Im Schatten des GazakriegesDer "Tag des Judentums" in Österreich

Am 17. Januar begeht man in Österreich und anderen Ländern den "Tag des Judentums" – der Beitrag der Christen zum "Nie wieder" nach der Schoah. In diesem Jahr steht er im Schatten des Pogroms der Hamas und des Gazakrieges. Der christlich-jüdische Dialog sollte das zum Anlass nehmen, die Bedeutung des Staates Israel in den Blick zu nehmen.

Judenplatz in Wien
© Pixabay

Die Aufarbeitung der Schoah in den deutschsprachigen Ländern hat zu einer Erinnerungskultur geführt, deren gesellschaftliche und politische Forderung lautet: "Nie wieder!" Für die Mehrheitsgesellschaft bedeutet dies in erster Linie nie wieder Krieg, dann aber auch nie wieder Antisemitismus. Für Juden und Jüdinnen liegt der Akzent etwas anders: Nie wieder Schoah, nie wieder sich wehrlos abschlachten lassen, steht an erster Stelle.

Um dieses "Nie wieder!" in der Öffentlichkeit zu verankern, sind verschiedene Gedenktage eingeführt worden: Die Erinnerung an die Reichspogromnacht von 1938 am 9. November. Dann der 27. Januar; er ist in Deutschland seit 1996 Gedenktag zur Befreiung des Vernichtungslagers von Auschwitz-Birkenau und wurde von der UNO 2005 zum "Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust" erklärt. In Israel wird der Jom haSchoah, der Schoah-Gedenktag am 27. Nisan begangen. Am Mittag heulen die Sirenen, und das öffentliche Leben steht für eine Gedenkminute still.

Der "Tag des Judentums" der Kirchen steht im weiteren Zusammenhang dieser Erinnerungskultur. Er will aber nicht nur Antijudaismus und Antisemitismus überwinden. Er setzt auch nicht auf deren direktes Bekämpfen. Vielmehr soll sich die erneuerte Sicht des christlichen Glaubens auf das Judentum, wie sie das Konzilsdokument "Nostra Aetate" vorgibt, unter den Gläubigen verbreiten. Durch Begegnungen, Dialog und Gottesdienst soll das reiche geistliche Erbe, das Juden und Christen gemeinsam ist, erfahrbar gemacht werden. Dieser positive und indirekte Ansatz stellt die nachhaltigste Weise dar, die "Lehre der Verachtung" (Jules Isaak) zu überwinden, die das Christentum gegenüber den Juden über Jahrhunderte geprägt hat.

Jüdisch-christlicher Dialog und Ökumene

Ähnlich wie die Streitigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten beide Konfessionen in einseitige Betonungen von Gnade versus Werk, von Schrift versus Tradition, von Sakrament versus Wort Gottes geführt hatte, so ist hat sich auch der Streit um Jesus aus Nazareth und die Deutung der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus zu einer verzerrten Wahrnehmung der Heilsgeschichte geführt.

Die historisch komplexe Entwicklung der ersten Jahrhunderte von Streit und Polemik, die zum rabbinischen Judentum und zum Christentum geführt hat, wird heute in der Forschung mit dem Begriff Parting of the Ways, das Auseinandergehen der Wege, bezeichnet. Bereits in den Achtzigerjahren wurden von einem "Urschisma" zwischen Juden und Christen gesprochen. So wurde der Tag des Judentums auf den 17. Januar gelegt, also unmittelbar vor die "Gebetswoche für die Einheit der Christen".

Seit Johannes Paul II. betont die Kirche immer wieder, dass der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk bis heute seine Gültigkeit hat.

