Vergangenes Ostern nahm ich an einer Karfreitagsprozession in Berlin teil. Als gläubiger Katholik wollte ich an das Leiden und Sterben Christi erinnern – an den Weg, den er für unsere Erlösung ging. Doch was sich mir bot, hatte weniger mit liturgischer Kontemplation zu tun als mit einer performativen Verdichtung zeitgenössischer Befindlichkeiten.
Dieser Kreuzweg bestätigte die jüngsten Vorwürfe von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner: Die Kirche verliert ihren inneren Kompass, verirrt sich zwischen Andacht, Aktionismus und moralischem Schauspiel. Sie zerreibt sich zwischen sakralem Anspruch und gesellschaftlicher Relevanzsuche, zwischen theologischer Leerstelle und moralischer Überproduktion.
Unsere Route verband die evangelische St.-Marien-Kirche mit der katholischen St.-Hedwigs-Kathedrale – ein symbolischer Schulterschluss. Rund 250 Menschen waren gekommen. Die drei ausrichtenden Kirchen – protestantisch, katholisch, orthodox – hätten für sich allein kaum genug Beteiligung gehabt. Die Gruppe war kleiner als die vielen judenfeindlichen, pro-palästinensischen Demonstrationen, die Berlin so oft das Bild bestimmen.
Die stille Abwesenheit Gottes
Vorneweg: ein massives Holzkreuz, drei Meter hoch, 80 Kilo schwer. Eine Tradition seit den mittelalterlichen Kreuzwegen, die das das Leiden des Heilands anschaulich und erschütternd ins Bild setzten. Auch diesmal dominierten Bilder – allerdings ganz andere.
Ein Performer, nackt, mit Schlamm bedeckt und in Ketten, schrie sich durch den Zug. Der Auftritt, so hieß es vorher von der evangelischen Pastorin Silke Radosh-Hinder, thematisiere die Verfolgung queerer Menschen in Ghana. Umgeben war der Mensch von einem Kamerateam und einem Künstlerkollektiv, das alles minutiös dokumentierte. Einige Teilnehmende wichen instinktiv aus – teils aus Scheu, teils aus Angst, vom Schlamm getroffen zu werden.
Der Penis des Performers war deutlich sichtbar – an seiner biologischen Zugehörigkeit ließ sich kaum zweifeln. Und doch sprach die Pastorin von einer "Künstlerin" – so definiere sich die Person selbst. Die Diskrepanz zwischen sichtbarer Wirklichkeit und verkündeter Identität erzeugte jenen eigentümlichen Moment unfreiwilliger Komik, der weniger provoziert als bestätigt: genau jene Karikatur, die kirchenkritische Stimmen seit Langem bemühen.
Messe ohne Evangelium
An sechs Stationen wurde gesprochen – oft nicht über Jesu Passion. Stattdessen trat vor dem Berliner Dom ein Klimaforscher ans Mikrofon. Er sprach von der Klimakrise, forderte, Luisa Neubauer Gehör zu schenken. Unstrittige Parolen wie "Kein Mensch ist illegal" und "Solidarität kennt keine Grenzen" fielen. Liturgisch gerahmt, klang es wie eine Messe – nur ohne Evangelium.
Auf dem Bebelplatz – Schauplatz der Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten – trat eine Imamin mit Hijab auf. Sie sprach davon, dass Muslime in Deutschland auch durch Christen unterdrückt würden. Ihre Rede verband Kunstfreiheit, religiöse Unterdrückung und die Einschränkungen afghanischer Frauenrechte. Ihre Mutter habe noch kurze Röcke tragen dürfen, ihre eigene Generation hingegen nicht mehr. Dass sie selbst in Deutschland lebt und dennoch auf diese Form der Freiheit verzichtet, ließ sie unerwähnt.
