Weltjugendtag in KrakauDer Jugendkaplan Papst

In der Welt herrscht Krieg, sagte Franziskus auf dem Flug zum Weltjugendtag in Krakau. Er versuchte erneut, die Christen, vor allem die jungen Leute, aus der Lethargie wachzurütteln und für einen barmherzigen Lebensstil in der Kirche zu gewinnen.

Die Kirchengemeinden haben die Jugend verloren - und die mittlere Generation unter Sechzig dazu. Dennoch wecken einige Glaubensevents den Eindruck, die religiöse Welt sei noch in Ordnung. Dazu gehören evangelische Kirchentage und - schon schwächer - Katholikentage, die jährlichen Taizé-Treffen oder die im Drei-Jahres-Rhythmus organisierten katholischen Weltjugendtage. Zuletzt hatten sich in Krakau mehr als eine halbe Million junge Leute versammelt, um zu feiern, zu singen, zu tanzen, zu beten, bischöflichen Unterweisungen zuzuhören und Nachtwache zu halten. Nicht wenige gingen beichten. Vor allem aber wollten sie fröhlich sein, Gleichaltrige aus anderen Weltgegenden treffen, Freundschaften knüpfen. 180 Nationen waren dabei und inszenierten eine Woche lang eine Globalisierung der besonderen Art. Die besondere Anziehungskraft verleiht der Papst diesen Treffen durch seine Anwesenheit. Zum Abschlussgottesdienst mit ihm kamen sogar rund anderthalb Millionen Menschen.

Franziskus I., der auch bei sonstigen Gelegenheiten gern ungeschützt aus dem Stegreif redet, fiel es nicht schwer, die jungen Leute zu gewinnen. Allerdings blieb unklar, ob die meisten wirklich verstanden, was er sagte oder sagen wollte, zumal er sich auf Spanisch und Italienisch beschränkte und die Übersetzer anscheinend manche Mühe hatten, den Sinn zu treffen. Dem Jubel und der Hochstimmung tat das keinen Abbruch, obwohl der Papst durchgehend auch die Leidensthemen der Gegenwart ansprach, wobei er insbesondere zur Gastfreundschaft gegenüber Fremden, Flüchtlingen aufrief. „Solche Mahnungen standen mitunter in irritierendem Kontrast zu den mediengerecht durchgestylten tänzerischen und musikalischen Einlagen der Gottesdienste“, bemerkte die Katholische Nachrichten-Agentur. „Sacropop in sinfonischer Begleitung und aufwendige Inszenierungen hielten den Heiligen Vater aber nicht ab, seine Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes - das Hauptthema des Weltjugendtages - immer wieder einzubringen.“

Vor allem aber wollte Franziskus I. die jungen Leute ermutigen, sich in christlicher Haltung für eine bessere Welt einzusetzen. Die Jugend sei die Zukunft. Diese Botschaft ist zwar nicht neu, sie wird vermutlich schon seit Jahrtausenden verbreitet, aber sie wirkt wie neu auf stets neue junge Leute. Die Glaubensproblematik und Glaubensthematik interessierte den Bischof von Rom in diesem Kontext weniger als seinen Vorgänger Benedikt XVI., so wie er auch ansonsten auf die Fragen der Entmythologisierung und Aufklärung, auf das schwierige Verhältnis von Glauben und Vernunft in einer naturwissenschaftlich-geprägten Welterfahrung und auf den epochalen Glaubensverlust, die längst kulturüberschreitende Säkularisierung kaum eingeht. Franziskus I. versteht sich wieder stärker als „moralischer Papst“, genauer: als ein „sozialmoralischer Papst“, als Lehrer, weniger als Belehrer, als jemand, der großes pädagogisches Verständnis aufbringt für die Schwächen der Menschen, die doch eigentlich das Gute wollen, wenn sie auch oft versagen.

Gegen Schlafmützigkeit

Wenn es um „erste Hilfe“ zum Leben, einen Rat zum guten Leben geht, äußert sich Franziskus I. gern spontan, flapsig, salopp, manchmal in stakkatoartigen, unvollständigen Sätzen und etwas schrägen Bildern. Aber das kommt bei jungen Leuten anscheinend gut an. Zum Beispiel: „Im Leben gibt es eine weitere, noch gefährlichere und oft schwer zu erkennende Lähmung. Ich nenne sie gerne die Lähmung, die aufkommt, wenn man das Glück mit einem Sofa verwechselt. Ja, zu glauben, dass wir, um glücklich zu sein, ein gutes Sofa brauchen. Ein Sofa, das uns hilft, es bequem zu haben, ruhig und ganz sicher zu sein.“ Oder: „Gewiss, für viele ist es einfacher und vorteilhafter, selige und benommene Jugendliche zu haben …“

