In God we trust - wir vertrauen auf Gott. So lautet der Satz, den der Kongress 1956 zum nationalen Wahlspruch der Vereinigten Staaten gemacht hat. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war er bereits auf einige Münzen geprägt worden, inzwischen steht er auf jeder Dollarnote. Ebenso präsent ist die Segensformel: God bless America! - Gott segne Amerika. Beinahe jede Rede endet damit. Auch Papst Benedikt XVI. schloss seine Begrüßungsrede im Weißen Haus, als er 2008 Präsident George W. Bush besuchte, mit God bless America!, bevor das Bürgerkriegslied erklang: Glory, glory, Hallelujah. Seit die USA 1776 ihre Unabhängigkeit erklärt haben, sind sie ein durch und durch religiöses Land. Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton prägte den Satz: Amerika, „die Nation mit der Seele einer Kirche“.
Heute ist das anders. Ganz untypisch spielt Religion im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf keine Rolle mehr. Erstaunlich, hat das Prinzip von Staatsgründer George Washington, „dass Religion und Moral eine unabkömmliche Grundlage für politisches Gedeihen sind“, die Nation doch jahrhundertelang zusammengehalten. Doch der Common sense scheint aufgekündigt. Betrachtet man die Ausfälle des republikanischen Kandidaten Donald Trump, der durch Rassismus, Sexismus, Narzissmus und einen lockeren Umgang mit der Wahrheit auffällt, so wird klar, dass es mit der Moral nicht mehr weit her ist. Und auch seine demokratische Konkurrentin Hillary Clinton hat mitsamt ihrem Ehemann, dem Expräsidenten Bill, ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem. Viele halten sie für unzuverlässig und korrupt.
„Trump und Clinton sind die beiden unbeliebtesten Präsidentschaftskandidaten aller Zeiten“, sagte Thomas C. Kohler bei einer Podiumsdiskussion der Universität Freiburg wenige Tage vor der Wahl am 8. November. Der Jura- und Philosophieprofessor aus Boston war sich mit seinem Gesprächspartner Michael Hochgeschwender vom Amerika-Institut der Universität München einig, dass dieser Wahlkampf ein „Wendepunkt“ ist. Der These des Bostoner Kollegen, dass die USA heute gar eine „nachchristliche Gesellschaft“ sind, stimmte der Münchner allerdings nur eingeschränkt zu.
Doch der Wandel ist offensichtlich. Der derzeitige Wahlkampf ist Ausdruck eines fundamentalen Umbruchs in der Gesellschaft, der sich auch in den beiden großen Parteien und in den Kirchen widerspiegelt.
Tief gespalten
Dass die amerikanische Gesellschaft heute tief gespalten ist, zeigen die Polizeigewalt, vor allem Weißer gegen Schwarze, und die immer wieder aufflackernden Rassenunruhen. Das Bild vom Schmelztiegel Amerika, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft aufgehen und eine neue gemeinsame Kultur bilden, trügt, erläuterte der inzwischen gestorbene Politikwissenschaftler Peter Lösche einst. „In Wirklichkeit gleicht die US-amerikanische Nation einem bunten Flickenteppich, in dem die einzelnen Bestandteile sehr wohl erkennbar bleiben.“ Die amerikanische Gesellschaft war von Anfang an sehr heterogen. Die Einwanderer verschiedener ethnischer Gruppen blieben meist unter sich, in ihrer kulturell homogenen Nachbarschaft. Ein gemeinsames Solidaritätsgefühl konnte so kaum entstehen.
Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit wurde erst durch die „amerikanische Ideologie“ geschaffen, deren wesentliches Merkmal die Civil religion ist. Das heißt die von den Kirchen unabhängige, tief verankerte religiöse Haltung, die sich im Verantwortungsgefühl für den eigenen Erfolg äußert, der als Zeichen eines gottgefälligen Lebens interpretiert wird. Für den französischen Staatstheoretiker Alexis de Tocqueville war diese Form der Religiosität für die amerikanische Union bedeutender als die Verfassung.
Zur „amerikanischen Ideologie“ gehören auch der Traum vom sozialen Aufstieg sowie die Verehrung der Gründungsväter. „Aber auch Symbole und Rituale, nationale Denkmäler und die Verpflichtung auf die Nationalflagge fügen sich zu einem besonderen Gemisch aus Politik, Religion und Moralismus“, so Lösche.
