Als Erfolgsmodell scheint die westliche Demokratie ausgedient zu haben. Darauf weist nicht nur ein weltweiter Rückgang an demokratischen Systemen hin. Vielmehr gibt es auch eine aggressive Gegenwehr gegen das westliche, liberale Modell, die von außen und von innen erfolgt. Zu den äußeren Gegnern gehören Großmächte wie Russland und China, die sich zunehmend in totalitäre Regime verwandelt haben, sowie der radikale Islam. Doch auch von innen wird die freiheitliche Demokratie zunehmend in Frage gestellt, und zwar von politischen und gesellschaftlichen Bewegungen, denen autoritäre Führerschaft sowie die vermeintlich einfachen Lösungen näher liegen als die mühsamen und oft unüberschaubaren demokratischen Verfahren.
Gerade in Zeiten der äußeren Bedrohung wäre der innere Zusammenhalt aber überlebenswichtig und ein engagiertes Einstehen für demokratische Werte essentiell. Warum verliert die Demokratie dennoch derart an Zustimmung?
Was die äußere Gegnerschaft begründet, lässt sich relativ einfach feststellen. Für Russland und China sind demokratische Ordnungen Systemkonkurrenten. Wo Menschenrechte gelten, die Bürger ein hohes Maß an Freiheiten genießen und Regierungen jederzeit wieder abwählbar sind, kann man nicht totalitär durchregieren, wie es in Russland und China der Fall ist.
Doch es sind nicht nur Machtinteressen, die zur Ablehnung der Demokratie führen, sondern auch ideologische Gründe. "Der Westen" wird mit seinem Gebrauch der Freiheit und seiner Betonung der Individualität als dekadent und willensschwach empfunden. Diese Diagnose teilt im Übrigen auch der radikale Islam, den zusätzlich noch die starke Diesseits-Orientierung der westlichen Welt abstößt. Als Jagd nach dem Genuss und ein vor allem auf sich selbst bezogenes Leben, so stellt sich die demokratische Existenz für ihre äußeren Gegner dar. Dass bei einer solchen Existenz der Wille zur kollektiven Selbsterhaltung nur schwach ausgeprägt ist, scheint damit ebenfalls ausgemacht.
Geschwächte Abwehrbereitschaft
Betrachtet man die Verwerfungen, die innerhalb der europäischen und auch der US-amerikanischen Demokratie festzustellen sind, so scheint der Eindruck mangelnder Einigkeit und damit auch einer geschwächten Abwehrbereitschaft nach außen nicht ganz unzutreffend zu sein. Überall ist eine Ausdünnung der politischen Mitte und eine Radikalisierung der politischen Ränder zu bemerken. Extreme Positionen gewinnen an Zulauf, Bewegungen wie PEGIDA, die sich außerhalb der politischen Parteien gebildet haben, nehmen für sich in Anspruch, den wahren Volkswillen zu vertreten, und etablierte Parteien wie die Republikaner und Demokraten in den USA deuten politische Gegnerschaft in Feindschaft um.
Das alles scheint eine Unzufriedenheit mit dem demokratischen System, so wie es sich bisher dargestellt und bewährt hat, auszudrücken. Man sucht sein Heil außerhalb der Parteien, auch außerhalb des Parlaments, gründet neue Parteien, die für eine Zersplitterung des Parteienspektrums sorgen, oder betreibt eine innerparteiliche Radikalisierung. Das verschärft noch einmal die Frage nach den Gründen für eine unausgesprochene, aber spürbare Abwendung von den Grundlagen jener Ordnung, der die meisten doch ein Leben in Freiheit und Wohlstand verdanken.
Sicher zeigt sich darin eine Unzufriedenheit mit der jeweils aktuellen Politik. Diese hat aber auch eine Vielzahl von Krisen zur gleichen Zeit zu bewältigen: Nachdem die Corona-Krise überwunden war, folgten der Krieg in der Ukraine und der Überfall auf Israel. Die Migration stellt eine große und bleibende Herausforderung dar, die Energiewende hat gravierende Folgen für Wirtschaft und Privathaushalte, die demografische Entwicklung führt zu Fachkräftemangel und Löchern in der Rentenkasse, die Inflation bewirkt Wohlstandsverluste.
