Politik jenseits von EdenEin christlich-sozialethischer Blick auf den Koalitionsvertrag

Wären eine beherzte Rentenreform und eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen nicht notwendig gewesen? Zweifellos! Aber mehr an Ordnung und Reform war kaum zu erwarten angesichts des Wahlergebnisses einer staatstragenden Koalition der Mitte.

Deutsches Bundestag
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"Als Hauptgericht hat es nur Gemüse gegeben, Wirsing-Koteletts …" So beginnt die berühmte Erzählung "Unordnung und frühes Leid" von Thomas Mann, und unwillkürlich musste ich an den famosen Titel und an den ersten Halbsatz denken, als ich den neuen Koalitionsvertrag von Union und SPD allmählich durcharbeitete und bald verdaut hatte. Leichte, allzu leichte Kost, Wirsing eben, der so tut, als sei er in Wirklichkeit herzhafte Koteletts … Jenseits von Eden bleibt nur die mühsame Realität der Politik: zähe Verhandlungen, harte Arbeit und oft nur bescheidene Fortschritte.

Der organisierte Samariter

Und das lässt sich auch gut philosophisch und theologisch begründen: Das Paradies der idealen Liebe ist nicht nur verloren, sondern hat nie existiert, existiert bestenfalls als Utopie, als gedachter und ersehnter Nicht-Ort der Wirklichkeit. Und doch könnte die gedachte Sehnsucht ja die eigentliche Wahrheit sein, hinter aller grauen und grausigen Wirklichkeit der harten Fakten. Könnte der letzte Satz der "Feuerzangenbowle" doch recht haben: "Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir mit uns tragen, die Träume, die wir spinnen und die Sehnsüchte, die uns treiben." Müsste das – zumindest aus theologischer und sozialethischer Sicht – nicht wenigstens ansatzweise auch gelten für solch prosaische Dinge wie einen Koalitionsvertrag in Deutschland im April 2025? Aber gemach und der Reihe nach!

"Der organisierte Samariter": Das ist eine zugegebenermaßen etwas zugespitzte Kennzeichnung unserer Sozialen Marktwirtschaft.

Der Samariter ist in der berühmten Erzählung Jesu der Mensch, der jenseits seiner Familie und Sippe, jenseits seines eigenen Volkes, schlicht und einfach hilft, weil er Mitleid hat mit seinesgleichen, mit dem Menschen.

Wohlgemerkt, und gegen eine allzu kurzschlüssige Interpretation des augustinischen Ordo amoris in nordamerikanischer Lesart: Der samaritanische Christ hilft über die Nächstenliebe hinaus, er wendet sich über die Landesgrenzen effektiv hin zur Fernstenliebe, in organisierter Gerechtigkeit. Ob das kurzschlüssig auf nationale Asyl- und Migrationspolitik angewandt werden kann, ist Auslegungssache. Ich glaube es nicht. Zur nationalen Sicherheitspolitik gehört auch die Sicherheit von Grenzen und damit die Eindämmung unkontrollierter Einwanderung mit der strengen Überprüfung der Asylanträge, der im Zweifel legitimen Zurückweisung an den Grenzen und der Trennung von Asylgesuchen in lebensbedrohlicher Not und Wirtschaftsflüchtlingen. Hier die unkontrollierte Einwanderung zum Instrument einer diffusen Menschenliebe und einer gewünschten multikulturellen Gesellschaft zu machen, war der kapitale Fehler der Grünen und der SPD in der alten Regierung; das ist jetzt zu Recht und sozialethisch korrekt korrigiert worden.

Doch noch einmal zurück zum Straßengraben: Alle drei vom Evangelisten Lukas angeführten Personen sehen ja den halb toten Mann im Straßengraben: Priester und Levit gehen weiter, der eigentlich nicht mit den Juden verkehrende Samariter hilft. Und zwar effektiv, nicht einfach nur mit guten tröstenden Worten (was schon viel wäre): Er hilft mit Wein und Öl und seinem Esel, und (was oft vergessen wird) mithilfe des Wirtes und seiner Herberge, und schließlich mit zwei Denaren für die Pflege des Mannes durch den Wirt. Das alles setzt schon ein einigermaßen funktionierendes Gemeinwesen voraus, Geldwirtschaft und stabile Geldwährung, Kreditwürdigkeit des Samariters und Bereitschaft zu Risikokapital beim Wirt. Die Steinzeit ist längst überwunden; überwunden auch das Gesetz des stärkeren Kain im Kampf gegen den schwächeren Abel; Blut schreit nicht mehr vergebens zum stummen Himmel; es herrscht die harte und gerechte Hand des Gesetzes; es regieren Handel und Wandel; es gibt eine ansatzweise stabile gesellschaftliche Ordnung. So erst wird Hilfe durch Kapital möglich.