Diese gesellschaftliche Klammer löst sich heute, die geteilten Werte werden weniger. Mit der Zuwanderung, vor allem aus Lateinamerika, geht die Vormachtstellung der „weißen angelsächsischen Protestanten“ verloren. Die soziale Kluft wird immer größer. Das Durchschnittseinkommen der Mittelschicht ist inzwischen wieder auf dem Niveau von 1999 angelangt - „eine ziemliche Katastrophe“, so Kohler. Die Folge: „Die Amerikaner haben das Vertrauen in ihre Institutionen verloren.“
Der amerikanische Traum scheint heute für viele unerreichbar fern. Sie sind die Unzufriedenen, die sich vor allem nach Stabilität sehnen. Die verspricht ihnen Trump. Hillary Clinton, mit ihrer politischen Erfahrung und einem Programm des Bewahrens der bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, spricht diese Menschen nicht an. Bis heute prägt die Amerikaner ein Misstrauen gegen jede Art von Machtanhäufung, sei es beim Staat oder in der Kirche. Bewusst hatten sich die Gründungsväter einst dafür entschieden, die politische Macht aufzuteilen, auch in Abgrenzung zum europäischen Absolutismus, vor dem viele der ersten Siedler geflohen waren.
Gegen das Establishment
Von Anfang an haben sie daher auch mit antiklerikaler Haltung ihr kirchliches Leben dezentral in den einzelnen Gemeinden organisiert. Das hat sich in der Abneigung gegen Zentralen und das „Establishment“, vor allem das in Washington, gehalten. Für Präsidenten kann es daher von Vorteil sein, politisch unerfahren anzutreten - eine Paraderolle für Trump, die Hillary Clinton so nicht spielen kann.
Angesichts der großen Anti-Establishment-Stimmung haben es auch die Parteien schwer. Sowohl die Demokraten als auch die Republikanische Partei stehen am Abgrund. Bei den Republikanern herrscht laut Kohler „Bürgerkrieg“. Der innerparteiliche Aufstand gegen Trump werde jedoch nur von der Partei-Elite geprobt. Die Basis sei mit Trump durchaus einverstanden. Über den Tag der Wahl hinaus herrsche allerdings Orientierungslosigkeit. Die Zeit eines ungeregelten, ökonomischen Liberalismus, der in die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten geführt hat, sei vorbei. Was kommt, ist unklar. Das Schicksal der Grand Old Party, der Republikaner, sieht Kohler so gut wie besiegelt: „Vielleicht zerfällt sie zu Asche.“ Neue Parteien stehen schon bereit, ihren Platz einzunehmen: die Grünen, die Libertären und die Verfassungspartei.
Doch auch die Demokraten haben Probleme: Ihnen fehlt die Unterstützung der jungen Wähler. Ausgerechnet die „Millenials“, das heißt die Generation, die zwischen 1980 und 1999 geboren wurde, waren überwiegend für den sozialistisch ausgerichteten Demokraten Bernie Sanders, den ältesten der Präsidentschaftskandidaten, der gewissermaßen die Anti-Establishment-Bewegung von links verkörperte. Sie vertrauen nach dessen Ausscheiden im Vorwahlkampf nun eher Trump als Clinton. In ihm sehen sie jemanden, der ihnen die ersehnte sichere Zukunft garantiert.
Das Schweigen der Kirchen
Mit den Umbrüchen in der Gesellschaft verändert sich auch die religiöse Landschaft in den USA. Wie fast überall bekennt sich eine wachsende Zahl von Menschen - vor allem die unter Dreißigjährigen - zu gar keinem Glauben mehr. Untersuchungen des Washingtoner Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center haben ergeben, dass die religiöse Homogenität verloren geht. Immer mehr Amerikaner wachsen in gemischt-religiösen Haushalten auf. Neun Prozent gaben an, ihre Eltern gehörten unterschiedlichen Konfessionen oder gar unterschiedlichen Religionen an. Zwölf Prozent sagten, nur ein Elternteil sei religiös, das andere dagegen Atheist oder Agnostiker.
Gründe für die Abkehr der Menschen von den Kirchen gebe es viele, erklärte Hochgeschwender auf dem Freiburger Podium. Die Menschen beschäftige vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage. Dazu schwiegen die Kirchen, wie zu den meisten gesellschaftlich relevanten Debatten. Kohler beklagte in dem Zusammenhang, dass sich die Bischöfe zu dem wichtigen Thema der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit nie geäußert hätten. Und Hochgeschwender diagnostizierte einen „intellektuellen Ausdünnungsprozess“. In der Tat: In den vergangenen dreißig Jahren hat die amerikanische katholische Bischofskonferenz keinen relevanten Hirtenbrief mehr veröffentlicht. Seit Mitte der achtziger Jahre herrscht „absolute Finsternis“, so Hochgeschwender. Dazu kommt, dass der sexuelle Missbrauch Minderjähriger durch Priester die katholische Kirche schwer geschädigt hat.
