Der Negroni ist ein widersprüchliches Getränk. Er betont die einzelnen Zutaten und lebt gleichzeitig davon, dass sie untrennbar vermischt werden. Die Süße des Vermouths mit den Kräutern des Gins, gegen die Bitter-Süßlichkeit des Campari. Die Mischung je zu gleichen Teilen auf Eis erzeugt dieses Getränk, von dem der erste Schluck geschmacklich – sicherlich auch durch den Alkohol – wie ein belebendes Schnalzen wirkt, das zweite Glas aber den Verstand ausschaltet. Wozu diese Gratwanderung?
Wir nehmen beide einen Schluck aus unseren Tumblern. Das Eis hat den "Drink" – wie viele Bilder sich in diesem Wort verdichten – angenehm gekühlt. Im Mund entfaltet sich der Geschmack und läuft, etwas erwärmt, aber immer noch kühl, den Hals herunter. Wir sind in unserem Gespräch nicht weitergekommen. Die Frage lautete zuletzt, wie das Verhältnis von Politik und Kirche ist. Oder war es: sein sollte?
Als Martin Luther die Reformation lostrat, wollte er gar keine neue Kirche schaffen, sondern seine Kirche reformieren. Das ging nicht. Er hätte damit den Katholizismus in Deutschland abgeschafft. So wurde, getragen vom virulenten Wunsch nationaler Selbstbestimmung, die Reformation Ausgangspunkt des Protestantismus und der Evangelischen Kirchen. Wie könnte so eine Kirche nicht politisch sein? Aber ist das das Spannungsverhältnis, das wir meinen, in den Zutaten unseres glühend roten Getränks wiederzufinden? Wir schauen uns an und – die Gedanken des anderen jeweils erahnend – verneinen wortlos. Wie schön die Orange gerade durchkommt.
Gott und mein Recht
Aufbauend auf einer katholischen Kirche, die im Rahmen des Investiturstreites die Grundlage für die Struktur des modernen Rechtsstaates geschaffen hatte, führte Martin Luther die individuelle Verantwortung vor Gott ins Zentrum der von ihn entwickelten religiösen Praxis, ohne den objektiven Überbau abzuschaffen. Sowohl das eine als auch das andere bildete die Grundstruktur für das, was wir heute den Westen nennen. Anders gesagt: Die politische Äußerung der römischen und der evangelischen Kirche ist die Erschaffung des Westens.
Die Eiswürfel schlagen gegen das Glas. Der Geruch des Negroni harmoniert fabelhaft mit den Resten an 4711, die als Nuance im Raum liegen. "Gott und mein Recht" prangt auf dem Etikett, das sich ein Kölner Unternehmer ausgedacht hatte.
Die gegenwärtige Kritik an der Kirche geht aus dieser unproduktiven Logik nicht heraus. Die lautesten wollen meist, dass die Kirche ihren eigenen Äußerungen entspricht. Das ist dann aber keine Kritik, sondern Spießigkeit, die ein "Wir" verlangt, damit man auf "die Anderen" zeigen kann.
Unsere Entdeckung anhand der kleinen Artefakte der in dieser Zeit hart erarbeiteten Bürgerlichkeit: Die Kirche kann nicht anders als politisch sein, denn sie existiert in jenem durch und durch politischen Raum, den sie selbst erschaffen hat. Die Forderung, dass eine Institution "unpolitisch" sein möge, ist allzu häufig die recht eigentliche Forderung danach, dass jemand nicht widerspreche. Damit wird aber die Forderung nach einer unpolitischen Kirche unredlich und die Frage nach dem politischen Mandat der Kirche umso dringender.
Die Plattitüden während der Vorspeise an diesem Abend: Politik ist ja nicht nur Parteipolitik! Aber das vergisst die Kirche manchmal! Und ja: Politik kann eben auch sein, die Menschen gegenüber dem Sog politischer Debatten abzuschirmen, zumal den aufgeheizten!