Es ist sehr viel, was zugleich auf die Menschen einströmt, und es ist alles auf derart komplizierte Weise miteinander verwoben, schon durch die globale Dimension der meisten Phänomene, dass die Reaktion Verunsicherung und der Zweifel ist, ob all das mit den schwerfälligen demokratischen Verfahren bewältigt werden kann.
Demokratie und Selbstverantwortung
Doch der Zweifel, der Verlust des Vertrauens in die Problembewältigungsfähigkeit der Demokratie, ist wohl nicht nur von der sich verschärfenden Krisenlage verursacht. Sehr selten vernimmt man noch das Bekenntnis zur eigenen Verantwortung dafür, wohin sich die politische Ordnung entwickelt. Jene besondere Bindung der Bürger an die Demokratie, jenes Bewusstsein, in diesem freien System Mitgestalter seines Schicksals zu sein, scheint geschwunden oder doch zumindest deutlich vermindert. Die Demokratie ist keine Herzensangelegenheit mehr.
Die Freiheit, die man in den westlichen Demokratien genießt und die natürlich auch mit entsprechender Selbstverantwortung verbunden ist, scheint nicht mehr die Wertschätzung zu erfahren, die dazu führt, sich aktiv für sie einzusetzen zu wollen.
Dabei hat man die Systemalternativen doch vor Augen: Staaten, die schlicht nicht funktionieren, und die Bürger einfach ihrem Überlebenskampf überlassen; autoritäre Regime, die mit Gewalt gegen ihre Bürger vorgehen; totalitäre Systeme, die mittels Propaganda, Indoktrination, Folter und totaler Überwachung auch noch in das Innere der Menschen hineingreifen und sie beherrschen wollen.
Die Freiheit, die man in den westlichen Demokratien genießt und die natürlich auch mit entsprechender Selbstverantwortung verbunden ist, scheint nicht mehr die Wertschätzung zu erfahren, die dazu führt, sich aktiv für sie einzusetzen zu wollen. Es ist zwar immer die Rede davon, dass der Westen seine Werte verteidigen müsse. Doch das Abstraktum "Westen" bedeutet konkret die Menschen, die in den westlichen Demokratien leben. Sie müssen das, was ihnen ihr gutes Leben ermöglicht, auch als Wert wahrnehmen und entsprechend zu bewahren bestrebt sein.
Das Problem des Individualismus
Was steht dem im Wege? Zweifellos ist das, was als selbstverständlich erlebt wird, schnell nicht mehr Gegenstand der Sorge. Freiheit und Wohlstand waren für die meisten, nicht für alle, immer gegenwärtig und insofern dasjenige, wovon aus man operierte, und nicht das, was man als stets Gefährdetes wusste. Doch nicht nur das fraglose Vorhandensein der Freiheit, sondern auch ihr Gebrauch mochte zu einer Entfremdung von dem System geführt haben, dem man sie verdankte. Denn im westlichen Denken ist Individualität die Grundlage von Freiheit, und Individualität wird meist mit dem je eigenen Ensemble an Bedürfnissen und der Inanspruchnahme von Rechten identifiziert.
Ein solches Verständnis von Individualität birgt kein Moment der Gemeinschaftlichkeit in sich. Ganz im Gegenteil, es vereinzelt. Und so ist es auch eine durchgängige Klage, dass sich in der Moderne die traditionellen Milieus aufgelöst haben, dass der Mensch zunehmend für sich alleine steht und den Instanzen, die früher für Orientierung sorgten, kaum mehr Bedeutung zukommt. Daher muss jeder für sich selbst sehen, wie er zurechtkommt.