Der Papst erklärte auch in Krakau, dass ihm aufgeweckte, engagierte, unbequeme, rebellische junge Leute lieber sind, auch gegen manche Schlafmützigkeit und Borniertheit in der Kirche. Macht Unruhe, Krach, Wirbel, Chaos, Durcheinander …: „Hagan lio“, so lautet eine der beliebten Redewendungen dieses Papstes, die er bei seinem ersten Weltjugendtag vor drei Jahren in Rio de Janeiro einführte und seitdem mehrfach wiederholte. Jetzt erklärte er: „Ich möchte niemanden beleidigen, aber es schmerzt mich, wenn ich jungen Menschen begegne, die vorzeitig ‚Pensionierte‘ zu sein scheinen.“ Die Jugendlichen sollten Lärm machen, sich nicht anpassen, kritisch auch gegenüber dem Konsum und der Vergnügungssucht der Gesellschaft. Die Gegenwart brauche junge Menschen mit Mut und „Stiefeln an den Füßen“. „Wenn du nicht dein Bestes gibst, wird die Welt sich nicht verändern. Die Geschichte verlangt heute von uns, dass wir unsere Würde verteidigen und nicht zulassen, dass andere über unsere Zukunft entscheiden.“ Christliches Engagement bedeute, „dem Irrsinn unseres Gottes folgen, der uns lehrt, ihm zu begegnen im Hungrigen, im Durstigen, im Nackten, im Kranken“ wie auch in den Flüchtlingen. Gott sei es, „der uns auffordert, politisch Handelnde, Denker, gesellschaftliche Vorreiter zu sein, der uns anregt, eine solidarischere Wirtschaft zu ersinnen“.

Als Franziskus bemerkte, dass einige Jugendliche, vor allem verliebte junge Pärchen, beim erzbischöflichen Palais, in dem er übernachtete, spät abends noch vor seinem Fenster auf ihn warteten, erkannte er sofort die Situation und sagte: „Wenn man heiratet, dann braucht es Mut. Es ist nicht einfach, eine Familie zu gründen. Es ist nicht einfach, sich zu engagieren, es braucht Mut.“

Am Todesblock 11

Einen betont stillen Gegenakzent setzte Papst Franziskus im einstigen Konzentrationslager Auschwitz. Schweigend und allein ging er den Schotterweg entlang, hielt da und dort, verharrte im Gebet, etwa im Hungerbunker, in dem Pater Maximilian Kolbe starb, der anstelle eines verurteilten Familienvaters „freiwillig“ in den Tod ging. Der Pilger aus Rom küsste den Galgen ähnlich dem Ritual, in dem am Karfreitag Jesus am Kreuz verehrt wird. Der Papst umarmte mehrere Überlebende des Vernichtungslagers, die ihm eine Kerze gaben, mit der er ein Licht vor der Erschießungsmauer am Todesblock 11 entzündete. Ins Besucherbuch der Gedenkstätte schrieb er: „Herr, erbarme dich über dein Volk! Herr, vergib so viel Grausamkeit!“

Der Besuch beim Weltjugendtag war natürlich auch ein Besuch der Nation Polen, mit einem Aufenthalt am Nationalheiligtum Tschenstochau. Der Papst aus Argentinien, der den Populismus nicht scheut und der sich selber in der Volksfrömmigkeit stark verwurzelt sieht, hatte kein Problem damit, sich dem Reliquienkult mit Blutresten von Johannes Paul II. auszusetzen und die besondere polnische Verehrung etwa der Ordensfrau Maria Faustyna Kowalska (1905-1938) zu teilen. Auf deren Visionen soll das strahlenartige, esoterisch wirkende sogenannte „Gnadenbild des Barmherzigen Jesus“ zurückgehen, das in Massenkopien für den Massengeschmack verbreitet ist und inzwischen in zahlreichen Kirchen nicht nur Polens hängt, selbst wenn kunstsinnige Christen sich davon wie von vielerlei kirchlichem Kitsch abgestoßen fühlen. Natürlich war das Bild auch beim jetzigen Papstbesuch überall gegenwärtig. Johannes Paul II. hatte sich von der eigenwilligen Mystik der Schwester Faustyna dahingehend inspirieren lassen, dass er sogar einen „Sonntag zur Göttlichen Barmherzigkeit“, am ersten Sonntag nach Ostern, in den liturgischen Kalender einführte.

Im Krieg auf Raten

Franziskus I. war unterwegs auf den Spuren von Johannes Paul II., dessen Fotos ebenfalls überall hingen, ging allerdings nicht sehr häufig auf seinen Vorvorgänger ein. Beobachtern fiel auf, dass er den Namen des von ihm selbst Heiliggesprochenen nur sparsam erwähnte. In der Johannes-Paul-II.- Gedächtniskirche zitierte er ihn vor dem versammelten Klerus und den Ordensleuten in eigenem Sinn: „Öffnet die Türen!“ Gottgeweihte Personen dürften nicht aus Furcht oder Bequemlichkeit in ihre Kreise eingeschlossen bleiben. Ebensowenig suchten echte Nachfolger Jesu die „schwankenden Podeste weltlicher Mächte“ oder eine „sichere und gut bezahlte Zukunft“. Die Geistlichen sollten täglich aufrichtig Selbstkritik üben. Jesus liebe keine „halb gegangenen Wege“ und „zweigleisiges Leben“. Sein Herz werde aber von denen gewonnen, „die ihre eigenen Schwächen einzugestehen und zu beweinen wissen“. Außerdem sollten die Priester und Ordensleute vor den Leitungspersonen der Kirche nicht heucheln. Ihre erste Aufgabe sei es, „Barmherzigkeit zu verbreiten“. Sie sollten als „Kirche im Aufbruch“ wirken, sich „konkret um die Wunden Jesu“ in den „bedürftigen Brüdern und Schwestern kümmern, um die nahen wie die fernen, um den Kranken wie den Migranten, denn wenn man dem Leidenden dient, ehrt man den Leib Christi“.

