Mit den Wahlergebnissen der Bundestagswahl am letzten Sonntag konnten nur zwei Parteien zufrieden sein: die AfD, die bundesweit 20,8 Prozent errang, und die Linke, der 8,8 Prozent der Wählerstimmen zufielen. Der Erfolg der Letzteren hatte sich sehr kurzfristig angebahnt. Noch im November des letzten Jahres hatte die Partei die "Aktion Silberlocke" ausgerufen: Die alten Herren Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch sollten um ein Direktmandat kämpfen, damit sich die Linke, deren Umfragewerte ein Ergebnis unter 5 Prozent erwarten ließen, überhaupt Hoffnung auf eine Vertretung im Parlament machen konnte. Doch die überaus schnelle Trendwende, eine plötzliche Begeisterung für die Partei vor allem unter jungen Leuten, entlastete die "Silberlocken" von der Verantwortung für das parlamentarische Überleben der Partei. Nun kann sie, versehen mit einem doppelt so hohen Stimmenanteil wie die FDP, von sehr bequemer Position aus Opposition gegen die sich neu formierende Regierung machen.
Die Kritik an den etablierten Parteien verfängt
Weniger überraschend war das Abschneiden der AfD, die ihren bisherigen Stimmenanteil schlicht verdoppeln konnte. Hier war schon lange absehbar, dass sie mit ihrer immer schriller werdenden und tabubrechenden Rhetorik die Wähler offenbar nicht abschreckte, sondern anzog. Bei beiden extremen Parteien, der AfD wie der Linken, wird ein großer Teil ihres Erfolgs auf den gekonnten Einsatz von sozialen Medien zurückgeführt. Videoportale wie TikTok wurden mit kurzen, emotionalen Botschaften und mitreißender Musik virtuos bespielt, Ängste wurden geschürt, unrealistische Erwartungen geweckt. Wahrscheinlich ist es schwer zu ermitteln, welchen Anteil der digital geführte Wahlkampf an der Entscheidung der Wähler hatte. Doch selbst wenn sich diese nicht bloß von Kurzbotschaften, sondern auch von Wahlprogrammen oder anderen seriöseren Informationen von den besagten Parteien überzeugen ließen, wird eines erschreckend deutlich: Die Kritik an den etablierten Parteien, an den Parteien der Mitte verfängt. Rechnet man das BSW noch hinzu, so zeigten rund 35 Prozent der Wähler, dass sie in die Problemlösungskompetenz solcher Parteien wie CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP kein Vertrauen mehr haben. Sie fühlen sich von den etablierten Parteien offenbar nicht hinreichend ernst genommen und erteilen ihnen auf diese Weise einen Denkzettel.
Nun ist in nahezu allen westlichen Demokratien eine Neigung der Bürger zu den extremen politischen Rändern, in den letzten Jahren vor allem zum rechten Rand, festzustellen. In Deutschland kommt zu diesem Trend der Polarisierung aber noch ein wesentlicher Faktor hinzu: Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es eine klare Ost-West-Differenz im Wählerverhalten. Der Osten ist, von einigen kleinen Einsprengseln anderer Couleur abgesehen, tief (AfD-) blau. Wahlergebnisse von bis zu 49 Prozent in einzelnen Wahlkreisen zeugen davon, dass die Fremdheit mit dem Parteiensystem, wie es sich jahrzehntelang im Westen der Republik aufgebaut hatte, geblieben ist. Das Misstrauen in den Staat, in der Diktatur aus guten Gründen erlernt, wirkt möglicherweise auch in der Demokratie noch nach. Zudem wussten die Profiteure der Elitenkritik, die verklärende Sicht der DDR zu nutzen, welche gerade in den letzten Jahren Raum gegriffen hat. Dass die eigentlich doch ganz behagliche DDR in einem Akt der feindlichen Übernahme gekapert und ausgeschlachtet worden sei – dies nicht zuletzt das Werk der Treuhand –, war eine Geschichtsdeutung, die ihre Anhänger fand und das alte Feindbild modifiziert bewahrte. Früher hatte die PDS bzw. die Linke von dem im Osten verbreiteten Gefühl, vom Westen über den Tisch gezogen worden zu sein, profitiert. Nun ist es eben die AfD, obwohl sie ironischerweise ihrerseits ein West-Import ist.
Deutschland ist im dritten Jahr in der Rezession, hat mit einer zum Teil desaströsen Infrastruktur zu kämpfen, ist wegen des Ukrainekriegs innerlich zerrissen, beherrscht ganz offensichtlich die Folgen der Migration nicht, hinkt in der Digitalisierung hinterher, muss immer wieder mit terroristischen Anschlägen von Islamisten, Rechtsextremen und Linksextremen rechnen und findet keinen klaren Kurs in der Klimapolitik.
Diese Disposition bei vielen Wählern, das Zutrauen in die Parteien der Mitte verloren zu haben und sich den extremen Rändern zu nähern, trifft auf eine Lage, die gerade innere Geschlossenheit erfordern würde. Deutschland ist im dritten Jahr in der Rezession, hat mit einer zum Teil desaströsen Infrastruktur zu kämpfen, ist wegen des Ukrainekriegs innerlich zerrissen, beherrscht ganz offensichtlich die Folgen der Migration nicht, hinkt in der Digitalisierung hinterher, muss immer wieder mit terroristischen Anschlägen von Islamisten, Rechtsextremen und Linksextremen rechnen und findet keinen klaren Kurs in der Klimapolitik.
