Im Westen fühlen sich Juden zunehmend als Fremde, in Israel sind sie von Feinden umgeben. Kein Wunder, dass ein Selbstverteidigungsmodus die Oberhand gewinnt, der sich mit nationalreligiösem Pathos schmückt. Vorstellungen von Landbesitz, Existenzkampf und Träume von einer Wiedererrichtung des Tempels verbreiten sich. In dieser Lage macht nur Eines Hoffnung: die unverwüstliche jüdische Streitkultur.

Es sei Israels Shoah-Moment gewesen, hieß es verschiedentlich über den 7. Oktober 2023. Nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind an einem Tag so viele jüdische Menschen ermordet worden, nie fanden sie sich in einer solchen Wehrlosigkeit preisgegeben der Willkür ihrer Mörder. Doch das eigentliche Shoah-Moment lag eher woanders: In der Anzahl, dem Organisationsgrad, der Entschlossenheit und der mit Sadismus unterfütterten Brutalität, mit der die Täter vorgingen. Man musste zur Kenntnis nehmen: Die eingeschliffenen martialischen Redensarten der Hamas waren keinesfalls bildlich gemeint, und wäre es den Eindringlingen möglich gewesen, noch mehr Juden zu töten, sie hätten es mit Begeisterung getan. Keine Mutter in Israel konnte fortan ihre Kinder betrachten, ohne das Bewusstsein, dass ein beträchtlicher Teil ihrer Nachbarschaft sich danach sehnte, diese tot zu sehen, womöglich noch auf unaussprechliche Weise gequält und gefoltert. Plötzlich waren alle Israelis faktisch zu Überlebenden geworden.

Der Schock dieser Erkenntnisse breitete sich über alle weltanschaulichen und religiösen Spektren der Gesellschaft aus, und er weckte genau jene archaischen jüdischen Ängste, die der Staat Israel einst zu überwinden angetreten war. Misstrauen, Hass, Verhärtung, begleitet von existenzieller Angst, waren in den Diskursen der Menschen in der Folge unüberhörbar – nicht bei allen und nicht überall in derselben Intensität, aber dennoch: In der schon zuvor aufgrund innerer Verwerfungen im Aufruhr befindlichen Gesellschaft Israels richtete der 7. Oktober mit seinen rund 1200 Ermordeten und weit über 200 Verschleppten emotionale Verheerungen an, deren Ausmaß und Nachhaltigkeit außerhalb des Landes kaum verstanden worden sind.

Ein Schock: der neue Antisemitismus von Links

Hinzu kamen die bekannten Aufwallungen von Israel- und auch offenem Judenhass in den westlichen Ländern. Man konnte mit Händen greifen, wie jüdische Menschen, die sich in ihren Heimatländern teilweise schon vorher nicht mehr ganz so sicher gefühlt hatten wie noch einige Jahre zuvor, nun radikal zu Fremden wurden. "Wir sind wieder zu Schutzjuden geworden", formulierte es ein Schweizer Rabbiner, was wie ein Rückfall in voremanzipatorische Zeiten klingt, als es die Obrigkeit war, die Juden gewisse Garantien für ihre Unversehrtheit gab, was zugleich ihre Nichtzugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft festschrieb. Dass es gerade auch linke und linksliberale Intellektuelle waren, die sich der klaren Distanzierung von den Hamas-Verbrechen und dem Anrecht Israels, sich dagegen zu wehren, die sich aber auch der vollen Solidarität mit Jüdinnen und Juden auf den Campus der Universitäten verweigerten (am jämmerlichsten demonstriert bei der Anhörung dreier Universitätspräsidentinnen vor dem US-Kongress im Februar), war wiederum auch für die Bevölkerung Israels ein Schock. Besonders jene Hunderttausende, die vor dem 7. Oktober wöchentlich (und manchmal noch öfter) gegen die Zerstörung eines demokratischen Rechtswesens demonstriert hatten, sahen sich der vermeintlichen Verbündeten im Kampf für eine freiheitlich demokratische Ordnung beraubt. Und die nationalistischen, teils rechtsextremen Exponenten innerhalb und im Umfeld der Regierung, die sich konstant weigerte, ihre Verantwortung für die Verheerungen des 7. Oktober einzugestehen, konnten ihr Narrativ vom ewigen, unstillbaren und durch nichts zu bezähmenden Hass der ganzen Welt auf das jüdische Volk weiterpflegen und nach und nach mit pseudomessianischen Ansprüchen wie der jüdischen Besiedlung Gazas und selbst des Libanon auffüllen. Die beschämende Preisgabe einer großen Zahl von Geiseln aufgrund einer zynischen politischen Agenda ist dabei nicht zuletzt ein Verrat an der zionistischen Idee und wird eine furchtbare Befleckung auf der Geschichte der Folgen des Überfalls bleiben.

Sich über eine wie immer auch geartete Möglichkeit der näheren politischen Zukunft auszulassen, ist zum Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, kurz nach der Tötung des Hizbollah-Chefs Hassan Nasrallah, sicher eher die Sache der – einander teilweise diametral widersprechenden – medialen Auguren als dieses Beitrags. Eher schon ist hier die Frage am Platz, was die Zukunft des Judentums wie auch der Beziehung der Umwelt gegenüber dem Judentum sein kann in einer Welt, die nach dem Datum des 7. Oktober nie wieder dieselbe sein kann.

