Helmut KohlDas Heilige und die Macht

Die politische Ideenwelt des verstorbenen einstigen Bundeskanzlers Helmut Kohl war historisch-christlich grundiert.

Der Vorgänger, Helmut Schmidt, spottete: „Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen.“ Der Nachfolger als Bundeskanzler, Helmut Kohl, hatte Visionen, und er ließ die Spötter alt aussehen, gerade jene, die nicht oder nicht mehr an das glauben wollten, woran er arbeitete: die deutsche Einheit und die europäische Einigung. Gerade der Visionär sollte zu einem Großen der europäischen Geschichte werden, inmitten eines epochalen geistigen wie politischen Wandlungsprozesses. Dieser bewirkte das Ende des Kalten Krieges, ohne einen neuen heißen Krieg zu provozieren. In visionslosen, aber krisengeschüttelten Zeiten, in denen sich die politischen Führungsgestalten auf eher formloses pragmatisches Durchwursteln und Feuerwehraktionen verständigt haben, fehlen Staatsmänner und Staatsfrauen, die von geistig Tieferem bewegt und gehalten werden als vom puren Machertum.

In manchem Nachruf auf Kohl, der 87-jährig nach langem schwerem Leiden in seinem Haus im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim gestorben ist, hieß es, eine Ära sei nun definitiv zu Ende gegangen, die Nachkriegsära. Das trifft allerdings in einem noch ganz anderen Sinn viel mehr zu, als es die Leitartikler nahelegten: Zu Ende gegangen ist die Ära jener Regierenden, die sich nicht nur in christliche Worthülsen kleiden, sondern auch in ihrer Geisteshaltung einer Politik aus betont christlichem Horizont verpflichtet sehen. Es fehlen die Mutigen, die ihren Glauben auch einer säkular imprägnierten Gesellschaft offen kundtun, ohne Scheu, damit aus der Zeit zu fallen, womöglich politisch inkorrekt bei Andersgläubigen oder Nichtgläubigen Anstoß zu erregen. Dagegen herrscht Äquidistanz vor, religiöse Selbstamputation bis zur Selbstverleugnung.

Kohl galt zu Beginn seiner bundespolitischen Tätigkeit vielen als ein Mann aus der Provinz, provinziell, noch dazu katholisch, was damals die „Achtundsechziger“-Spätgeborenen als vormodern, argumentativ nicht satisfaktionsfähig betrachteten. Ausgerechnet diesem „Provinzler“ ist geglückt, was den vielen „Aufgeklärten“ und „Liberalen“ vor ihm verwehrt blieb: die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen, das Blocksystem der Erbfeindschaften aufzuweichen, die Verständigung mit den Nachbarn und Großmächten so weit voranzutreiben, dass „die Deutschen“ als geistig-moralisch Geläuterte wahrgenommen werden konnten.

Hart verhandeln, weich fühlen

Eine deutsche Übermacht musste ab jetzt endgültig niemand mehr fürchten. Dieses Vertrauen zu vermitteln gelang Kohl, weil er aus einer christlichen Gesinnung heraus erkannt hatte, dass Versöhnung zwischen den Völkern eine breitere Grundlage braucht als nur Verhandlungsgeschick. Die spirituellen Sehnsüchte der Menschen, ihr Hoffen auf Anerkennung, Achtung, Respekt verlangen mehr als nüchtern kalkulierten Interessensausgleich: Zuwendung. Kohl war, was lange kaum verstanden wurde, ein Staatsmann der Zuwendung. Er konnte hart verhandeln und zugleich weich, auch bewegt, voller Rührung, sich einfühlen in die Leiden und Sehnsüchte der Völker, die Geschicke und Schicksale der Nationen und der Staatenlenker.

Dabei machte Kohl selber manchen Lernprozess durch. Sein Mut zur Korrektur, zur Selbstkorrektur, hat ihm Anerkennung und Vertrauen eingebracht. Aus Feinden wurden Partner, sogar Freunde, allen voran Michail Gorbatschow. Dessen Politik von Glasnost und Perestroika hatte Kohl anfangs misstraut, diese sogar in einem üblen Vergleich als pure Propaganda, ähnlich der des NS-Propagandisten Goebbels, etikettiert. Einsicht kommt aus Einsehen, auch aus dem Einsehen in den guten, wenn auch oft durch die Umstände begrenzten Willen einzelner Personen, Führungspersonen eingeschlossen. So selbstbewusst und herrisch Kohl gegenüber der Presse und der Opposition auftreten konnte, so sensibel zeigte er sich im menschlichen Umgang mit jenen, die er für seine Vision eines geeinten Deutschland in einem geeinten, freien und friedlichen Europa gewinnen wollte.

