Selten ist ein Papst so sehr zur Projektionsfläche gegensätzlicher Deutungsmuster geworden wie Franziskus, den man mal zum kirchlichen Revolutionär und dann wieder zum notorischen Reformverweigerer stilisiert hat. Diese konträren Einschätzungen haben ihren Grund nicht allein in den unterschiedlichen Erwartungen und kulturellen Prägungen innerhalb der verschiedenen Teile der Kirche, deren Fliehkräfte immer deutlicher zutage treten. Auch der nicht selten von Spontaneität und theologischer Unbekümmertheit geprägte Kommunikationsstil des Papstes selbst hat erheblich dazu beigetragen, dass der Sinn mancher seiner Äußerungen entweder nicht in der erforderlichen Klarheit erkennbar war oder von interessierter Seite gezielt missverstanden worden ist, um die eigene Agenda zu befördern.
Auch wenn man ein abschließendes Urteil über dieses facettenreiche Pontifikat den Historikern überlassen muss, sollen aus moraltheologischer Perspektive einige besonders markante Kennzeichen seines lehramtlichen Wirkens in Erinnerung gerufen werden, durch das er seiner Kirche ein insgesamt ambivalentes Erbe hinterlassen hat.
Gute Absichten
Im Blick auf den binnenkirchlichen Bereich seien nur drei Beispiele benannt, bei denen sich jeweils gute Absichten mit handwerklichen Mängeln der konkreten Umsetzung verbinden. Bezüglich der noch immer in der öffentlichen Wahrnehmung dominanten Missbrauchskrise ist nüchtern zu konstatieren, dass Franziskus mit dem Motu proprio Vos estis lux mundi vom Mai 2019 sowie dem am 16. Juli 2020 von der Glaubenskongregation veröffentlichten Leitfaden zum juristischen Umgang mit Missbrauchsfällen zwar durchaus einige konkrete Schritte zur Eindämmung der Krise unternommen hat, doch reichen die von seinen Vorgängern und ihm selbst unternommenen Anstrengungen etwa zur Sanktionierung bischöflichem Versagens, zur Entschädigung der Opfer oder zur einheitlichen unabhängigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorgänge kaum dazu aus, die entstandene Vertrauenskrise zu bewältigen. Hier wäre angesichts des – gerade auch in Deutschland zu beobachtenden – eklatanten Versagens vieler nationaler Bischofskonferenzen ein rascheres und entschiedeneres Handeln auf der universalkirchlichen Ebene erforderlich gewesen, um dem massiven Vertrauensverlust in die Kirchenleitung wirksam zu begegnen und die elementaren Voraussetzungen für den dringend gebotenen missionarischen Neuaufbruch innerhalb der Kirche zu schaffen.
Wie sehr dieser Franziskus am Herzen lag, beweisen auch die beiden Bischofssynoden zur Krise der Ehe- und Familienpastoral 2014 und 2015, deren Potenzial bis heute nicht einmal anfanghaft ausgeschöpft ist. Bedauerlicherweise ist die zentrale Botschaft seines postsynodalen Schreibens Amoris laetitia, die in der Aufforderung zu einer durchgreifenden Erneuerung der Ehevorbereitung und der Ehebegleitung bestand, völlig durch die kryptischen Bemerkungen des Papstes zum Kommunionempfang wiederverheirateter Geschiedener überlagert worden, die in vielen Ländern zu erheblichen Irritationen geführt haben. Statt die verschiedenen Fallkonstellationen gescheiterter Ehen auf der normativen Ebene klar gegeneinander abzugrenzen, wie es bereits Johannes Paul II in Familiaris consortio gefordert hatte, verzichtete Franziskus auf eine dringend überfällige Bereinigung des allzu pauschalen kanonischen Status quo und verlagerte das Problem auf die Ebene des seelsorgerlichen Einzelgesprächs, um so lebensnahe individuelle Problemlösungen zu ermöglichen, deren kriteriologische Grundlagen jedoch völlig ungeklärt blieben.
Dieselbe pastorale Entlastungs- bzw. Umgehungsstrategie, die eine bessere kirchliche Integration von Personen in sogenannten irregulären Situation unter Beibehaltung problematischer Normbestände zu bewerkstelligen versucht, prägte auch den Umgang mit homosexuellen Personen, die nach offizieller kirchlicher Position zwar zu lebenslanger Enthaltsamkeit verpflichtet sind, nach der am 18.12.2023 veröffentlichten Erklärung des Dikasteriums für die Glaubenslehre Fiducia supplicans aber selbst dann einen kirchlichen Segen empfangen können, wenn sie gegen die kirchlich propagierten Normen verstoßen.
Abgesehen davon, dass die hier beschriebenen konkreten Voraussetzungen solcher Segenshandlungen von der Zielgruppe mit hoher Wahrscheinlichkeit als krängend empfunden werden, dürfte ein solches – nicht zuletzt unter dem Druck westlicher, auf sexuelle Minderheiten-Themen fixierter sogenannter Reformkräfte zustande gekommenes – Vorgehen dazu führen, dass der ohnehin schon massive Eindruck kirchlicher Doppelmoral noch einmal verstärkt wird und die Reputation des Lehramtes weiteren massiven Schaden nimmt. Für den obersten Gesetzgeber der Kirche ist ein solches Ergebnis auf Dauer kaum hinnehmbar.
