Zwischen Prinzipien und PopulismusDarum braucht die Migrationsdebatte einen Neustart

Michael Wedell, Sprecher des Sachbereichs "Wirtschaft, Soziales, Digitalisierung" beim ZdK und geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsgesellschaft "The Partners", sagt: Merz' Tabubruch spaltet die Gesellschaft. Doch zum Migrations-Chaos und zum Aufstieg der AfD haben alle beigetragen. Das Thema muss endlich sachlich diskutiert werden.

Michael Wedell
© Silv Malkmus

Am Mittwoch fand der Entschließungsantrag der Unions-Bundestagsfraktion zur Migrationspolitik eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD. 348 Abgeordnete stimmten dafür, 344 dagegen; 10 Abgeordnete enthielten sich, und 31 gaben ihre Stimme nicht ab. Der Antrag nennt die tödlichen Anschläge von Mannheim und Solingen und stellt sie in eine Reihe mit dem Mord von Aschaffenburg. Man weigere sich anzuerkennen, "dass dies die neue Normalität in Deutschland ist", heißt es. Die "aktuelle Asyl- und Einwanderungspolitik gefährdet die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und das Vertrauen der gesamten Gesellschaft in den Staat."

Dabei ist die eigentlich zu beklagende "neue Normalität" die Art und Weise, wie die Mehrheit für diesen Antrag zustande gekommen ist. Ein klarer Tabubruch, den Friedrich Merz bewusst eingegangen ist; und insofern ein historischer Tag. 

Und gestern wurde nun nach langen Diskussionen am Nachmittag das "Zustrombegrenzungsgesetz" zur Abstimmung gestellt. Eine Mehrheit für das Gesetz kam allerdings nicht zustande: 338 Abgeordnete stimmten dafür, 350 dagegen, 5 Abgeordnete enthielten sich. Zuvor gab es eine Debatte, der anzuspüren war, dass es nicht nur einen Graben der demokratischen Parteien zur AfD gibt, sondern auch Gräben innerhalb der demokratischen Kräfte. Es hätte dem Bundestag gutgetan, wenn man sich zugehört hätte. Doch leider gab es so gut wie keinen Beitrag, in dem es nicht laut und auch gebrüllt wurde. Die Debatte war eine Zumutung für alle Bürger, die sie verfolgt haben.

Wer glaubt, man könne die Feinde der Demokratie einbinden, um Mehrheiten beschaffen, ohne diese Feinde langfristig zu stärken, begeht einen schweren Fehler.

Zwar ist Migration ein emotional aufgeladenes Thema. Doch wer – wie die CDU/CSU – den gesellschaftlichen Diskurs in Richtung Härte verschiebt und sich für ihren Kurs von der AfD Mehrheiten sichern lässt, spielt mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wer glaubt, man könne die Feinde der Demokratie einbinden, um Mehrheiten beschaffen, ohne diese Feinde langfristig zu stärken, begeht einen schweren Fehler.

Nun hat die Union ein Glaubwürdigkeitsproblem. Steht die viel zitierte Brandmauer nun – oder nicht? Dass sich die Partei, die immerhin das Wort "christlich" in ihrem Namen trägt, ausgerechnet von Vertretern der evangelischen und der katholischen Kirche vor dem Schritt warnen lassen musste, ist ein starkes Stück. "Wie kommen die denn dazu?", so wird nun vielfach kritisiert.

Aber schauen wir genauer hin: Das gemeinsame Schreiben der Berliner Verbindungsbüros beschäftigt sich vor allem mit einem zentralen Punkt des CDU/CSU-Entwurfs: dem Ausschluss des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte. Gerade hier zeigt sich, dass hinter juristischen Fragen immer auch gesellschaftliche Werte stehen.

Familiennachzug ist keine "illegale Migration"

CDU und CSU verteidigen ihren Entwurf mit dem Argument, dass Deutschland seine Aufnahmekapazitäten erreicht habe und Migration stärker begrenzt werden müsse. Doch der Familiennachzug wurzelt in der Idee, dass Ehe und Familie unter "dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" stehen. Niedergelegt ist diese Norm in Artikel 6 des Grundgesetzes und in Artikel 16 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Bereits im September 2024 hat das Katholische Büro argumentiert, dass der vollständige Ausschluss des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte zu langfristigen oder gar dauerhaften Trennungen von Familien führen wird. Diese Maßnahme sei nicht nur integrationsfeindlich, sondern würde großes persönliches Leid verursachen – ohne die eigentlichen Herausforderungen der Migrationspolitik zu lösen.

Dass diese Argumentation als "unrealistische Moral" abgetan wird, zeigt, wie sich der politische Diskurs in der Gesellschaft verschoben hat. Wer dieses Grundrecht plötzlich als Verhandlungssache betrachtet, setzt Prinzipien aufs Spiel, die bisher über Parteigrenzen hinweg unstrittig waren.

Das ungeschickte Agieren des Kandidaten darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bisherige Ampel-Regierung das Thema nicht gut aufgegriffen hat. Wir müssen endlich sachlich über Migration diskutieren.