Das war nicht nur Taktik, nicht nur Strategie, sondern geboren aus einer christlichen Idee von Politik. Das schließt ein, in Polaritäten leben zu können, zum Beispiel in Freundschaft mit einem Sozialisten wie François Mitterrand, der seine geistige Grundierung wiederum aus den philosophischen Quellen des Humanismus bezog. Dass Kohl das Politische durch das Private bestärkte, war seiner Fähigkeit zu verdanken, das Eigene nicht zu verstecken. So führte er bedeutende Staatsmänner und Staatsfrauen in den Speyerer Dom. Das tat er nicht, um touristische Folklore als Beiprogramm zu inszenieren, sondern um deutlich zu machen, was seine eigene religiöse Quelle war. Sie fand er symbolisiert im Kaiserdom der Salier, jener im 11. Jahrhundert errichteten und damals - neben Cluny - größten Kirche der Christenheit. Sie entstand als Ausdruck einer religiös-geistigen politischen Bewegung in einer Phase, als das Heilige Römische Reich beziehungsweise Regnum Teutonicum, das später sogenannte Heilige Römische Reich Deutscher Nation, seine größte Ausdehnung über ganz Mitteleuropa und Teile Südeuropas bis nach Burgund hin erreichte. Die Könige und Kaiser verstanden sich nicht nur als weltliche Machthaber imperialen Managements, sondern als Gottesdiener, als Beschützer des Christlichen und Anwälte der Herrschaft Gottes mitten unter den Herrschaften dieser Welt.

Die „Mystik“ des Kaiserdoms

Diese „Mystik“ der Transzendenz im Diesseitigen ist heute unserer „Leitkultur“ fremd. Aber es war einmal eine echte Leitkultur eines echten christlichen Abendlands voller Bildungsdurst und Wissensdrang. Helmut Kohl hat sich von jener Epoche als später „Nachfahre“ einer heiligen Herrschaft berührt gefühlt. Und er sah sich selber hineingetaucht in die Spannungen, die damals bereits beginnend den Widerstreit zwischen weltlicher und religiöser Gewalt, zwischen den Ansprüchen eines gottgnadenhaften Kaisertums und eines gottunmittelbaren Papsttums auslösten - schließlich bis hin zum Investiturstreit. Es war jene Zeit, in der, wie manche Gelehrte meinen, die geistesgeschichtlichen Grundlagen für Gewaltenteilung gelegt, ja erkämpft wurden, woraus sich eine Linie ergebe bis hin zur modernen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive im demokratischen Zivilisationskreis.

Das betrifft auch die Beziehungen zwischen Staatsmacht und Kirchenmacht: jenseits von Übergriffigkeit und Distanz - ungetrennt und unvermischt. Es ist das Modell, das sich in Deutschland bewährt und durchgesetzt hat, das aber die erstarkenden laizistischen Strömungen hier und anderswo in Europa, in der EU, keineswegs überzeugt.

Das Große aus der Provinz

Aus der Geschichte lernen, die Geschichte ehren und mit der Geschichte handeln - das bedeutete für Kohl, auf eine Balance zwischen der Macht des Heiligen und dem Heiligen der Macht zu achten, ohne dass das eine auf Kosten des anderen geht. Macht und Herrschaft sind demnach nicht als Teufelswerk zu verurteilen, wie es auch manche kirchlichen Kreise „von unten“ behaupten. Macht ist notwendig, als Dienst - auch am Gemeinwohl. Sie ist aber rechenschaftspflichtig zuerst und zuletzt gegenüber dem wahren Heiligen. Die Macht, die jemandem in der Regierungsverantwortung gegeben ist, soll er nicht verplempern, vielmehr die jeweilige Gunst oder Gnade der Stunde nutzen, um am Schöpfungsauftrag mitzuwirken. Das war Kohls Antrieb. So sah er seine Pflicht ebenfalls darin, in wesentlichen Dingen der geistlichen Macht seine Meinung zu sagen, ob gelegen oder ungelegen. Kohl hat zum Beispiel sein Unverständnis über manche vatikanischen Personalentscheidungen geäußert. Er hat seine Kritik an dem von Papst Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger erzwungenen Austritt der katholischen Kirche aus der staatlichen Regelung der Schwangerenkonfliktberatung gegenüber den verantwortlichen Instanzen kundgetan. Da hallt ein wenig aus den politisch-religiösen Antagonismen der Salierzeit nach.