Bei der Ampel-Regierung hatten viele Bürger den Eindruck, sie würde sich eher um identitätspolitische Themen bemühen als um reale Probleme der Bürger wie Wohnungsnot, Schulklassen mit bis zu 80 Prozent nicht deutsch-sprechenden Kindern oder viel zu hohe Energiepreise. Es waren nicht zuletzt solche Erfahrungen oder Wahrnehmungen, welche das Vertrauen in die politische Klasse hatte schwinden lassen. Damit ist der Vertrauensschwund und die damit verbundene Neigung zu den politischen Extremen als zusätzliches Problem hinzugekommen. Freilich ist das nicht bloß ein Ergebnis der letzten Regierung, sondern ein längerfristiger Trend, dem so gut wie alle liberalen Demokratien zu erliegen scheinen, die mit ihren politischen Eliten offenbar immer unzufriedener werden.
Wo ist der Gegner?
Letztere stehen also vor der paradoxen Situation, eine Vielzahl gravierender Probleme lösen zu müssen und gleichzeitig bedenklich wenig Rückhalt in der Bevölkerung zu haben, welche ihrerseits die Uneinigkeit untereinander zu kultivieren scheint. Man hat den Eindruck, dass die Bürger sich in den letzten Jahren viel stärker politisiert haben, als es früher der Fall war, dass sie zugleich aber auch viel unversöhnlicher geworden sind, wenn es um das Tolerieren von Andersdenkenden geht. Die daraus entstehenden Auseinandersetzungen lassen Kräfte diffundieren, die jetzt für die nur gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben gebraucht würden. Krisensituationen erfordern eine Bündelung von Kräften, nicht deren Zerfall oder Verschleiß in sinnlosen inneren Kämpfen.
Es ist der neuen Regierung, wahrscheinlich eine schwarz-rote Koalition, die "Große Koalition" zu nennen man sich angesichts des Wahlergebnisses der SPD scheut, zu wünschen, dass sie zu einer Gemeinsamkeit findet, welche ein beherztes Angehen der anstehenden Aufgaben ermöglicht. Zu den häuslichen Herausforderungen gesellen sich natürlich noch diejenigen, die sich aus der veränderten Weltlage ergeben. Spätestens mit dem Überfall der Ukraine vor drei Jahren hat Putin gezeigt, dass er die Grenzen in Europa und wohl darüber hinaus neu ziehen und das russische Imperium wiederherstellen will. Schon viel länger führt er einen hybriden Krieg gegen den Westen, der mit Desinformation und Spaltung arbeitet, wozu ebenfalls die Unterstützung radikaler Kräfte in den liberalen Demokratien gehört. Auch China operiert so, das seinerseits imperiale Gelüste hat (siehe Taiwan) und dafür keine starke Gegnerschaft, etwa seitens der EU, brauchen kann. Beide bedienen sich also des Prinzips "Teile und Herrsche". Innere Spaltung schwächt den potenziellen Gegner. Schon das sollte die westlichen Demokratien aufrütteln, sich aus ihrer Beschäftigung mit internen Konflikten zu befreien und den Gegner dort zu verorten, wo er ist.
Trump stellt nicht weniger als die westliche Wertegemeinschaft infrage, wenn er Deals mit Autokraten der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in der Welt vorzieht.
Das empfiehlt sich umso mehr, als der bisherige Verbündete anscheinend bereit ist, die Seiten zu wechseln. Trump stellt nicht weniger als die westliche Wertegemeinschaft infrage, wenn er Deals mit Autokraten der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in der Welt vorzieht. In den USA kann man übrigens beobachten, wie sich Demokratien durch Aversion der Bürger gegen die etablierten Kräfte und Unversöhnlichkeit in der politischen Auseinandersetzung selbst demontieren können. Dann kommt eben ein Populist an die Macht, der die bestehenden demokratischen Institutionen aushöhlt, die Gewaltenteilung aufzuheben versucht und sich mithilfe von Milliardären aus der Technologiebranche der Medien bemächtigt. Dass dieser Mann der Vollstrecker dessen sein wird, was das Volk wirklich will und die politische Klasse bisher ignorierte, darf bezweifelt werden.
Innere Konflikte anzuheizen und Uneinigkeit zu schüren, ist im Interesse der Autokraten.
Für Deutschland, dem in der Europäischen Union und der NATO angesichts des möglichen Ausfalls der USA eine viel gewichtigere Rolle zufallen wird als bisher, bleibt nur, die Herausforderungen anzunehmen und ihnen konstruktiv zu begegnen. Dazu bedarf es der Unterstützung der Bürger. Diese haben der künftigen Regierung kein starkes Mandat erteilt. Sie können aber den Prozess der Problembearbeitung unterstützen, wenn sie sich nicht bloß als Kritiker, sondern auch als lösungsorientierte Mitgestalter des politischen Prozesses begreifen. Innere Konflikte anzuheizen und Uneinigkeit zu schüren, ist im Interesse der Autokraten. Sein Vertrauen Populisten zu schenken statt etablierten, wenn auch sicher reformbedürftigen politischen Kräften, kann die Demokratie gefährden. Angesichts dieser Alternative ist der Schulterschluss der Demokraten vielleicht doch die bessere Lösung. Das soll politische Differenzen nicht nivellieren oder gar unterdrücken. Es gilt nur, sie richtig zu gewichten angesichts einer Lage, die ohne ein Mindestmaß an gemeinsamer Anstrengung nicht zu bewältigen ist.