Zum Migrationsdilemma haben alle beigetragen

2015 konnten viele Angela Merkels Entscheidung emotional nachvollziehen. Sie war aber rational insofern falsch, weil Europa nie wirklich eingebunden wurde. Der französische Präsident Francois Hollande hatte sie zuvor sogar angerufen und gewarnt. Merkel zog den Alleingang vor. Die Kommunen mussten die Folgen damals ausbaden, es gab viel ehrenamtliches Engagement, aber der Staat hat viel zu wenig Ressourcen bereitgestellt, damit dies alles hätte gelingen können. Die Probleme heute wurzeln in besonderer Weise im Jahr 2015 – und wurden bis heute nicht gelöst: von einem fehlenden europäischen Gesamtkonzept bis zu den Ressourcen vor Ort in den Kommunen.

Das Thema war im Ergebnis ein "Konjunkturprogramm" für die AfD.

Befürworter des "Wir schaffen das" waren Angela Merkel (nicht so sehr die CDU), die Grünen, Teile der SPD und vor allem auch die Kirchen. Das Thema war im Ergebnis ein "Konjunkturprogramm" für die AfD. Merz kann man vorwerfen, die AfD heute zu beflügeln, seine Kritiker haben in der Vergangenheit aber auch dazu beigetragen. Wenn unsere Politikerinnen und Politiker das bedenken würden, könnte die Debatte deutlich sachlicher und demütiger erfolgen.

Wir brauchen sachliche Klarheit in den Fragen zur Flüchtlingspolitik

Wir brauchen endlich Klarheit in dem ganzen Wirrwarr der Umsetzung von Flüchtlingspolitik. Wer entflicht das Durcheinander von Bund-Länder-Kompetenzen – und das auch noch im Zusammenspiel mit der EU? Warum dürfen Flüchtlinge nicht viel eher arbeiten? Warum reicht nicht Englisch als Sprachnachweis und warum akzeptieren wir Englisch nicht als zweite Behördensprache)?

Wenn die Kompetenzen einmal entwirrt und neu geordnet sind, muss die Bearbeitungsdauer der Asylanträge endlich deutlich verkürzt werden. Das Recht ist überkompliziert, die Verfahren viel zu kleinteilig und zu bürokratisch, und es fehlt auch hier an den notwendigen Ressourcen für die Bearbeitung.

Außerdem brauchen wir auch endlich mehr Mittel, um Flüchtlinge besser integrieren zu können. Die Schulen sind mit dieser Aufgabe völlig überlastet. Hierfür müssen wir bereit sein, an anderer Stelle staatliche Ausgaben zu reduzieren. Auch diese gesellschaftliche Debatte müssen wir führen.

Welche Werte sollen unsere Gesellschaft tragen?

Dazu gehört auch die Diskussion, welche Werte für unsere Gesellschaft tragend und unverzichtbar sind.

Die Kritik daran, dass sich kirchliche Vertretungsorgane äußern, geht am Problem vorbei. Vielmehr ist es so, dass demokratische Parteien dabei sind, ihre eigenen Werte zu verraten und sich treiben zu lassen.

Ist es von Friedrich Merz wirklich so klug, die Debatte so zu führen, als sei jeder, der nicht bedingungslos für eine restriktivere Migrationspolitik eintritt, naiv, wirklichkeitsfern, und ein moralischer Besserwisser?

Ja, man kann Friedrich Merz Symbolpolitik vorwerfen. Aber ein ad hoc angesetzter Abschiebeflug mit Handgeld für die Abgeschobenen ist es auch.

Und wo eigentlich sind denn die Ideen und konkreten Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, die Migrationspolitik nicht nur als Einwanderungspolitik definieren, die den Ängsten auch ihrer Wähler vor einer in Teilen dysfunktionalen Migrationspolitik etwas entgegensetzen? "Es geht alles rechtlich nicht" – das ist keine politische und auch keine demokratische Antwort auf Probleme.

Ja, man kann Friedrich Merz Symbolpolitik vorwerfen. Aber ein ad hoc angesetzter Abschiebeflug mit Handgeld für die Abgeschobenen ist es auch. Bürgerinnen und Bürger wollen darauf vertrauen, dass die demokratische Mitte sich solcher politischer Probleme annimmt.

Für die restliche Zeit des Wahlkampfes haben die Bürgerinnen und Bürger Verantwortung statt Populismus verdient. Wahlkampf und Sachauseinandersetzung müssen keine Gegensätze sein. Respekt heißt, andere Positionen nicht reflexhaft abzulehnen, sondern sich damit auseinanderzusetzen. Es bedeutet, hinzuhören mit Empathie, zuzuhören und dann zu antworten, anstatt Debatten nur für Schlagzeilen zu nutzen.

Tiefe entsteht durch Sachkenntnis und den Willen, Probleme wirklich zu verstehen. Und Dialogfähigkeit bedeutet, nicht nur in der eigenen Blase zu bleiben. Unterschiedliche Ansichten sind Teil unserer Demokratie. Lösungen entstehen nicht durch Härte, sondern durch das Ringen um das Beste. Das dürfen, das müssen wir von allen Kandidatinnen und Kandidaten erwarten.

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