Freilich, was es auch gibt, sind Straßenräuber, Überfälle, Unsicherheit. Hier fällt der Staat aus und der halb tote Mann ist auf die Hilfe und das Almosen großherziger Menschen angewiesen. Besser wäre es, wenn (erstens) gar nicht erst jemand halb tot im Straßengraben zu liegen käme und der Räuberei ein Ende gemacht würde durch den Staat, und wenn (zweitens) aus dem Engagement einzelner Samariter Institutionen der Solidarität und Gerechtigkeit würden.

Denn das meint ja eigentlich Kapitalismus, wie er in der Zeit des noch jungen Franziskanerordens ab dem 14. Jahrhundert in der Toscana allmählich entsteht: Nicht mehr nur einfach auf private Tugenden und Almosen zu vertrauen, sondern öffentliche Einrichtungen der Nächstenliebe zu fördern, die durch Steuern bezahlt werden. Bis hin zur Pflegeversicherung seit 1994 … Stets freilich droht die Austrocknung privater Tugend durch öffentliche Institutionen der Solidarität; das bleibt die Verschattung des hoch entwickelten sozialen Kapitalismus; deswegen braucht es auch und gerade in der Marktwirtschaft im Herzen eines jeden Menschen den kleinen Samariter.

Unsere Soziale Marktwirtschaft appelliert an Nächstenliebe und Gewinnsucht, an Barmherzigkeit und Profitgier.

Und so wird dann ein kapitalistischer Schuh draus: Unsere Soziale Marktwirtschaft appelliert an Nächstenliebe und Gewinnsucht, an Barmherzigkeit und Profitgier; ja so deutlich kann und muss man es sagen; der deutschstämmige amerikanische Ökonom Albert O. Hirschman hat dies unnachahmlich und unüberbietbar in seinem kleinen Buch "Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg" (engl. Original: The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton University Press 1977) dargelegt. 

Und am Ende, nach dem Zweiten Weltkrieg hatte auch der linke Flügel der CDU und die grundsoziale CSU (und nach Godesberg sogar die SPD) ihren Frieden mit dieser sozialen Form des Kapitalismus gemacht: Die Soziale Marktwirtschaft war geboren, zwar eine mühsame Zangengeburt, nach Neheim-Hüstener und Ahlener und Godesberger Programm, aber immerhin: ein herzstärkendes Bekenntnis zur unternehmerischen Freiheit eines Bürgermenschen, bei gleichzeitiger Absicherung der schwächeren Marktteilnehmer durch Solidarität und Subsidiarität.

Jede Form des Kapitalismus, und käme er noch so sozial daher, kann und soll immer nur eine Ordnung zweiter Wahl sein, als Ersatz des verlorenen Paradieses reinen Wohlwollens und – das ist letztlich der theologische Clou der christlich begründeten Marktwirtschaft – als anfanghafte Vorbereitung der Ewigkeit unberechneter Liebe Gottes.

Denn das ist allemal klar: Jede Form des Kapitalismus, und käme er noch so sozial daher, kann und soll immer nur eine Ordnung zweiter Wahl sein, als Ersatz des verlorenen Paradieses reinen Wohlwollens und – das ist letztlich der theologische Clou der christlich begründeten Marktwirtschaft – als anfanghafte Vorbereitung der Ewigkeit unberechneter Liebe Gottes.

Die Abschaffung des Bürgergelds ist richtig

Denn auch das ist klar (und war den franziskanischen frühen Markttheoretikern der frühen Renaissance immer klar): Eine arbeitsteilige und komplexe Wirtschaft ist kein Kaffeekränzchen, sondern ein Marktplatz zur Erzielung von Gewinnen. Und sie zugleich das Versprechen, dass mithilfe des Gewinnstrebens Arbeitsplätze entstehen und in gerechter Abschöpfung eines Teils der Gewinne Steuern und Sozialversicherungen möglich sind. Besonders für jene, die nicht, noch nicht oder nicht mehr zu großer materieller Leistung in der Lage sind.

