Einen unpolitischen "Tag des Judentums" kann es nicht geben – aber die zeitgeschichtlichen Bedingungen, unter denen er auch in diesem Jahr veranstaltet wird, sind von einer Dramatik, wie sie die Welt nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Globale Kriege entfesseln schier unaufhaltsam immer neue Eskalationen militärischer Gewalt. Da wirkt es wie ein minimales Hoffnungszeichen, dass in den diesjährigen "Tag des Judentums" die Nachricht vom Waffenstillstand und Geiseldeal zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas fällt. Ein Moment humanitären Aufatmens. Doch wie belastbar kann ein Abkommen sein, das mit dem nächsten Gewaltausbruch rechnen muss – und schon wenige Stunden nach Verkündigung wieder auf der Kippe steht? Die erste Phase des mehrstufigen Plans für eine Lösung des Konflikts läuft nach 42 Tagen ab. Und dann? Der Hass, den der Terror schürt, und die Menschenleben, die der Krieg gekostet hat und weiter kostet, kennt keine Ablauffristen.
Antisemitismus gewinnt seit Jahren in sich selbst verstärkenden Wellen an gesellschaftlicher Resonanz. Als unterschwellige Kulturtatsache kann er mit Gewöhnungseffekten rechnen, die sich im Vormarsch rechtsnationaler Parteien und ihrem Griff nach politischer Macht durchsetzen.
Fragil sind nicht nur die Rahmenbedingungen eines Kontrakts, der mehrfach torpediert wurde und sich nicht von den real-apokalyptischen Visionen einer Vernichtung des Staates Israel trennen lässt. Der historische Augenblick des diesjährigen Tages des Judentums führt vor Augen, wie bedroht jüdisches Leben ist und bleibt. Im Nahen Osten, aber auch weltweit und mitten in Europa. Antisemitismus gewinnt seit Jahren in sich selbst verstärkenden Wellen an gesellschaftlicher Resonanz. Als unterschwellige Kulturtatsache kann er mit Gewöhnungseffekten rechnen, die sich im Vormarsch rechtsnationaler Parteien und ihrem Griff nach politischer Macht durchsetzen. Ihr wertkulturelles Gewicht lässt sich daran bemessen, wie sie sich mehr als nur in gelegentlichen Ausfällen zu jüdischem Leben verhalten.
Angesichts dessen ist intellektuelle, religiöse Widerstandskraft gefordert: verlässliche Solidarität. Der Tag des Judentums bringt dies symbolisch zur Geltung. Die christlichen Kirchen veranstalten ihn seit zwei Jahrzehnten am Vortag der "Gebetswoche für die Einheit der Christen", um an die grundlegende Verbindung zwischen Christen und Juden zu erinnern. Das Zweite Vatikanische Konzil, an dessen Abschluss vor sechzig Jahren in diesem Dezember erinnert wird, hat mit dem vierten Kapitel seiner Erklärung Nostra aetate die Haltung der katholischen Kirche zum Judentum auf einen neuen Boden gestellt. Die "Lehre der Verachtung", die mit einem kritischen Merkwort des jüdischen Historikers Jules Isaac die kirchliche Tradition bestimmte, stellte das Konzil auf eine Hermeneutik des Respekts um. Mehr noch: "Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist." Kirchenbestimmung ohne Israel – das geht theologisch nicht. Anerkennung der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens ist unerlässlich. Und so folgern die Konzilsväter: "Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schösslinge eingepfropft sind."
Das ist stark. Aber kann die Kirche wirklich nicht vergessen, wie sehr sie auf Israel als heilsgeschichtliche Wirklichkeit verwiesen und, ja, angewiesen ist? Der Indikativ wirkt im historischen Spiegel des christlichen Antijudaismus auch wie eine kontrafaktische Mahnung. Es gilt immer wieder neu, ihr Raum im Leben der Kirche zu geben. Das verlangt konkrete Konsequenzen.
Sosehr der jüdisch-katholische Dialog seit dem Konzil institutionelles Vertrauen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften geschaffen hat; soweit theologische Dialoge das wechselseitige Verständnis vorangetrieben und vertieft haben – wie viel ist davon in den Gemeinden, im Volk Gottes angekommen? Es hat ein halbes Jahrhundert gebraucht, um Sensibilität für die Spuren des Antijudaismus in unseren Kirchen zu entwickeln. Entsprechende Bilder und Artefakte illustrieren nicht eine abgelegte Vergangenheit, sondern dokumentieren die Bereitschaft, ohne Empathie über das Offensichtliche hinwegzusehen. Und eben auch Stereotype hinzunehmen, die scheinbar biblisch begründet sind.
Ein Beispiel: der fortlebende Predigtgegensatz vom strafenden Vatergott des alten und vom liebenden "Abba" des Neuen Testamentes. Ein anderes: die Karikatur der Pharisäer als "starrsinnige Heuchler, die sich zwar den Anschein gaben, nach Gottes Gesetz zu leben, in Wahrheit aber nur einem formalen Buchstabengehorsam das Wort redeten und vor allem auf ihr eigenes Ansehen bedacht waren." (Die Pharisäer. Geschichte und Bedeutung, Freiburg 2024, 14-26; 14).
"Gespräch innerhalb der Familie": Der Papst und die Juden
Eine Rezeptionsspur dieses Bildes führt auch zu Ansprachen und Predigten von Papst Franziskus. Dabei hat dieser Papst eine der theologisch weitreichendsten Aussagen zum Judentum getroffen. "Gott wirkt weiterhin im Volk des alten Bundes", hielt Franziskus in seinem Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (Nr. 249) fest. Die Offenbarungsgeschichte Gottes mit Israel geht weiter. Das verlangt der Kirche den Dauerblick auf das Judentum ab: gemeinsame Auslegung der heiligen Schriften, Aufmerksamkeit für die Form, in der Israel im Bund mit Gott steht und ihn lebt.
Der Staat Israel hat als Schutzraum für Jüdinnen und Juden zumal nach der Schoa eine einzigartige Bedeutung.
Das lenkt den Blick auf die religionspolitischen Realitäten jüdischen Lebens heute: Der Staat Israel hat als Schutzraum für Jüdinnen und Juden zumal nach der Schoa eine einzigartige Bedeutung. Das Trauma von 10/7 muss die katholische Kirche erst noch realisieren, denn es greift tief in die katholisch-jüdischen Beziehungen ein. Irritierende Stellungnahmen von Papst und Kurie haben ihre Solidaritätsadressen unter Vorbehalt gestellt. Was bedeutet es theologisch für die katholische Kirche, wenn sich Juden nach 10/7 alleingelassen fühlen? Wie drückt sich Bundestreue im gemeinsamen Gotteszeugnis heute aus?
Das Bekenntnis des Zweiten Vatikanischen Konzils darf nicht abstrakt bleiben. Es verlangt den selbstkritischen Blick darauf, dass es erst nach der Shoah in den Kirchen einen Tag des Judentums geben konnte. Es braucht das wirklichkeitshaltige Zeugnis, gemeinsam im Bund zu stehen. Papst Franziskus hat in seiner neuen Autobiografie sehr persönlich von echter Verbundenheit erzählt. Dabei hat er das Wort vom "Gespräch innerhalb der Familie" gewählt. Der Tag des Judentums 2025 ist auch ein Moment der religionspolitischen Vergegenwärtigung, wie schwierig, aber auch wie notwendig eine jüdisch-christliche Familienaufstellung ist.