Christsein hört vor dem Bundeskanzleramt nicht auf. Und ebensowenig vor dem, was ein Regierungschef seinem Staatsvolk möglicherweise unbequem mitzuteilen, vor ihm zu bekennen hat. Nicht ohne Grund erklärte er am Tag der deutschen Wiedervereinigung 1990: „Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich schon, dass wir sagen können: Wir sind mit Gottes Hilfe und mit der Hilfe von einigen Freunden und mit Fortune diesen Weg gegangen.“

Gott wirkt in der Geschichte, die Geschichte verläuft nicht ohne Gott. Das war, ist und bleibt Helmut Kohls Zeugnis als Vermächtnis an Christen, Nichtchristen wie Nichtglaubende. Er sah sich verankert im Geist der biblischen Überlieferung, was seltsamerweise in den vielen Beiträgen zu seinem Tod nicht erwähnt wurde. Eine eigenartige historische Blindheit jener, die sonst stets historisches Bewusstsein einfordern.

Kohl schrieb im CIG-Buch „Christsein 2001“ hoffnungsvoll: „Viele Menschen fragen sich…, auf welchem Fundament unsere Gesellschaft aufbauen soll, aus welchen Quellen sie für ihr persönliches Leben Kraft schöpfen können… Natürlich wird das Evangelium auch weiterhin - wie auch schon in den beiden Jahrtausenden zuvor - den Menschen entscheidenden Halt und Orientierung für ihr Leben geben. Christliche Werte und Tugenden bleiben auch künftig unverzichtbare Grundlagen für eine menschliche Gesellschaft. Deshalb sollten gerade die christlichen Kirchen die Frohe Botschaft verstärkt in einer verständlichen Sprache sowie mit Mut und Zuversicht verkünden. Ich bin sicher, dass so noch mehr Menschen Hoffnung und Zuversicht aus der Kraft des Glaubens schöpfen können. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Gestaltung einer guten Zukunft in Deutschland, in Europa und in der Welt.“ Gelebte Verantwortung brauche „die Besinnung auf das eigene Gewissen, auf den Mitmenschen und vor allem auf Gott“.

Macht Europa wieder stark! Durch den christlichen Geist, der zutiefst das christliche Abendland als das neue Paradigma, das das heidnische Paradigma der Antike ablöste, geprägt hat. Es hat sich eindrücklich im Speyerer Dom in Stein und Form materialisiert, in einem Kirchengebäude, dessen Errichtung nicht von Klerikern, sondern von einem Kaiser, von Konrad II., in Auftrag gegeben wurde. Dass Kohl sich diesem Dom und dem Geist dieses Gotteshauses historisch wie machtpolitisch verbunden fühlte, war der Grund, warum er sich als Vorsitzender der „Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer“ für dieses vor allem spirituelle Bauwerk einsetzte. Es war keineswegs nur ein privates Hobby persönlicher Anhänglichkeit oder purer Sentimentalität, sondern Ausdruck seines eigenen Verständnisses vom notwendigen Zusammenspiel religiöser Geistesmacht mit irdischer Lenkungsmacht, quer durch die Zeiten. Wo alle Welt auf Bonn und später auf Berlin schaute, war es die Provinz, das kleine Oggersheim mit dem benachbarten Speyer, das Weltgeschichte inspirierte. Welche Ironie und Wiederkehr der Geschichte. Speyer war auch Provinz, als das damals mächtigste Haus Gottes entstand, an einem Ort mit seinerzeit kaum 500 Einwohnern. Größe misst sich eben an anderem Format.