Die gegenwärtige Kritik an der Kirche geht aus dieser unproduktiven Logik nicht heraus. Die lautesten wollen meist, dass die Kirche ihren eigenen Äußerungen entspricht. Das ist dann aber keine Kritik, sondern Spießigkeit, die ein "Wir" verlangt, damit man auf "die Anderen" zeigen kann. Und wer einmal einen Jeep Grand Cherokee gefahren ist oder in Montauk aufs Meer geschaut hat, der will nicht mehr spießig sein.
Deshalb: Die Kirche muss sich politisch äußern, weil sie sich sonst gar nicht äußern kann. Die Frage ist vielmehr, auf welchen Bahnen sie sich im politischen Raum bewegt. Selbst wenn wir uns auf die Konstruktion "gesellschaftliche Wirkung" einigen. Die Frage ist nicht die nach der Abschaffung gesellschaftlicher Wirkung, sondern die Frage, wie Impulse gesetzt werden, die grundsätzlich sind, ohne generisch zu sein; die sich nicht auf das Partikulare der Parteipolitik beschränken, aber trotzdem Hilfestellung sein können, einzelne Fragen zu beantworten. Kurz: Wie kann die Kirche eben jenen Westen erhalten, der ihre Errungenschaft ist?
Die Hoffnung auf Erlösung
So viel Grundsätzlichkeit und der Ruf nach Kontroverse. Wir öffnen die Fenster. Der Oxford-Stoff der Oberhemden gleicht den plötzlichen Temperaturunterschied spielend aus. Die Baseballcap lüftend stehen wir am Fenster. Wir sind hier nicht in Amerika, sondern in Europa. Das sagt uns der Blick in alle Richtungen, die wir von hier aus sehen. Wie schön diese Bundesrepublik ist. Die Spießer rufen: NOCH! Aber doch: So schön ist sie, zwischen dem "Schönen, Guten, Wahren" und "Glaube, Liebe, Hoffnung." Auf diese können wir nicht verzichten, sie ostentativ abzulegen und anderen nehmen zu wollen, ist mindestens peinlich.
Also was ist es nun, das Politische der Kirche? Zuerst: Es gibt Wahrheit und zu dieser Wahrheit gehört, dass wir eine unumstößliche Hoffnung auf Erlösung haben, deren Vorhandensein überhaupt nur dann einen Sinn ergibt, wenn es einen Punkt gibt, von dem aus wir überhaupt Hoffnung benötigen. Dieser Punkt ist unsere Unvollständigkeit, unsere "Sünde". Sie anzunehmen, konturiert die westliche Gesellschaft: Wir schaffen nicht, perfekt zu sein.
Wir billigen uns das zu und sehen gleichzeitig die Perfektion, die über unserem Leben wartet. Nie ganz greifbar, nie ganz ersichtlich, aber unbestreitbar da. So entsteht der Anspruch an den Einzelnen und die Freude über jedes individuelle Streben nach Glück. Und zugleich gibt es die Einsicht, dass es ohne das Grundrecht auf Privatheit, den Schutz vor dem Zugriff des Kollektivs, nicht geht.
Angesichts dieses Anspruchs und Zuspruchs gibt es Kontroversen, weil wir uns mit unseren Mitteln um den Zugriff auf die Wahrheit streiten. Dass dieser Streit nicht eskaliert, dass der Einzelne an seinen Fehlern nicht zu Grunde geht, ist im politischen Sinn Aufgabe der Kirche. Zu deren Erfüllung hat sie über zwei Jahrtausende ein unschätzbares Geschenk an die Welt entwickelt und das ist die Schönheit des Gottesdienstes, die ästhetische Erfahrung des Exzesses zu Gott hin, wie es Hans Urs von Balthasar trefflich beschreibt.
Der Wassersprudler aus Israel gibt ein Zischen von sich. Das Leitungswasser ist jetzt mit Kohlensäure versetzt. Wir gießen es in die Glaskaraffe mit Eiswürfeln und Zitrone.
