Heiliger KriegDie russisch-orthodoxe Kirche auf Abwegen

In einem Strategiepapier der russisch-orthodoxen Kirche wird das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine als "Heiliger Krieg" gegen den satanischen Westen eingestuft. Dem russischen Staat wird die Rolle des "Katechon" zugeschrieben, der das Kommen des Antichrist aufhalte. Muss die russische Kirche daran erinnert werden, dass diese Art von politischer Theologie seit dem Konzil von Nizäa 325 – erledigt ist?

Hauptkirche der Streitkräfte Russlands, Einweihung 2020
Hauptkirche der Streitkräfte Russlands, Einweihung 2020© mil.ru/Wikimedia Commons, CC BY 4.0

Im Neuen Testament gibt es eine dunkle Stelle, in der vom "Aufhalter", dem sogenannten "Katechon", die Rede ist. Er soll das Kommen des Antichristen verhindern. Die Stelle findet sich im zweiten Brief an die Thessalonicher, der seine Adressaten ermahnt, sich nicht verunsichern zu lassen, erst komme der "große Abfall vom Glauben", dann werde "der Mensch der Gesetzlosigkeit", der Antichrist, folgen (2 Thess 2, 6f.). Solange es noch eine retardierende Macht gebe, trete das Szenario der Endzeit nicht ein.

Einige Kirchenväter haben dem Römischen Reich die Funktion des Aufhalters beigemessen. Das Imperium sei ein Garant politischer Ordnung gegen drohenden Zerfall. Andere wie Irenäus von Lyon blieben zurückhaltend und erinnerten daran, dass Rom in der Offenbarung des Johannes als "Hure Babylon" bezeichnet werde.

Theologischen Weihen für neoimperialistische Kriegspolitik

Das sperrige Motiv des "Katechon" ist jüngst wieder aufgenommen worden. In einem Strategiepapier der russisch-orthodoxen Kirche kommt es vor, um der neoimperialen Kriegspolitik des Kreml theologische Weihen zu geben. Russland sei ein Bollwerk gegen die westliche Dekadenz. Schon der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt hatte in der Weimarer Krisenzeit ein Interesse an politischen Ordnungsmächten entwickelt. Der autoritäre Staat könne als "Katechon" fungieren und das Chaos aufhalten. Unter Rückgriff auf Schmitt hat der politische Philosoph und neurechte Denker Alexander Dugin, Mitglied des Moskauer Thinktanks "Katehon", Russland die Rolle des Aufhalters zugeschrieben und die geopolitische Expansion ausdrücklich begrüßt.

Bislang waren "Heilige Kriege" eine Spezialität des militanten Dschihadismus, der gegen die Dekadenz der "Ungläubigen" zu Felde zieht. Jetzt hat die toxische Denkfigur des "Heiligen Krieges", die der sinnlosen Aggression höheren Sinn zusprechen soll, Einzug in die russisch-orthodoxe Theologie gehalten.

Erstaunlich ist, dass die russisch-orthodoxe Kirche sich dieses Gedankengut nun offiziell zu eigen gemacht hat. Der Westen, der "das verbrecherische Regime in Kiew" unterstütze, wird in dem Strategiepapier als satanisch eingestuft. Dem widersetze sich Russland in einem "Heiligen Krieg". Statt die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und den Überfall auf die Ukraine 2022 friedensethisch anzuprangern, wird die "Spezialoperation", die bereits über 100.000 Opfer und unsägliches Leid in der Bevölkerung verursacht hat, von der russisch-orthodoxen Kirche zum "Heiligen Krieg" hochstilisiert. Bislang waren "Heilige Kriege" eine Spezialität des militanten Dschihadismus, der gegen die Dekadenz der "Ungläubigen" zu Felde zieht. Jetzt hat die toxische Denkfigur des "Heiligen Krieges", die der sinnlosen Aggression höheren Sinn zusprechen soll, Einzug in die russisch-orthodoxe Theologie gehalten.

Der enge Schulterschluss des Moskauer Patriarchen Kyrill mit Wladimir Putin basiert auf wechselseitigen Interessen. Die Kirche erhält vom Staat viel Geld und Privilegien, die Politik hingegen bekommt von der Kirche theologische Rückendeckung. Gewiss spielt auch die nationalistische Geschichtsideologie der "russischen Welt" eine Rolle, die in der Dreifaltigkeit von Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen in geopolitischer Absicht das eine Volk von Brüdern sieht. Überdies ist unter russischen Nationalisten die Ansicht verbreitet, dass Moskau nach dem Fall von Konstantinopel 1453 durch das Osmanische Reich die Rolle des "dritten Roms" eingenommen habe. Als verbliebenem Hort der Wahrheit falle ihm die Aufgabe zu, die Ausbreitung von Häresien aufzuhalten.

Nach der feierlichen Vereidigung zur fünften Amtszeit von Präsident Putin am 7. Mai gab es nun ein theologiepolitisch aufschlussreiches liturgisches Nachspiel. In der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale hielt Patriarch Kyrill eine Dankandacht ab. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche würdigte den russischen Präsidenten als von Gott erwählten politischen Führer. Wörtlich sagte er: "Gott helfe Ihnen, den Dienst, den Gott selbst Ihnen anvertraut hat, weiterhin mit Liebe zum Vaterland und mit Mut fortzusetzen." Diese theologische Legitimation der politischen Macht fand in einem Segen zeremoniellen Ausdruck. Sie wirft die Frage auf, ob die russisch-orthodoxe Kirche sich als Magd der Politik andient – oder ob sie vielleicht sogar die heimliche Herrin der politischen Agenda ist. Drei Wangenküsse zwischen dem Patriarchen und dem Präsidenten und die Übergabe einer Marien-Ikone an Putin waren das sichtbare Symbol der engen Symbiose von Kirche und Staat.