Er soll zuerst ein Tag des Lernens sein, um je tiefer zu verstehen, welchen Auftrag Juden und Christen Seite an Seite in dieser Welt haben und wer sie je sind. So formuliert Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium": "Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes und lässt einen Weisheitsschatz entstehen, der aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entspringt… [Es] besteht eine reiche Komplementarität, die uns erlaubt, die Texte der hebräischen Bibel gemeinsam zu lesen und uns gegenseitig zu helfen, die Reichtümer des Wortes Gottes zu ergründen sowie viele ethische Überzeugungen und die gemeinsame Sorge um die Gerechtigkeit und die Entwicklung der Völker miteinander zu teilen." (249)

Gerade die Hebräische Bibel zusammen mit der rabbinischen Auslegung neu zu erschließen, bedeutet eine Einseitigkeit zu überwinden, die sich daraus ergeben hat, dass sich die Kirche in der Heilsgeschichte an die Stelle des Judentums gesetzt hat. Doch seit Johannes Paul II. betont die Kirche immer wieder, dass der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk bis heute seine Gültigkeit hat. Daran zu erinnern, stellt ein Hauptziel des Tags des Judentums dar.

Leider konnte sich die Deutsche Bischofskonferenz nicht zu einem Tag des Judentums durchringen.

In der katholischen Kirche Italiens wurde er 1990 zum ersten Mal begangen, 1997 folgte Polen, 1999 die Niederlande und 2001 Österreich. Nach einer weltweiten Konsultation 2006 forderte der Vatikan alle Bischofskonferenzen auf, die Einführung eines Tags des Judentums zu prüfen. So entschieden sich die Schweizer Bischöfe 2011 für einen Tag des Judentums, wählten dazu jedoch den Zweiten Fastensonntag, um einen Akzent in der Umkehr und Vorbereitung auf Ostern/Pessach zu setzen und mit einem Sonntag, der geistlich nah dem Schabbat steht, möglichst viele Gläubige zu erreichen.

Leider konnte sich die Deutsche Bischofskonferenz nicht zu einem Tag des Judentums durchringen. Man habe bereits genügend Erinnerungstage, die Schoah aufzuarbeiten und die positiven Beziehungen zu Juden zu pflegen. Es wurde auf die "Woche der Brüderlichkeit" verwiesen, die seit 1952 vom Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit durchgeführt wird. 2023 gab der Rat allerdings bekannt, dass er in Zukunft regelmäßig mit einem Motto zu einem "Jahr der Christlich-jüdischen Zusammenarbeit" einlädt.

Hier zeigt sich, wie sich zwei Horizonte überlagern: Einerseits die Aufarbeitung der Schoah und die Bekämpfung von Antijudaismus und Antisemitismus, andrerseits eine Vertiefung der jüdisch-christlichen Beziehung und des christlichen Glaubens.

Die Fratze des Antisemitismus

2024 kommt in besonderer Weise ein weiterer Aspekt hinzu. Wie steht es um den Staat Israel? Er gehört zum Selbstverständnis des jüdischen Volkes, wobei in Israel seit einem Jahr säkulare und nationalreligiöse Kräfte um die Gesellschaftsform ringen. Und seit dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist Israel in einen blutigen Krieg verwickelt.

Erinnern wir uns: Um ein "Nie wieder!" zu erreichen wurde 1945 die UNO gegründet. 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte veröffentlicht, und in den Fünfzigerjahren begann der Prozess, der zur Europäischen Union führen sollte. In einzelnen Staaten wurden Gesetze erlassen, die nationalsozialistische Äußerungen sowie Antisemitismus und Rassismus unter Strafe stellen.

Die politisch wichtigste Maßnahme, jüdisches Leben zu schützen, war sicher der UNO-Entscheid vom 29. November 1947, einen israelischen und einen palästinensischen Staat zu errichten. Damit erreichte der politische Zionismus, der im 19. Jahrhundert zur Lösung der sogenannten "Judenfrage" entstanden ist und in Palästina bereits ein Gemeinwesen mit 700.000 Juden und Jüdinnen aufgebaut hat, ein wichtiges Etappenziel. Während die arabische Seite es ablehnte, einen palästinensischen Staat auf dem Territorium zu errichten, das die Siegermächte des Ersten Weltkriegs übrigließen, nachdem sie Jordanien, Syrien und Libanon geschaffen hatten, schufen die Zionisten einen Rechtsstaat, der dem jüdischen Volk Selbstbestimmung und politische Sicherheit geben sollte.

Nicht nur ein islamistischer Antisemitismus und Fundamentalismus hat seine Fratze gezeigt, sondern ein breiter Antisemitismus von liberalen und auch linken Gesellschaftskreisen im Westen ist sichtbar geworden.