Der Trost der Schönheit
Wie schaffen wir das: Mit Schönheit in Kontakt kommen? Es gibt sie ja im Alltag, aber dann meist in funktionalisierter Form. Das ist kein innerer Zusammenhang, sondern Instrumentalisierung eines Empfindens: um anderen zu sagen, wie sie auszusehen haben, was sie zu kaufen haben, wer dazu gehört und wer nicht. Dabei ist echte Coolness gerade die, die zwar das "allgemeinverständlich" Coole nicht ablegt, aber gleichzeitig in individueller Überzeugung über den Dingen steht. Das ist Reformation. Die Evangelische Kirche ist gegenwärtig irgendwie uncool.
Die Monks klappern über unebene Pflastersteine. Wir schaffen es selbstredend rechtzeitig in den Gottesdienst. Die Bilder an den Wänden sagen uns, dass es etwas gibt, das über uns hinausgeht; dass da jemand ist, der über sich hinausgegangen ist, und uns damit das, was über uns ist, eröffnet hat. Das ist Trost. Auch der ist wahr. Die Liturgie handelt von diesem Trost, auch in ihrer Struktur, und das macht sie schön. Sie ist schön, weil sie keine spießige Erfindung, sondern Verkündigung ist. In dieser Liturgie begegnen uns das Wahre, das Schöne und das Gute und sie ermöglichen uns Glaube, Liebe und Hoffnung.
Danach sind wir auf der Suche, und diese Suche bleibt immer unvollständig, und darum suchen wir weiter: In der Gemeinschaft derjenigen, die suchen und dort jeder für sich, weil der andere mir nicht sagen kann, wie diese Suche, die, getragen vom Äußeren, in meinen Inneren stattfindet, für mich aussieht. Deshalb ist Privatheit so wichtig. In diesem Verhältnis bewegt sich die bürgerliche Existenz. Indem wir dieses Verhältnis aufrichten und aufrechterhalten werden wir zu Bürgern der westlichen Gesellschaft und die Kirche hat ihren politischen Auftrag ernst genommen.
Bürgerlicher Protestantismus und Totalitarismus
Glücklich legen wir zuhause angekommen Musik auf. Es ist natürlich total manieriert, Schallplatten zu hören. Der Riesling, den wir kalt gelegt hatten, hat zufällig auch einen Korken und keinen Schraubverschluss, obwohl der den Wein sogar besser schützt. Während die Kartoffeln kochen, haben wir Zeit für eine A-Seite von Elton John und zwei, drei Titel von Max Richter, von mehr wird man so betont intellektuell-melancholisch. Das muss nicht sein.
Wo waren wir stehengeblieben? Das schließen wir heute nicht mehr ab.
Bürgerlicher Protestantismus ist ein nie abgeschlossenes Erarbeiten, das seine eigene Fortsetzung in diesem Aushandlungsprozess immer wieder neu ermöglicht. Das trennt den Westen vom Totalitarismus. Und da wird die politische Dimension gleichzeitig konkret: Zum Beispiel in der NATO und in einem universalistischen Freiheitsbegriff, der sich nicht durch Kulturrelativismus irre machen lässt, sondern die Dimensionen dieser Freiheit, auch wenn sie selbst keinen endgültigen Zustand erreicht, benennen kann.
Das bedeutet auch, dass der bürgerliche Protestantismus Fürsprecher des Zionismus ist, denn er ist eine robuste Antwort auf eine Frage, an der sich die Menschheit entscheidet: Wie es möglich ist, dass Juden angesichts Jahrhunderte andauernder Verfolgung und Ermordung selbstbestimmt existieren können. Denn darum – überhaupt existieren zu können – geht es dabei, nicht weniger.
Die Kinder spielen im Nebenzimmer. Die abgesprochene Zeit neigt sich dem Ende. Gleich rüberzugehen, erzeugt das Bild des Getümmels und damit Vorfreude. Jemand hatte eine Carrera-Bahn gekauft. Zwei Sportwagen heizen über die Strecke, deren Fundament heute ein blau-roter Perserteppich ist. Wo waren wir stehengeblieben? Das schließen wir heute nicht mehr ab. Zwischen all dem liegt jedenfalls das politische Mandat der evangelischen Kirche.