Jenseits dieser primär binnenkirchlichen Themen hat sich Franziskus aber auch wiederholt mit den großen globalen Herausforderungen der Menschheit im 21. Jahrhundert auseinandergesetzt. Dazu zählt etwa die Migrationskrise, die in unseren Breiten viel zu oft aus einer rein europäischen Perspektive betrachtet wird. Die berechtigte Sorge um den notwendigen Schutz der Menschenwürde und der Grundrechte all jener Menschen, die aus verschiedensten Gründen ihre Heimat verlassen haben, darf uns allerdings nicht übersehen lassen, dass die Beschwörung einer universalen Geschwisterlichkeit und sozialen Freundschaft, wie sie der Papst in seiner Enzyklika Fratelli tutti aus dem Jahre 2020 entfaltet hat, allein noch keine hinreichende Antwort auf die vielfältigen konkreten Konflikte darstellt, die jenseits der stets gebotenen Nothilfe vor allem aus den verschiedenen Phänomenen einer missbräuchlichen Berufung auf das Asylrecht im Rahmen irregulärer Wirtschaftsmigration resultieren und in vielen Ländern zum Erstarken fremdenfeindlicher Kräfte geführt haben.
So begrüßenswert es ist, dass sich das Kirchenoberhaupt mit seiner Enzyklika Laudato si 2015 für die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens starkgemacht hat, so problematisch nimmt sich dabei nicht nur seine pauschale Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus, die immerhin eine sehr große Anzahl von Menschen aus bitterer Armut geführt hat.
Eine ganz ähnliche Gemengelage zeigt sich auch im Engagement des Papstes für den Klimaschutz. So begrüßenswert es ist, dass sich das Kirchenoberhaupt mit seiner Enzyklika Laudato si 2015 für die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens starkgemacht hat, so problematisch nimmt sich dabei nicht nur seine pauschale Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus, die immerhin eine sehr große Anzahl von Menschen aus bitterer Armut geführt hat. Auch bietet der von der christlichen Schöpfungslehre inspirierte Verweis auf den moralisch gebotenen Schutz der naturalen Bedingungen menschlicher Existenz als solcher noch keine Lösungen für die komplexen politischen Abwägungsentscheidungen, die aus gerechtigkeitsethischer Perspektive erforderlich sind, um die verschiedenen Gefährdungen und Bedürfnisse der jetzt lebenden Menschen mit den Belangen künftiger Generationen zu vermitteln.
Analoges gilt für die in den letzten Jahren vermehrten Forderungen des Papstes für eine humane Gestaltung der digitalen Transformation im Allgemeinen und des Einsatzes Künstlicher Intelligenz im Besonderen. Auch hier kann es zwar nicht schaden, wenn sich die Kirchenleitung am allgemeinen ethischen Diskurs über technologische Transformationsprozesse beteiligt, doch ist bisher kaum erkennbar, worin der spezifische Mehrwert derartiger kirchlicher Interventionen konkret bestehen könnte.
Ein letzter Bereich, der in den geopolitischen Umwälzungen der letzten Jahre von besonderer Brisanz ist, betrifft die päpstlichen Wortmeldungen zu Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik. Vor allem im Kontext des Ukrainekrieges hat sich Franziskus viel zu lange illusionären Vorstellungen über eine Verständigung mit dem Moskauer Patriarchat hingegeben und durch fragwürdige politische Rücksichten gezögert, den russischen Aggressor unmissverständlich beim Namen zu nennen. Zusammen mit der unbegründeten kritischen Distanznahme zur eigenen traditionellen bellum iustum-Lehre konnte so der Eindruck entstehen, als spiele die um Neutralität bemühte vatikanische Friedenspolitik ungewollt ausgerechnet jenen destruktiven Kräften in die Hände, die die völkerrechtswidrigen Aggressionen zu verantworten haben.
Bedauerlicherweise blieben diese Schwächen kein Einzelfall. In dieselbe Richtung weisen einige Äußerungen zum quasi-genozidalen Charakter des Abwehrkampfes Israels gegen die Terrororganisation der Hamas, die in der Gefahr stehen, nicht nur die wahren Ursachen des aktuellen Gaza-Konfliktes zu verschleiern, sondern auch den jüdisch-christlichen Dialog erheblich zu belasten.
Franziskus war anders als seine beiden Vorgänger kein Theologen-Papst, dessen Äußerungen sich durch begriffliche Klarheit und normative Präzision auszeichnen. Er war eher ein Mann der Intuition, der symbolischen Gesten und der direkten Begegnung.
Auch wenn man die Bedeutung solcher moraltheologischen Beobachtungen zu den Grenzen päpstlicher Einlassungen nicht überbewerten sollte, da sie in vielfältiger Hinsicht durch zahlreiche andere Perspektiven zu ergänzen wären, sollten sie gerade im Blick auf die spezifischen Funktionen des höchsten kirchlichen Leitungsamtes einer globalen Institution doch auch nicht allzu rasch marginalisiert werden. Franziskus war anders als seine beiden Vorgänger kein Theologen-Papst, dessen Äußerungen sich durch begriffliche Klarheit und normative Präzision auszeichnen. Er war eher ein Mann der Intuition, der symbolischen Gesten und der direkten Begegnung. Die Kirche benötigt auf lange Sicht beides.