Warum Migration klare Regeln brauchtDie Migrationskrise und der Streit um den Ordo amoris

Flucht vor Krieg, Klimawandel, Armut – Migration ist ein globales Phänomen. Doch welche moralischen Verpflichtungen haben Staaten? Eine gerechte Migrationspolitik braucht klare Regeln statt blinder Solidarität.

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Die Migration gehört zu jenen bedeutsamen Phänomenen, die zwar regional ein sehr unterschiedliches Gepräge aufweisen, inzwischen aber längst ein globales Ausmaß erreicht haben. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Sie reichen von der Zunahme kriegerischer Ereignisse und implodierender staatlicher Ordnungsstrukturen über politisch, ethnisch oder religiös motivierte Verfolgungen sowie einschneidende klimatische Veränderungen bis hin zu dem Wunsch, den schwierigen Lebensumständen in der Heimat zu entfliehen und in den Wohlstandsregionen dieser Welt ein besseres Leben zu führen. Im Umkreis der Migration stellen sich bekanntlich nicht nur grundlegende politische, wirtschaftliche und rechtliche Fragen, sondern auch verschiedene moralische und religiöse Herausforderungen, die weit über die Tagesaktualität hinausreichen.

Aufgrund der besonderen Brisanz dieser Thematik reicht es nicht, sich an bestimmten Einzelphänomenen abzuarbeiten: etwa aus deutscher Perspektive unter dem Eindruck der jüngsten Serie von Migranten verübter Gewalttaten in Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und München eine nicht erst seit 2015 fehlgeleitete Migrationspolitik und den staatlichen Kontrollverlust über den Zuzug nach Deutschland zu beklagen – oder mit Blick auf die USA die aktuellen Maßnahmen der Trump-Administration zur Ausweisung illegaler Einwanderer zu kritisieren, wie das jüngst Papst Franziskus in seinem Brandbrief an die amerikanischen Bischöfe getan hat.

Es geht vielmehr darum, die beiden für jede ethische Theorie entscheidenden Aspekte der Universalität bestimmter moralischer Ansprüche und der Partikularität der jeweiligen Handlungsumstände so miteinander ins Verhältnis zu setzen, das damit eine situativ stimmige Umsetzung universaler moralischer Standards erreicht und Verantwortungsdiffusionen vermieden werden. Genau darum geht es auch in dem moraltheologischen Lehrstück vom sogenannten ordo amoris, das versucht, den unbedingten Anspruch des christlichen Liebesgebotes mit den jeweils variablen Lebensumständen der einzelnen Akteure zu vermitteln. Ein angemessenes Verständnis dieser traditionellen Denkfigur, die selbstverständlich auch auf moderne Migrationsphänomene anwendbar ist, setzt allerdings die Klärung wenigstens dreier Elemente voraus:

Erstens ist es keineswegs selbstverständlich, welche moralischen Standards überhaupt einen universalen Geltungsanspruch erheben können. Das mag für den Schutz der Menschenwürde und einen Kernbereich der Menschenrechte – wie zum Beispiel das Recht auf Leben, den Schutz der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der individuellen Privatsphäre – noch einigermaßen unstrittig sein, doch gibt es längst problematische Ausweitungstendenzen, die partikulare Interessen durch die Reklamierung eines Menschenrechtsstatus durchzusetzen versuchen. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand seine Heimat verlässt, weil seine grundlegendsten Rechte bedroht sind, oder er sich ohne Not zur Auswanderung entschließt, um entweder einen schnelleren sozio-ökonomischen Aufstieg zu erreichen oder gar gezielt von den Sozialleistungen fremder Staaten zu profitieren.

Es gibt kein moralisches Recht, seinen Aufenthaltsort völlig frei zu wählen und in beliebige fremde Staaten einzuwandern, wenn diese Staaten dies nicht ausdrücklich zugestehen.

Im ersten Fall kann er sich auf das Individualrecht auf Asyl berufen, dessen Schutz einen integralen Bestandteil unserer modernen Rechtskultur bildet, im zweiten Fall dagegen nicht. Der massenhafte Missbrauch des Asylrechts ist vor allem deshalb so gefährlich, weil er auf Dauer dieses zentrale Grundrecht unterminiert. Es gibt kein moralisches Recht, seinen Aufenthaltsort völlig frei zu wählen und in beliebige fremde Staaten einzuwandern, wenn diese Staaten dies nicht ausdrücklich zugestehen.

Entgegen einem verbreiteten religiösen Missverständnis, dass aus der universalen Geschwisterlichkeit aller Menschen eine Relativierung staatlicher Zugehörigkeiten ableitet, ist ausdrücklich zu betonen, dass jeder Mensch – abgesehen davon, dass er kein Recht dazu hat, nach eigenem Gusto in fremde Staaten zu übersiedeln – zunächst einmal dazu verpflichtet ist, seine Fähigkeiten und Talente in den Dienst seines Herkunftslandes zu stellen, um dessen Entwicklung voranzutreiben. Dies schließt zwar eine rechtlich klar zu regelnde Arbeitsmigration keineswegs aus, doch stellt gerade die Auswanderung junger, gut qualifizierter Personen für die jeweiligen Heimatstaaten der auswanderungswilligen Personen eine schwere Belastung dar, die auf jeden Fall bei der moralischen Bewertung solcher Auswanderungspläne angemessen zu berücksichtigen ist.