In der Abschlussstation, der Sankt-Hedwigs-Kathedrale, fehlte die jüdische Perspektive nicht – aber sie wurde verlesen, nicht persönlich vertreten. Eine evangelische Pfarrerin las einen Brief vor. Anstelle einer eigenen Stimme blieb also nur ein Zitat. Es war ein leiser, aber sprechender Moment: Repräsentanz wird delegiert, Präsenz ersetzt.
Ein neuer Kult ohne Transzendenz
Was bleibt von dieser Prozession? Die Grenzen zwischen Glauben, Andacht und Aktivismus lösen sich auf, Spiritualität wird ersetzt durch ein Bedürfnis nach öffentlicher Läuterung. Schuld ist hier kein persönlicher Begriff mehr, sondern ein kollektives Narrativ – abgegolten nicht im Gebet, sondern durch Symbolhandlungen, Parolen und Performanz. Vielleicht ist es dies, was Julia Klöckner in ihrer Kritik meinte: den Verlust an Tiefe, die Auflösung der Mitte.
Dies war weniger eine Prozession als ein Ritual der Selbstvergewisserung. Wer teilnahm, wusste offenbar, was zu fühlen, was zu sagen, was zu beklatschen war. Es herrschte moralische Eindeutigkeit, wenig Raum für Zweifel – und wenig Raum für Christus. In diesem Zwielicht bewegte sich ein Zug, der äußerlich noch das Kreuz trug, inhaltlich aber längst einen anderen Weg beschritt.
Nicht die Kirche erneuert sich hier, sondern ein säkulärer Kult formt sich aus ihren Versatzstücken: Das Kreuz wird zum Träger tagespolitischer Anliegen, die Liturgie zur Bühne für gesellschaftliche Regungen.
Auf dem Weg von der Prozession nach Hause war ich verunsichert. Nicht die Kirche erneuert sich hier, sondern ein säkulärer Kult formt sich aus ihren Versatzstücken: Das Kreuz wird zum Träger tagespolitischer Anliegen, die Liturgie zur Bühne für gesellschaftliche Regungen. Die Absicht mag redlich sein – doch ohne das Zentrum, ohne das göttliche Gegenüber, bleibt das Kreuz leer.
Jesus wäre 130 gefahren
Beobachtungen wie diese werfen eine breitere Frage auf: Wo endet der legitime gesellschaftliche Einfluss der Kirche, und wo beginnt die Gefahr, in weltliche Belange zu sehr verstrickt zu werden?
Dass es nicht bei Prozessionen bleibt, zeigt ein weiteres Beispiel kirchlicher Selbstverwechslung: Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland hat 2019 eine Petition für ein Tempolimit von 130 km/h gestartet – beim Bundestag vorgebracht, unterstützt von Landeskirchen und Bistümern. Offenbar glaubt man, die Welt zu retten, indem man sie regelt.
Statt Orientierung zu geben, läuft die Kirche politischen Themen hinterher – nicht mehr prophetisch, sondern populistisch.
Hier verkehrt sich das Mandat der Kirche ins Gegenteil: Statt Orientierung zu geben, läuft sie politischen Themen hinterher – nicht mehr prophetisch, sondern populistisch. Der göttliche Auftrag schrumpft zur verkehrspolitischen Intervention.
Kirchliche Selbstverwechslung
Doch es gibt auch Gegenstimmen. Die Evangelische Allianz in Deutschland hat Julia Klöckner am Dienstag nach Ostern einen Brief geschrieben, den auch ich einsehen durfte. Darin heißt es: Man werde sich "nicht vor parteipolitische Karren spannen lassen", sondern wolle durch die Rückbesinnung auf die Kernbotschaft neue Relevanz gewinnen. Nah bei Gott – nicht bei Gesetzesentwürfen.
Das macht Hoffnung. Denn wo Kirche zum Akteur der Tagespolitik wird, verliert sie, was sie ausmacht: Transzendenz. Das Kreuz ist kein Verkehrsschild, und die Kanzel kein Ort für Parlamentspetitionen. Kirche muss mehr sein als moralischer Chor zur Lage der Nation. Sie darf wieder anfangen, einfach Kirche zu sein.