Am aktuellen Wahlkampf wird deutlich: Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben sich in God’s own Country ins Abseits manövriert. Dies mag der Grund dafür sein, warum weder Hillary Clinton noch Donald Trump öffentlich einen Bezug zu einer Glaubensgemeinschaft erkennen lassen. Der US-Protestantismus ist in viele evangelikale Gruppen zersplittert, die keine gemeinsame Basis haben außer den Kampf gegen Abtreibung (Pro life). Statt einen anspruchsvollen, zeitgemäßen theologischen Diskurs zu führen, eint sie der leidenschaftliche Wille, betont emotional-charismatisch zu glauben, die angeblich persönliche Beziehung zu Jesus und das pathetische Erleben einer wie auch immer gearteten Gotteserfahrung.
Dabei polarisiert das Thema Abtreibung weit mehr als die Todesstrafe. So sehr, dass die Wähler ihre Entscheidung häufig nur an diesem Thema festmachen - über konfessionelle und parteipolitische Grenzen hinweg. Als Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation hatte Joseph Ratzinger im Wahlkampf 2004 den republikanischen Methodisten George W. Bush unterstützt, der für ein Abtreibungsverbot war, und nicht den demokratischen Katholiken John Kerry, der sich - wie Hillary Clinton und Barack Obama später - für das Entscheidungsrecht der Frau ausgesprochen hatte. Der spätere Benedikt XVI. legte damals den amerikanischen Bischöfen nahe, sie sollten katholischen Kandidaten, die fortwährend für die Möglichkeit zur Abtreibung eintreten, die Kommunion verweigern. Rom hatte damals durchaus Einfluss auf den Wahlausgang in den USA. Mehr als zehn Jahre später ist die katholische Kirche zu geschwächt, um derartige Offensiven zu wagen.
Obwohl beide Konfessionen gesellschaftlich eine untergeordnete Rolle spielen, versuchen die Kandidaten, bei den Frommen so viel zu fischen, wie sie können. Bereits im Vorwahlkampf warb Trump um die Unterstützung rechtskonservativer Christen. Nicht von ungefähr: Die Evangelikalen sind traditionell dem republikanischen Lager zugeneigt.
In New York sprach er vor rund tausend evangelikalen Pastoren und versicherte, er habe einen starken Glauben. Angesichts seines Auftretens fragt man sich freilich, ob er nur den Glauben an sich selbst meinte. Eine Zeit lang stellte er ein Konfirmationsfoto auf seine Internetseite. Vor rund einem Jahr ließ er sich von evangelikalen Geistlichen segnen, unter anderem von der Fernsehpredigerin Paula White. Nach ihrer Lehre verspricht Gott ein Leben im Überfluss - eine Botschaft wie auf den luxusverwöhnten Trump zugeschnitten. Trump, der im Wahlkampf fast nur auf die beiden Themen Wirtschaft und Sicherheit setzt, wird als „furchtloser Führer“ gesehen, der es mit „unseren Feinden und den radikalen islamischen Terroristen“ aufnehmen wird. So lobte ihn Jerry Falwell, Präsident der evangelikalen Liberty University.
In Orlando, Florida, versuchte Trump in diesem Sommer, den dort versammelten Predigern Hoffnung zu machen. In der Bastion der christlichen Rechten versprach er ihnen, er werde die Kirche wieder zu dem machen, was sie einmal war. „Ihr habt eure Stimme verloren“, beklagte er den schwindenden politischen Einfluss der Pastoren. Sie würden von der Regierung daran gehindert, von der Kanzel zu sagen, was sie wollten. „Wir werden euch eure Stimmen zurückgeben“, verkündete er. Trump versprach, den drohenden Verlust ihrer Steuerbefreiung zu verhindern, wenn sie in ihren Kirchen Partei-Wahlwerbung machen oder gar eine Wahlempfehlung abgeben. Dafür erntete er von den Predigern tosenden Beifall.
Trump hatte anfangs bei den Evangelikalen einen schweren Stand: Er ist zum dritten Mal verheiratet, und er gründete Spielkasinos. Um in der religiösen Welt Fuß zu fassen, war es nicht hilfreich mitzuteilen, er gehe gelegentlich in die Kirche und esse dort seinen „kleinen Keks“. Auch Trumps Manieren kommen schlecht an. Der Prediger Max Lucado, Autor zahlreicher christlicher Bestseller, kritisierte, Trump verstoße gegen den Anstand, wenn er seine Gegner als „dumm“ und „Verlierer“ beschimpfe. Auch Trumps frauenfeindliche Äußerungen sorgten immer wieder für Kritik evangelikaler Führer.
