Der Filmemacher Pier Paolo Pasolini (1922-1975) war einer, dem seine Zeitgenossen vieles zutrauten, vor allem Anstößiges und Aufregendes. Das galt zuerst für seine Filme, in denen er thematisch die Ränder der Gesellschaft in den Blick nahm und filmtechnisch die Grenzen der Ästhetik erweiterte. Genauso radikal war aber auch Pasolinis Leben. Er provozierte offen mit seiner kommunistischen Haltung und seiner homosexuellen Orientierung.
Es war daher mehr als eine Überraschung, als ausgerechnet Pasolini 1964 einen Bibelfilm präsentierte. Das hätte ihm dann doch keiner zugetraut. Eng am Text brachte er das Matthäusevangelium auf die Leinwand. Das „Heimweh nach dem Sakralen“ habe ihn angetrieben, erklärte er. Für seinen Film wurde Pasolini von vielen Seiten kritisiert. Die italienische Rechte warf ihm vor, „eine Quelle des christlichen Abendlands zu beschmutzen“. Durfte ein derart „Unreiner“ die reine Geschichte erzählen? Anderen Kritikern dagegen war der Film zu harmlos, von einer „frommen Devotionalien-Pinselei“ sprach damals die „Zeit“. Kommunistische Weggefährten unterstellten dem Regisseur gar, er habe sich zum Reaktionär gewandelt und arbeite dem Klassenfeind zu.
Buchstaben werden Geist
„Der rechte und linke Mainstream-Mensch konnte an ihm irre werden.“ Das schrieb der Theologe und Büchner-Preisträger Arnold Stadler 2008 über Pasolini. Stadlers Buch „Salvatore“ ist eine einzige Feier des Filmemachers und seines Werks. Im ersten, literarischen Teil des Bandes erzählt Stadler von einer Hauptperson, die zufällig in eine Vorführung von Pasolinis Matthäus-Film gerät. „Als er herauskam, war er ein anderer.“ Der gescheiterte Träumer Salvatore will sein Leben in die Hand nehmen.
Schon dieses Buch enthielt einen Teil, in dem Stadler den Film Szene für Szene nacherzählte und kommentierte. Immer wieder würdigte er dabei Pasolinis sehnendes Suchen und seine Ernsthaftigkeit beim Umgang mit dem Evangelientext. Am Ende von „Salvatore“ trat Arnold Stadler ganz aus der Rolle des Erzählers heraus, indem er mit der modernen Bibelauslegung abrechnete - und ihr stattdessen Pasolinis Herangehensweise gegenüberstellte. „Als wären diese Theologen die Experten des toten Buchstabens, während bei Pasolini der Geist lebendig wird, der Leben schafft.“
Knapp zehn Jahre später hat Arnold Stadler nun ein Hörspiel zu dem Thema gemacht: „Evangelium Pasolini“. Das gut einstündige Stück spielt hauptsächlich auf zwei Ebenen: Da ist zunächst, wie in „Salvatore“, die kommentierende Nacherzählung der Evangelien-Verfilmung durch Stadler. Der zweite Hauptteil dreht sich ganz um die Person Pasolini, vor allem um seine - bis heute nicht aufgeklärte - Ermordung am Allerseelentag 1975. Zu hören sind Auszüge aus Interviews sowie Zeugenaussagen. Das Besondere: Beide Ebenen sind collageartig ineinandergeschnitten und so miteinander verwoben. Hinzu kommen direkte Bibelzitate sowie aktualisierende Anmerkungen Stadlers etwa zum Zusammenhang von Rüstungsexporten und der Flüchtlingskrise.
Das Verlangen nach Erlösung
Als „faszinierende Schichtung verschiedener Erzählebenen“ würdigte die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste „Evangelium Pasolini“ und verlieh ihm soeben den Titel „Hörspiel des Jahres 2016“. Die „Gegenschnitte“ der verschiedenen Ebenen sind freilich mehr als nur ein formales Element, sie entfalten eine eigene deutende Wirkung. Findet die Leidensgeschichte Jesu in dem radikalen, abgründigen Leben Pasolinis ein Echo? In „Salvatore“ formulierte Arnold Stadler noch zurückhaltend: „Wir wollen keinen christlichen Martyrer aus ihm (Pasolini; d. Red.) machen, sondern ihn sein lassen, was er war: ein am Leben teilnehmender, zuzeiten nach Erlösung verlangender Mensch …“ Pasolini habe in der von Konsum und Kapital bestimmten Nachkriegsgesellschaft Italiens seine warnende Stimme erhoben. Jesus habe er gesehen als „einen Kombattanten einer Sache, die auch seine war“. Im Stück jetzt scheinen Stadler und Hörspiel-Regisseur Oliver Sturm noch weiter gehen zu wollen. Ein gewagter, aber inspirierender Gedanke.
„Evangelium Pasolini“, eine Produktion von „HR2-Kultur“ und Deutschlandfunk, ist derzeit noch auf der Internetseite vom Hessischen Rundfunk zu finden zu finden. In „HR2-Kultur“ wird sie am 2. April, 14.05 Uhr, nochmals ausgestrahlt.