Die jetzige Migrationspolitik ist ungerecht

Zweitens erfordert die Rede vom ordo amoris eine Klärung des systematischen Status des christlichen Liebesgebotes. Es wäre völlig verfehlt, diesen durch und durch religiös imprägnierten Grundsatz in ein universales Prinzip staatlicher Migrationspolitik umzumünzen. Als hochethische Weisung ist die Aufforderung zur Liebe für Christen zwar immer und überall verbindlich, doch bedeutet das nicht, dass die mehrheitlich aus nicht- oder andersgläubigen Bürgern bestehende Bevölkerung pluraler Staaten einfachhin auf diese Sichtweise verpflichtet werden könnte. Als forma virtutum schließt die christliche Liebe zwar alle anderen Tugenden in sich ein, doch geht sie über die Forderung insbesondere der Gerechtigkeit weit hinaus: Wer liebt, tut mehr, als er von Rechts wegen tun müsste.

Das Problem der deutschen Migrationspolitik besteht nicht primär darin, dass sie hinter den christlichen Forderungen der Liebe und Barmherzigkeit zurückbleibt, sondern dass sie schlicht ungerecht ist. Während sich Deutschland seit 2011 hinter den für die zentraleuropäischen Länder überaus komfortablen, in Wahr­heit aber unsolidarischen Regeln der Dublin-II-Verordnung versteckte und keinerlei Anstrengungen für eine faire Gestaltung der Einwanderungspolitik in Europa unternahm, erfolgte dann im Herbst 2015 völlig un­vermittelt eine Kehrtwendung der deutschen Bundeskanzlerin, die mit der Aufnahme von ca. 900.000 vor allem syrischen Flüchtlingen im Ergebnis zu einem weit­gehenden staatlichen Kontrollverlust über die faktische Einwanderung führte.

Gegenwärtig mangelt es in Europa an beidem – an fairen Regeln zur Steuerung der Migration ebenso wie am konsequenten Vollzug der erlassenen Gesetze. Beide ist schädlich für die Rechtskultur.

Weite Teile der christlichen Kirchen haben diese Vorgänge im Sinne einer ebenso naiven wie ungerechten „Willkommenskultur“ christlich verbrämt, ohne die zahlreichen politischen, ökonomischen und kulturellen Folgeprobleme dieser Entwicklung bislang einer (selbst-) kritischen Analyse zu unterziehen. Eine gerechte Migrationspolitik beruht dagegen auf klaren und transparenten Regeln, die zwischen den verschiedenen Migrantengruppen – also den echten Asylbewerbern, den subsidiären Schutz Suchenden und den reinen Wirtschaftsmigranten – klar differenziert und die dafür erlassenen Regelwerke auch konsequent in Übereinstimmung mit den europäischen Nachbarn politisch durchsetzt. Gegenwärtig mangelt es in Europa an beidem – an fairen Regeln zur Steuerung der Migration ebenso wie am konsequenten Vollzug der erlassenen Gesetze. Beides ist schädlich für die Rechtskultur.

Drittens verlangt die Rede vom ordo amoris die Offenlegung der Kriterien für die Zuweisung konkreter Verantwortlichkeiten. Von besonderer Bedeutung sind dabei zum einen die geografische und soziale Nähe und zum anderen die persönliche beziehungsweise gesellschaftliche Leistungsfähigkeit. Beide Aspekte sind wichtig. Zum einen modifiziert die teils selbst gewählte, teils schicksalhaft gegebene Nähe zu einem notleidenden Menschen unsere moralische Pflicht, diesem konkrete Hilfe zu leisten. Der Sinn des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) besteht genau darin, dass jeder dieser Nächste sein kann – unabhängig von sozialen, ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten. Jeder, der sich in meiner Nähe befindet, kann meiner Hilfe bedürfen, weshalb umgekehrt jeder auch zu solcher Nothilfe streng verpflichtet ist.

Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist dieses Nähe-Kriterium insofern von großer praktischer Bedeutung, als Kriege und Katastrophen regelmäßig dazu führen, dass Anrainerstaaten massive Hilfsleistungen erbringen müssen, um die notleidende Zivilbevölkerung zu versorgen. Auch hier wäre darüber nachzudenken, ob das internationale Hilfesystem für solche Notsituationen wirklich schon ausreichend ausgebaut ist oder weitere Anstrengungen der Weltgemeinschaft (einschließlich der USA) erforderlich sind, um die massive Not der Betroffenen zu lindern. Hier liegt die aktuelle Bedeutung des Kriteriums der Leistungsfähigkeit. Keiner kann alles tun, aber jeder soll das tun, was er leisten kann – nicht mehr und nicht weniger.

Die Lehre vom ordo amoris kann uns gerade in der völlig fehlgeleiteten Migrationspolitik vieler europäischer Länder helfen, unsere tatsächlichen Verantwortlichkeiten klarer zu erkennen und unser künftiges Handeln daran zu orientieren. Ein Schönreden vergangener Fehler hilft niemandem – am wenigsten den Menschen, die ihre Heimat aus guten Gründen verlassen mussten und jetzt auf unsere Solidarität wirklich angewiesen sind.

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