Weder Trump noch Clinton
Dass Trump selbst bei einem Teil der sehr konservativen, religiös geprägten Wählerklientel keine großen Sympathien weckt, zeigt ein Blick auf den kleinen Bundesstaat Utah. In der republikanischen Hochburg hat seit mehr als fünfzig Jahren kein Demokrat mehr gewonnen. Mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung sind Mormonen. Mit Donald Trump, der Muslime aussperren und „Illegale“ abschieben will, können sie nicht viel anfangen. Religionsfreiheit und die Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen, stecken tief im Bewusstsein der Mormonen. Sie erinnern sich noch an ihre eigene Flucht und Vertreibung aus dem Osten der USA bis hin nach Utah. „Mein Staat besteht aus Menschen, die einer religiösen Minderheitenkirche angehören“, zitiert die „New York Times“ den Trump-Kritiker und Senator von Utah Mike Lee. In den Anfangsjahren gab es blutige Ausschreitungen gegen die 1830 gegründete Mormonenkirche. Utahs Gouverneur, Gary Herbert, hat sich auch dafür ausgesprochen, syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Mormonen wissen, was es heißt, wegen ihres Glaubens diskriminiert zu werden, erklärte er.
Persönliche Gründe kommen hinzu. Die Mormonen gelten als sehr familienorientiert, Sex vor der Ehe ist tabu. Donald Trump hingegen ist nicht nur zum dritten Mal verheiratet, sondern hat auch noch mit seinen Frauengeschichten geprahlt. Das Problem von Hillary Clinton: Sie kann von der Abneigung gegen Trump nicht profitieren. Zwar stimmen viele Frauen ihrem Programm eigentlich zu, doch mögen sie die Demokratische Partei nicht. Es gibt Wahlumfragen, die mittlerweile davon ausgehen, dass weder Clinton noch Trump die sechs Wahlmänner des Bundesstaates Utah bekommen. Die Emerson College Polling Society hat ermittelt, dass Evan McMullin, ein unabhängiger Kandidat und ehemaliger mormonischer Missionar, die Wahl gewinnen könnte - mit vier Prozentpunkten Vorsprung vor Trump.
Hillary Clinton wird auch andernorts mit dem Großteil der religiös motivierten Wähler nicht warm. Man sollte meinen, sie sei eine Vorzeige-Protestantin: Sie wurde methodistisch erzogen. Ihre Mutter unterrichtete in der Sonntagsschule. Doch Umfragen des Pew Research Center vom Juli zeigen: Weiße Evangelikale und weiße Protestanten würden mehrheitlich für Trump stimmen. Nur 17 Prozent der weißen Evangelikalen seien für Clinton und nur 39 Prozent der Mitglieder der weißen Mainstream-Kirchen, zu denen man Lutheraner, Methodisten und Presbyterianer zählt und die den Kern des Washingtoner Establishments bilden.
Seit Jahrzehnten laufen den Demokraten die weißen Protestanten weg. Das liegt unter anderem am Mitgliederschwund der Kirchen. Die Kirchentreuen sind häufig konservativ. Clintons Ja zum legalisierten Schwangerschaftsabbruch und zur Homo-Ehe sind für sie inakzeptabel.
Clinton versucht ihrem Image einer religiös mangelhaften Kandidatin entgegenzuwirken. Anfang des Jahres äußerte sie sich in der „New York Times“ etwas ausführlicher über ihren Glauben. Das Wichtigste sei, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Dabei gebe es viele verschiedene Wege, seinen Glauben zu zeigen. Gott allein werde richten. Toleranz und Respekt für andere Menschen hätten sie „demütig gemacht in ihrem Glauben“. Es mache sie traurig, wenn das Christentum benutzt werde, um „rasch zu verurteilen und hart zu richten“.
Ihre Berater ließ sie verbreiten, sie trage stets eine Bibel bei sich, sei in einer Gebetsgruppe des Senats aktiv und habe täglich eine gewisse Zeit für Bibellektüre reserviert. Anders sieht es bei schwarzen Protestanten aus. Laut der Pew-Umfrage waren 89 Prozent der afroamerikanischen Protestanten für Clinton. Folgerichtig wendete sie sich im Wahlkampf verstärkt der Black church zu, um die schwarzen evangelikalen Protestanten für sich zu mobilisieren. Um Religion geht es diesen Wählern allerdings nicht, für sie ist Trump einfach keine Alternative.