Die geschichtstheologische Sicht des Patriarchen aber ist kühn und verwerflich. Sie beansprucht zunächst, mit Gottes Auge zwischen guten und bösen Mächten in der Geschichte unterscheiden zu können, und überspringt so den eschatologischen Vorbehalt. Sie stilisiert sodann Putin zu einem Instrument der göttlichen Vorsehung, der Russland als Bollwerk gegen den "Satanismus des Westens" stärkt. Ob Russland aber als "Aufhalter" der Gottlosigkeit angesehen werden kann, wie Kyrill meint, oder ob es nicht eher – im Sprachspiel der Apokalypse gesagt – die Rolle der "Hure Babylon" übernimmt, wäre die Frage. Weiter ist es ein Hohn, das "Brudervolk" der Ukraine, das zur "heiligen Rus" gehört, wie den schlimmsten Feind zu behandeln und ihm in paternalistischer Arroganz das Selbstbestimmungsrecht abzusprechen.

Statt den Rat des Papstes gegen politische Idolatrie anzunehmen, betreibt Kyrill nun eine gezielte Umwertung der Werte, wenn er den verbrecherischen Krieg als "heilig" bezeichnet. Einen Angriffskrieg im Namen Gottes zu legitimieren, ist Blasphemie.

Theologisch übergeht der Patriarch das subversive Potenzial, das im Glaubensbekenntnis steckt. Wer sich in Gebet und Gottesdienst an Christus als den "Herrn aller Herren" wendet, sollte davor gefeit sein, menschliche Potentaten zu glorifizieren oder zu nationalen Heilbringern zu stilisieren. Papst Franziskus hat den russischen Patriarchen in einer gemeinsamen Videokonferenz schon früh davor gewarnt, sich zum Ministranten des politischen Machthabers anzudienen. Statt den Rat des Papstes gegen politische Idolatrie anzunehmen, betreibt Kyrill nun eine gezielte Umwertung der Werte, wenn er den verbrecherischen Krieg als "heilig" bezeichnet. Einen Angriffskrieg im Namen Gottes zu legitimieren, ist Blasphemie. Das gilt nicht nur für militante Dschihadisten, sondern auch für höchste kirchliche Würdenträger. Schließlich erschwert der Glaube an den dreieinen Gott politische Theologien, die Autokraten rechtfertigen wollen.

Der dreieine Gott im Himmel eignet sich nicht, autokratische Herrschaftsformen auf Erden zu rechtfertigen

In seinem berühmten Aufsatz "Der Monotheismus als politisches Problem" hat Erik Peterson darauf hingewiesen, dass es vor allem arianische Theologen waren, die in der Monarchie Gottes im Himmel die Grundlage für die Monarchie des Kaisers auf Erden sahen. Arius wollte bekanntlich die absolute Monarchie Gottes dadurch wahren, dass er das Verhältnis zwischen Vater und Sohn als Unterordnung bestimmte. Er sprach Jesus Christus ab, Gottes Sohn zu sein. Die Devise "Ein Gott – ein Kaiser – ein Reich" erfährt aber durch die trinitarische Fortschreibung des Monotheismus eine Brechung.

Das Konzil von Nicäa 325 hat gegen Arius die Gleichwesentlichkeit von Vater und Sohn definiert und damit in den Gottesbegriff eine Beziehung eingetragen. Damit ist die absolute Monarchie des einen Gottes, die Arius durch die Unterordnung des Sohnes sichern wollte, entscheidend transformiert. Ein trinitarischer Gott im Himmel eignet sich nicht, autokratische Herrschaftsformen auf Erden zu rechtfertigen. Kaum zufällig waren die Reichstheologen des 4. Jahrhunderts, die in Kaiser Konstantin einen göttlich legitimierten Herrscher sahen, alle Arianer. Das orthodoxe Bekenntnis zum Konzil von Nicäa, das die Beziehung zwischen Vater und Sohn nicht als Unter-, sondern als Gleichordnung definiert, steht quer zu Denkmustern, welche die absolute Monopolstellung eines Herrschers mit der absoluten Monopolstellung Gottes rechtfertigen wollen.

Die russisch-orthodoxe Kirche betrachtet sich – wie ihre orthodoxen Schwesternkirchen auch – als treue Sachwalterin des Erbes der altkirchlichen Konzilien. Sie sollte die theologiepolitische Lektion, die im Dogma des Konzils von Nicäa liegt, als Anstoß begreifen, ihre fragwürdige Symbiose mit dem Regime Putins zu lösen. Das 1700-Jahr-Jubiläum des Konzils im kommenden Jahr könnte dazu eine gute Gelegenheit sein. Bleibt sie hingegen unbeirrt bei ihrem Kurs und stützt die Kriegspolitik des Kreml gegen den "Satanismus" des Westens, ist sie nicht "Aufhalter" oder "Katechon", sondern Verstärker der Zerstörung und Hure der Macht.

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