Das bei der erst genannten Gruppe zu überprüfen, ist die ständige Aufgabe des Sozialstaates; dies geschieht unzureichend und letztlich ungerecht durch eine füllhornartige Ausschüttung des Bürgergeldes ohne Berücksichtigung der Arbeitsmöglichkeit; dies ist endlich und zu Recht korrigiert durch die Abschaffung von Bürgergeld und die Einführung einer "Grundsicherung für Erwerbssuchende".

Es ist höchste Zeit, entschlossen die Umlagefinanzierung, die auf einem Generationenvertrag beruhte, der eine andere Lebenserwartung und eine gleichbleibende demografische Entwicklung zugrunde legte, zu einer stärker anlageorientierter Rentenfinanzierung umzuformen, auch mit höheren Eigenanteilen bei Besserverdienenden. 

Nicht korrigiert allerdings ist bedauerlicherweise im Koalitionsvertrag eine verfehlte Rentenpolitik der vergangenen Jahrzehnte, die dazu führt, dass etwa im Jahr 2023 vom Bund etwa 20 Prozent des Bundeshaushaltes als Zuschuss zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung eingesetzt wurde. Das sind fast 113 Milliarden Euro. Nicht nur scheut sich die Politik nach wie vor, einen höheren Eigenanteil der Versicherten und ein schrittweise anzuhebendes Renteneintrittsalter (zumindest fallweise für bestimmte Berufsgruppen) anzustreben, auch eine zum Teil wenigstens börsennotierte Anlage der Rentenbeiträge nach norwegischem Muster wird nach wie vor vermieden. Stattdessen wird als eindeutiges Lobbyprojekt der CSU die Mütterrente erweitert, was gut gemeint ist im Sinne der Anrechnung von Erziehungszeit und der Aufwertung von Familienarbeit, jedoch das bisherige, auf sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit beruhende Rentensystem zusätzlich unverantwortlich belastet, belastet zudem mit dem Makel der immensen Neuverschuldung, die eigentlich nur für die beiden Sondervermögen Verteidigung und Infrastruktur gedacht war. Das ist nicht nur kurzsichtig, sondern widerspricht auch eklatant der Generationengerechtigkeit. Es ist höchste Zeit, entschlossen die Umlagefinanzierung, die auf einem Generationenvertrag beruhte, der eine andere Lebenserwartung und eine gleichbleibende demografische Entwicklung zugrunde legte, zu einer stärker anlageorientierter Rentenfinanzierung umzuformen, auch mit höheren Eigenanteilen bei Besserverdienenden. 

Und fast noch dramatischer zeigt sich die Situation in der Finanzierung der Pflegeversicherung; auch hier erfordert sowohl der Anstieg der mittleren Lebenserwartung in eins mit den zunehmenden medizinischen Möglichkeiten des gerontologischen und palliativen Sektors eine Reform der Finanzierung hin zu stärkerer privater Vorsorge. Zumal das sozialethisch schon lange bedenkliche Ausnutzen fremdsprachiger Arbeitskräfte im Pflegebereich schon jetzt an deutliche Grenzen gelangt. Ähnliches gilt auch mit Blick auf fehlende Strukturreformen im Gesundheitswesen über die Pflegeversicherung hinaus für das gesamte Gesundheitswesen. Immerhin weist die von Karl Lauterbach begonnene Krankenhausreform grundsätzlich den richtigen Weg, wird aber durch einen in diesem Fall kontraproduktiven Föderalismus zumindest unnötig verlangsamt. Dem zunehmenden Mangel an Hausärzten ist nur durch eine entschiedene Förderung von Medizinischen Versorgungszentren in der ländlichen Fläche beizukommen, die an die Stelle der früheren kleinen und auf Dauer teuren und unprofessionellen Krankenhäuser treten. Und dann steht noch der seit Jahrzehnten diskutierte Wunsch nach einer Reform und Straffung des Gestrüpps allzu vieler Krankenversicherungen auf der Wunschliste, leider aber nicht auf den Seiten des Koalitionsvertrags. Hier wird eindeutig und sozialethisch bedenklich zu kurz gesprungen!