Geschichte ist nicht mild

Alle Größe aber ist begleitet vom Tragischen und vom Versagen. Das traf und trifft auch auf Helmut Kohl zu. Daran ist in fast allen Nachrufen erinnert worden, an die Affären im Politischen wie im Privaten, an die Versuchung der Arroganz der Macht, die alle Macht stetig umgibt. Volker Zastrow schrieb in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Kohl … gefiel es ersichtlich, es sich in seiner eigenen Bedeutung wohl sein zu lassen. Es sei ihm gegönnt. Und erklärt ja nicht das ganze Elend, die Tragik seiner späten Tage: den fürchterlichen Selbstmord seiner Frau. Den gesundheitlichen Niedergang, die vielen Schmerzen, schließlich den Sturz mit Schädel-Hirn-Trauma und den schwerwiegenden Folgen. Das Buch, in dem ein enttäuschter Zuarbeiter Helmut Kohl zwischen den Zeilen die Schuld am Tod Hannelores zuschiebt. Die weinerliche Abrechnung seines längst erwachsenen Sohnes in einem Buch. Und, bis an den Tores-, Todesschluss, der (immerhin gewonnene) Rechtsstreit über einen abstoßenden Vertrauensbruch. Schuld oder Schicksal? Versagen, Verhängnis? Der Neid der Götter? Man hätte dem Vater des Vaterlandes einen milderen Lebensabend gewünscht.“

Geschichte ist niemals mild, trotzdem stets von Hoffnung begleitet. Kohl hat Hoffnung geweckt. Hoffnung erlischt nicht so rasch. Vielleicht ist es vermessen, in diesem Zusammenhang an einen anderen Großen aus Ludwigshafen zu erinnern, mit dem Kohl vordergründig überhaupt nichts verbunden hat, tiefergründig aber womöglich mehr, als er selber sich zugestanden hätte: Es ist der neomarxistische Philosoph und „Atheist“ Ernst Bloch - und die berührende Orientierung an dem jüdisch-christlich eingefärbten Prinzip Hoffnung. Eine Eschatologie, die um die letzten Dinge weiß, aber mit transzendentem Bezug ins Diesseits verweist - auf das Gottesreich als verheißenes Reich der Menschen.

Der Andere aus Ludwigshafen

Helmut Kohl war kein schwärmerischer Utopist, sondern im Sinne Blochs einer, der die „konkrete Utopie“ als konkrete Vision lebte und danach handelte, gerade weil er das Rätselhafte des Daseins, das Mysteriöse der Geschichte achtete und darin verwoben das Mysteriöse von Mensch und Gott ahnte. Bloch schrieb in seiner eigentümlichen Sprache in seinem Werk „Geist der Utopie“: „Was wir sind, wissen wir nicht, wir sind noch unruhig und leer und wie uns selber versteckt gehalten … Erst gegen das Kommende hin wird zu erkennen sein, was wir suchten oder ‚waren‘, bevor wir in die zeitlichen Bewegungen eingingen; durch welchen Akt wir eingingen und Zeit, Welt und Gott als Führer, als ‚Objektives‘ setzten. Vielmehr, das waren wir alles noch nicht, denn der Anfang wird tatsächlich erst mit dem Ende fertig geschehen sein, und es ist nicht bedenklich zu sagen, dass er rätselhaft ist; denn da wir es sind, deren Beginnen rätselhaft bleibt, da mithin das uns so nahe Dunkel des gelebten Augenblicks immer noch das Anfangsrätsel, das Weltdaseinsrätsel in größter Stärke enthält, so erklärt ja gerade dieses den ganzen suchenden, das Rätsel lösen wollenden Weltprozess der Wir-, der Dunkelverdeutlichung, des sich als Antwort gewinnenden Urpro­blems. Deshalb ist auch die alte Frage, wiefern das Viele aus dem Einen abzuleiten sei, darin schief gestellt, dass nach ihr nicht wir selbst, das Viele, sondern Gott als das schlechthin Eine, als causa sui an den Anfang proponiert wurde und so das Bewegungslose, an sich prinzipiell Rätsellose, der alles besitzende Hort der Logik das größte Rätsel einzuschließen hatte; statt dass ‚Gott‘ am Ende steht.“

Für Helmut Kohl stand Gott am Anfang - und am Ende. Glücklich ein Land und ein Volk, das solche Politik(er) hervorbringt. Ein christliches Abendland? Eine christliche Leitkultur? Eine christlich geleitete Politik? Für Helmut Kohl war es Herausforderung und Hoffnung zugleich. Sein Wunsch, seine Ermutigung für die Zukunft: „Christen gehören nicht in die Wagenburg, ihr Platz ist in der Welt! Je mehr Menschen nach dieser Devise handeln, umso mehr wird es uns gemeinsam gelingen, das neue Jahrtausend im Geiste des Christentums mitzugestalten - zum Wohl der nachfolgenden Generationen.“

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