Das hochsublimierte talmudische wird von einem rauen biblischen Verständnis des Judentums abgelöst – ohne dass sich die Mehrheit jener, die diesen Schritt vollziehen, sich dessen bewusst zu sein scheint.

In einer Welt, deren demokratische Staaten rapide wachsende, zum Teil dominante politische Parteien und Exponenten reaktionärer Ausrichtung verzeichnen, andererseits gerade in Europa ein fast ungebremstes Agieren islamistischer Scharfmacher, ist nicht zu erwarten, dass gerade das retraumatisierte Israel eine pragmatische, mit aller Macht dem bereits mehrmals gescheiterten Projekt einer Zweistaatenlösung zustrebende Lösung suchen wird. Es ist mit Händen zu greifen, dass der wachsende Einfluss des Judentums in Israel nicht in die Richtung einer (teilweise zwangsweise) domestizierten Diasporareligion zeigt, sondern sich um Landbesitz, Existenzkampf und allenfalls auch Träume einer realen Wiedererrichtung des Tempels gruppiert. Das hochsublimierte talmudische wird von einem rauen biblischen Verständnis des Judentums abgelöst – ohne dass sich die Mehrheit jener, die diesen Schritt vollziehen, dessen bewusst zu sein scheint. Der Historiker Noam Zadoff zitiert in seiner Biografie des aus Berlin stammenden Jerusalemer Judaisten Gershom Scholem (1897-1982) dessen Witwe Fania Scholem, die anlässlich des ersten Jahrestags von dessen Tod meinte, ihr Mann habe zur Zeit der Staatsgründung 1948 gemeint, "dass wir dafür teuer bezahlen müssen. Zwei gewichtige Ereignisse – Holocaust und Neubelebung – von denen das Volk nacheinander heimgesucht wurde – das sei mehr als was ein Volk unbeschadet ertragen könne." Aufgrund einer Konzentration aller Begabungen und Kräfte in den Bereich der Sicherheit müsse man "mit einem geistigen und moralischen Niedergang des jüdischen Volkes rechnen."

Der jüdische Genius

Viele wären rasch zur Hand, um zu erklären, dass sich dies, schon vor der Katastrophe des 7. Oktober abzuzeichnen begonnen habe und nun wohl noch tiefer in den Orkus führen werde. Und dennoch – wer die Gegenwart unbesehen auf diese Weise in die Zukunft hochrechnet, unterschätzt womöglich das, was ich hier, ohne Anflug von Überheblichkeit, als jüdischen Genius bezeichnen möchte. Das geistige Erbe, der immense Resonanzraum aus weit über 2000 Jahren Geschichte, dürfte zu reich sein, um sich in einem tumben, sich mit nationalreligiösem Pathos schmückenden Selbstverteidigungsmodus zu erschöpfen. Wenn es ein in jener Zeit erworbenes Erbe gibt, dem das Judentum nie wird entsagen können, so ist es eine unverwüstliche Streitkultur, die keine Lösung zulässt, ohne sie auch gleich wieder zu hinterfragen und auf den Kopf zu stellen.

Wenn es – was derzeit ungewiss ist – Israel schafft, sich relativ bald wieder in gesicherterer Position seinen inneren Problemen und der unmittelbaren Frage des Zusammenlebens mit allen Nachbarn, einschließlich der Palästinenser, zu widmen, darf man die regenerativen Kräfte dieses Landes und seiner Bevölkerung nicht unterschätzen. Man mag dies Zweckoptimismus nennen – aber gibt es überhaupt etwas Jüdischeres und Widerständigeres (als zähes Erbe, das sich aus den Jahrtausenden der Diaspora in die Staatlichkeit hinübergerettet hat) als Zweckoptimismus?

Die Gesellschaften des Westens wären gut beraten, den warnenden und anklagenden jüdischen Stimmen in ihren Ländern höchste Aufmerksamkeit zu schenken.

Anders sieht es außerhalb Israels aus. Bekanntlich gilt das Wohlbefinden der jüdischen Minderheit in einem Land als Indikator für dessen Gesamtzustand. Die Gesellschaften des Westens wären gut beraten, den warnenden und anklagenden jüdischen Stimmen in ihren Ländern höchste Aufmerksamkeit zu schenken. Zu oft werden diese heute noch als verklausulierte politische Botschafter Israels diskreditiert oder ihre Rufe zum ewigen Nörgeln einer doch im Grunde etablierten Minderheit deklariert.

Fakt ist aber: Das Jahr seit dem 7. Oktober war das schlimmste Jahr, für Israel, für die jüdische Welt, vielleicht für die Zivilisation insgesamt seit fast achtzig Jahren. Es könnte das Tor zum Abgrund sein – oder ein fürchterliches Stahlbad, nach welchem wir beginnen, unsere Wertewelt sorgfältig wieder zu ordnen und stabiler zusammenzubauen.

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