungsgesetz, das ab Januar in Kraft tritt, die ambulante Pflege besonders der Schwächsten begünstigt. Menschen mit Demenz sowie deren Angehörige erhalten größere - auch finanzielle - Unterstützung. Aber das Problem des Personalmangels bleibt. Und der physische wie psychische Druck auf die Pflegerinnen und Pfleger ist unvermindert hoch. Viele beklagen, dass sie nicht vernünftig Zeit haben, um sich neben der Pflege auch zwischenmenschlich mit den Heimbewohnern zu befassen.
Das war auch auf einem großen Kongress zu vernehmen, zu dem zehn verschiedene baden-württembergische Organisationen, darunter die Caritas, die Diakonie und zwei kirchliche Akademien, nach Stuttgart eingeladen hatten. Es ging für die rund 500 in der Pflege Tätigen um die Kultur der Hospizbewegung und darum, was man für die Pflege davon lernen kann. Gerda Graf, eine der Initiatorinnen der Hospizidee in Deutschland, ordnete die Hospizbewegung als „Bürgerbewegung“ ein. „Unser Einsatz widmete sich der Idee, dass aus einer ökonomisch bestimmten Kultur eine ‚Sorge-Kultur‘ wird.“ Mittlerweile hat sich die Hospizidee mit der Palliativmedizin verbunden. Der Arzt hilft dem Menschen im Sterbeprozess, weitgehend ohne Schmerzen zu sein. Das Wort stammt ab vom lateinischen pallium, was Mantel und Schild bedeuten kann, also Hülle und Abwehr.
Andreas Heller, Leiter des Instituts für Palliative Care und Organisationsethik in Wien, beklagte, dass europaweit Sorge fast nur noch als Vorsorge verstanden wird. Die Menschen werden angehalten, ihre Zukunft medizinisch-gesundheitlich vorzuplanen. So werden Absprachen über Medikamente, Maschinen, Ärzte getroffen. Fachleute sprechen von Advanced care planning. Was aber, wenn Vorsorge nicht mehr möglich ist? „Am Anfang war die Sorge“, erklärte Heller, „und am Ende auch.“
Dann stellen sich auch religiöse und spirituelle Fragen, die ins Gespräch gebracht werden müssen, existenziell, mitfühlend, empathisch. Heller verwies auf den barmherzigen Samariter in der Bibel. Dieser habe erkannt, dass Mitsorge bedeutet, sich in die Gefühlswelt des Leidenden hineinzuversetzen. Dagegen steht ein „Lehrsatz“ der Pflegelehrer: dass es professionell sei, „gefühlszurückhaltend“ zu bleiben. Das mag womöglich dem Selbstschutz, der seelischen Gesundheit der Pflegenden dienen. Was aber dient dem Pflegebedürftigen? Wer kann ihn trösten, auch mit dem, was religiös Trost geben kann? Eine professionelle Distanzierung vom Leiden, Hoffen und Trauern ist für Heller eine Sackgasse.
Damit die A-Seite nachhallt
Die Medizinerin Marion Daun, Leiterin einer Krankenhaus-Palliativstation in Stuttgart, berichtete, ein junger Stationsarzt habe sie eines Tages um Rat gebeten. Er habe einen Patienten, mit dem er nichts anzufangen wisse. Daun wies ihn darauf hin, dass dieser Patient im Sterben liege. „Ich sah Angst im Gesicht des Arztes. Er schwieg. Dann erklärte er mir, dass er noch niemals einem Sterbenden begegnet sei, auch nicht in seiner Ausbildung.“
Pflege wird hierzulande vielfach als bloßes Regelungs- und Organisationsproblem thematisiert. In die Thematik mischt sich auch viel Hilflosigkeit und Scheu. In dem Maß, in dem die spirituell-existenzielle Betroffenheit des Mitleidens aufgrund der religiösen Erosion auch bei den Pflegekräften an Bedeutung verliert, wächst aber die Distanz zwischen Mensch und Mensch und mündet in Isolation, Depression, Einsamkeit. Das aber bleibt die große Frage aller Pflege: Wer steht den Menschen bei, dass auf der B-Seite des Daseins der Klang der A-Seite nachhallen kann, der Klang der Hoffnung, die religiös auch dann noch Grund findet, wenn jeder sonstige Grund wegbricht?