Wenn aber jeder für sich steht – so deuteten die geistigen Väter des Liberalismus wie Hobbes, Locke und Kant die Grundbefindlichkeit des Menschen –, ergibt sich daraus ein natürliches Gegeneinander, weil bei der Befriedigung der Bedürfnisse meist ein Konkurrenzkampf entsteht und des einen Rechte des anderen Pflichten sind. Alles, was den Einzelnen bindet, wird dann zur Fessel. Das Versprechen grenzenloser Freiheit ist nämlich nicht einlösbar, jede Form des Zusammenlebens erfordert Kompromisse. Diese als Zumutung zu empfinden, auch das Leben in Gemeinschaft als Einschränkung seiner Selbstentfaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen, ist dann die logische Konsequenz. Dass die Kompromissbereitschaft schwindet, je länger man die Freiheit als individuelles Recht erfahren hat, das man gegen die Ansprüche anderer oder des Staates sichern muss, scheint eine unausweichliche Folge zu sein. Das könnte auch eine Erklärung für die zunehmende politische Radikalisierung und die Schwierigkeit Vieler sein, sich noch irgendwelchen Großorganisationen wie Gewerkschaften oder Kirchen anzuschließen.
Freiheit und Bindung
Nun scheint die liberale Demokratie, die gegenwärtig so um ihre Selbsterhaltung ringt, ein Kind der Aufklärung zu sein. Schließlich wurden die Menschen- und Bürgerrechte im Verlauf der amerikanischen und der französischen Revolution kodifiziert, und auch Forderungen wie die nach Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit wurden im Zeitalter der Aufklärung mit Vehemenz erhoben. Das folgte aus der bürgerlichen Freiheit, die man für sich beanspruchte, nachdem man sich aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit", wie Kant das nannte, gelöst hatte. Unmündig, so die damalige Wahrnehmung, hatten Staat und Kirche gemacht. Es sieht also so aus, als wäre die Demokratie jenem Bewusstsein individueller Freiheit entsprungen, das erst das Denken der Aufklärung ermöglicht hatte.
Was das christliche Person-Sein von der liberalen Individualität jedoch unterscheidet, ist der Glauben an die gemeinsame Verwurzelung in einem Grund, der nicht selbst geschaffen ist.
Doch diese Interpretation greift zu kurz. Obwohl die neue Freiheit nicht zuletzt in Gegenwendung gegen die Religion entstand, stammt die Wertschätzung des einzelnen Menschen doch gerade aus der jüdisch-christlichen Tradition. Der Mensch als Ebenbild Gottes – höher konnte man die Würde des Menschen nicht ansiedeln. Und gemeint war tatsächlich jeder einzelne Mensch, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Stand. Vor Gott sind sie alle gleich. Das war ein Vorverweis auf die säkulare Version, die demokratische Gleichheit. Aber auch die personale Freiheit war hier schon verankert, in der je eigenen Entscheidung für Gottesnähe oder Gottesferne, also in der Verantwortung für das eigene Gewissen.
Was das christliche Person-Sein von der liberalen Individualität jedoch unterscheidet, ist der Glauben an die gemeinsame Verwurzelung in einem Grund, der nicht selbst geschaffen ist. Nicht das Einzeln-Sein ist nach dieser Sicht Ausdruck der menschlichen Natur, sondern das Gemeinsam-Sein. Hier wird die Bindung also nicht zur Last, sondern zum tragenden Fundament.
Die Demokratie, die westlichen Werte leben vor allem von den Menschen, die für sie eintreten. Fällt das nicht leichter, wenn man in ihnen das Gemeinsame sieht? Ein bloßes Nutzenkalkül, die Berechnung von Einsatz und Gewinn in Bezug auf Selbsterhaltung und Bewahrung des Systems, hat wenig Begeisterndes. In den Wurzeln unserer westlichen Kultur liegt hingegen etwas, das begeistern kann. Es wäre gut, sich ab und zu darauf besinnen.