Am vergangenen 7. Oktober ist nun aber durch das barbarische Pogrom der Hamas nicht nur für die Israelis und die Juden weltweit, sondern auch für die europäische und westliche Gesellschaft die Illusion geplatzt, dass die "Judenfrage" gelöst sei: Einerseits hat das Pogrom gerade auf dem Territorium des völkerrechtlich anerkannten Staates Israel stattgefunden und zwar aus einem Gebiet heraus, aus dem sich Israel vor 18 Jahren zurückgezogen hat und dabei mit Gewalt gegen die eigenen Siedler vorgehen musste. Der Staat Israel konnte seine Bevölkerung also nicht schützen. Andererseits hat nicht nur ein islamistischer Antisemitismus und Fundamentalismus hat seine Fratze gezeigt, sondern ein breiter Antisemitismus von liberalen und auch linken Gesellschaftskreisen im Westen ist sichtbar geworden.

Trotz aller Aufarbeitung und Erinnerungskultur sind verschiedenste Formen von Judenhass und Ablehnung jüdischer Selbstbestimmung immer noch lebendig. Das Pogrom der Hamas und der dadurch ausgelöste Gazakrieg, der schon viel zu viele zivile Opfer gefordert hat, ist nicht nur eine Angelegenheit des Nahostkonflikts. Die alte europäische "Judenfrage" stellt sich vielmehr in modifizierter Weise und im Kontext einer globalen Welt, die dabei ist, ihre zukünftige Weltordnung zu finden, neu.

Fünf Konsequenzen für den jüdisch-christlichen Dialog

Auch wenn der Tag des Judentums eine Institution der Kirche ist und ein religiöses Ziel verfolgt, können Christen den Dialog mit Juden und Jüdinnen nur führen, wenn sie sie in ihrem Selbstverständnis wahrnehmen. Dies fällt aus Glaubensperspektive zum Teil schwer, weil der Blick durch die jüdisch-christliche Geschichte und die Bibel geprägt ist. So ist für viele das Judentum immer noch das Volk des Alten Testaments, als ob es seit 2000 Jahren keine Veränderungen durchlaufen hätte. Und das Neue Testament mit seinen Erzählungen von Schriftgelehrten, Pharisäern und Juden, das vom Blick zweier später getrennten Religionen prägt ist, führt dazu, dass nur der "hermeneutische Jude" gesehen wird, das heißt der Jude, wie er aus Texten herausgelesen wird. Soll der Dialog aber heute auf Augenhöhe stattfinden, muss die Vielfalt des Judentums in Israel/Palästina wie auch in der weltweiten Diaspora gesehen werden.

Für den jüdisch-christlichen Dialog ergibt sich nach dem 7. Oktober 2023 meines Erachtens Folgendes:

  • Antijudaismus und Antisemitismus verwandeln sich wie ein Chamäleon. Sie müssen weiterhin in allen Formen bekämpft werden.
  • Juden und Jüdinnen verdienen aktive Solidarität und konkreten Beistand von Christen, weil sie Mitmenschen, aber auch weil sie Glieder des Volks des ungekündigten Bundes mit Gott sind.
  • Da das Judentum wie die Kirche einen Auftrag hat, das Gottesgedenken in dieser Menschheit wachzuhalten und auf Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Erlösung aller Menschen hin unterwegs zu sein, gilt es, diesem Anspruch auch im gesellschaftlichen politischen Alltag des Nahostkonflikts gerecht zu werden.
  • Eine Theologie des biblisch verheißenen Landes sucht Vertiefung. Sie muss der besonderen Beziehung des jüdischen Volkes zum Land gerecht werden und das Zusammenleben aller Menschen in Frieden und Gerechtigkeit stützen, gemäß Grundsätzen, die die kirchliche Soziallehre und christliche Ethik skizzieren.
  • Der Dialog zwischen Christen und Juden ist immer auch für den Dialog mit den Muslimen offen zu halten. Vielleicht gelingt es der Kirche, gerade in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt vermittelnd zu wirken.

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