Dennoch ist manches andere Goldkorn echter Marktwirtschaft mit der Grundlage eines freien Unternehmertums, einer durch Bildung und Gesundheitsversorgung ermöglichten Leistungsbereitschaft, eines vererbbaren Privateigentums, einer Abwehr von Monopolen und Kartellen und einer Förderung des Wettbewerbs im neuen Koalitionsvertrag zu finden.

Das derzeitige unsinnige Gebaren der USA mit der Erhebung hoher Schutzzölle ist in mehrfacher Hinsicht unethisch und ungerecht und führt auf Dauer zu einer schweren globalen Wirtschaftskrise, unter der wiederum schwächere Marktteilnehmer und die Menschen in diesen Ländern leiden. 

Und damit auch global nicht nur zukünftige, sondern auch gegenwärtige Benachteiligte gefördert und geschützt werden, ist es gut, dass das Entwicklungshilfeministerium erhalten bleibt (auch wenn man sich sozialethisch die Beibehaltung des Lieferkettengesetzes gewünscht hätte). Dann aber muss auch der freie und gerechte Welthandel, gerade zugunsten schwächerer Länder gefördert werden, statt durch sinnlose Zollschranken behindert; das derzeitige unsinnige Gebaren der USA mit der Erhebung hoher Schutzzölle ist in mehrfacher Hinsicht unethisch und ungerecht und führt auf Dauer zu einer schweren globalen Wirtschaftskrise, unter der wiederum schwächere Marktteilnehmer und die Menschen in diesen Ländern leiden. Auch globaler Handel und Freihandelszonen sind nämlich ein wichtiges Instrument der Wirtschaftsethik!

Gott sei Dank: keine großen Visionen

Zu begrüßen ist die stillschweigende Abkehr von einem angeblichen Recht auf straffreie Abtreibung und der Verzicht auf eine Lockerung des Embryonenschutzgesetzes. Denn auch das gehört zu einer Sozialen Marktwirtschaft: Wer schützte sonst die schwächsten aller zukünftigen Menschen, die doch stets mehr sind als leistungsfähige Marktteilnehmer und zahlungswillige Samariter?

Hat es am Ende eben doch nur Gemüse gegeben als fader Auftakt zu Unordnung und frühem wie spätem Leid? Wären eine beherzte Rentenreform und eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen nicht notwendig gewesen? Zweifellos! Aber mehr an Ordnung und Reform war kaum zu erwarten angesichts des Wahlergebnisses einer staatstragenden Koalition der Mitte.

Parlamentarische Demokratien bringen oft nur bescheidene Ergebnisse hervor. "Dem Himmel sei Dank dafür", möchte man hinzufügen, ganz im Sinne des tiefgründigen und ironischen Schlusses von Thomas Manns Erzählung. Denn die grausamen Erfahrungen mit totalitären Regimen, ob von rechts oder von links, die den Himmel auf Erden erzwingen und das Paradies auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho errichten wollten, haben allzu oft die Hölle geschaffen.

So kann man vielleicht als Christ mit diesem Koalitionsvertrag zufrieden sein, wenn auch nicht glücklich. Aber das ist vielleicht auch weder nötig noch wünschenswert. Rastlos und ruhelos soll ja der Mensch seit Kain und Abel sein, immer auf der Suche nach dem je Besseren in Demokratie und Marktwirtschaft. Simon Strauß jedenfalls zitierte am 9. April auf Seite 11 der FAZ unter der sinnfälligen Überschrift "Die Traurigen" den fast verfemten Peter Handke mit dem Satz aus einem Interview mit der NZZ: "Ich lebe für eine andere Welt!"

Treffender lässt sich die Stimmung nach der Lektüre des Koalitionsvertrags – und zugleich der ruhelose Glutkern der Sozialen Marktwirtschaft – kaum beschreiben. Würde man das vergessen, gliche jeder Tag der vergeblichen Mühe der treuen Frau des Odysseus, die nachts sehnsüchtig zerstört, was sie tagsüber unter Druck vollbracht hat. Der Beginn dieser neuen Koalition jedenfalls lässt durchaus hoffen und erwarten, dass es zukünftig keine Penelope-Koalition sein wird. Und durchaus: Dem Himmel sei Dank!

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