Deutliche Worte richtete der Bischof von Rom ebenfalls an die polnische Regierung, die sich in der Flüchtlingsthematik sehr restriktiv verhält. Mehr Solidarität also im Land und vom Land der Solidarnosc. Doch äußerte er zugleich diplomatisch Verständnis für die Besonderheiten des jeweiligen Landes und seiner Kultur. Davon würden auch die jeweiligen Möglichkeiten abhängen, Flüchtlinge aufzunehmen.

Wiederholt rief Papst Franziskus dazu auf, den Hass zwischen den Völkern zu überwinden, wobei er den Radikalislam nicht erwähnte, der mit seinem weltrevolutionären Anspruch die „Ungläubigen“ bekriegt, die Christen wie den Westen insgesamt und auch jene vielen Muslime, die in den Augen der Extremisten als nicht rechtgläubig genug gelten. Stets sprach Franziskus I. bloß allgemein vom Terrorismus, obwohl die Nachricht von der Ermordung des französischen Priesters Jacques Hamel durch Dschihadisten, Anhänger des Islamischen Staats, während der Reise eintraf.

Trotz seiner vielleicht etwas idealistischen Beherztheit, im Geist göttlicher Barmherzigkeit die katholische Kirche wachzurütteln und aus Starrheit wie Starrsinnigkeit zu befreien, ist und bleibt Franziskus Realist. Auf dem Flug nach Polen gab er das in etwas holprigen Sätzen zu erkennen: Es gebe momentan nicht nur eine große „Unsicherheit“. Das richtige Wort sei vielmehr „Krieg“, es handele sich um einen „guerra a pezzi“. „Die Welt befindet sich in einem Krieg auf Raten. Es gab den von 1914, mit seinen Methoden, dann den von 1939 bis 1945, ein anderer großer Weltkrieg; und jetzt ist es dieser. Er ist vielleicht nicht sehr durchgeplant; organisiert, ja, aber geplant … Aber es ist Krieg.“

Zu dem schrecklichen Geschehen in Frankreich sagte der Papst: „Dieser heilige Priester, der just in dem Moment starb, als er das Gebet für die ganze Kirche darbrachte, ist einer; aber wie viele Christen, wie viele Unschuldige, wie viele Kinder … Denken wir an Nigeria, zum Beispiel. Aber das ist Afrika … Es ist Krieg. Fürchten wir uns nicht, diese Wahrheit zu sagen: Die Welt ist im Krieg, weil sie den Frieden verloren hat … Wenn ich von Krieg spreche, spreche ich ernsthaft von Krieg. Nicht von Religionskrieg, nein. Es gibt einen Krieg der Interessen, es gibt Krieg um Geld, es gibt Krieg um natürliche Ressourcen, es gibt Krieg um die Herrschaft der Völker: Das ist der Krieg. Jemand könnte denken: ‚Er spricht von Religionskrieg.‘ Nein. Alle Religionen wollen den Frieden. Den Krieg, den wollen die anderen. Verstanden?“

Zu alt für Junge

Der Papst „vom anderen Ende der Welt“ mag häufig recht unbekümmert um die Folgen seiner Worte sagen, was er spontan denkt. Nicht wenige in seinem Hofstaat irritiert das. Andere wünschen sich aus ganz anderen Gründen mehr Präzision und auch intellektuelle Schärfe. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Franziskus I. tatsächlich eine erneuerte, reformierte Kirche will, eine Kirche, die sich nicht einigelt, sondern den Menschen ins Herz schaut und ins Herz geht. Das versucht er. Ganz besonders versucht er es immer wieder bei der Jugend, die inzwischen dramatisch vom Christentum abfällt, ja schon abgefallen ist. Vielleicht auch, weil es faktisch kaum mehr junge Seelsorger, junge Priester, so gut wie keine Jugendkapläne mehr gibt, die selber dem Lebensgefühl der Jugend noch nahe sind. Wie oft sollen alt gewordene Pastoralreferenten an der Pensionsgrenze die Jugendarbeit richten! Franziskus I. wollte auch in Krakau wieder jungen Leuten Inspiration geben - und das weit jenseits der üblichen Pensionsgrenze, als echter, authentischer Jugendkaplan Papst mit fast achtzig Jahren.

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