Auch der Kirche gegenüber wohlwollend und liberal eingestellte Kommentatoren weisen inzwischen darauf hin, dass die von den Kirchen vertretene Position zum Thema Migration zum Erstarken rechtsradikaler Parteien beiträgt. Im Hintergrund steht eine theologische und ethische Spannung, die in der christlichen Botschaft angelegt ist, und die gelöst werden muss und gelöst werden kann. Vor dieser Lösung drücken sich leider viele, die in Kirche und Theologie Verantwortung tragen, sich in der Öffentlichkeit dazu äußern und sich dabei auf die Botschaft Jesu berufen.
Während der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 war fast durchgehend zu hören, das christliche Gebot der Nächstenliebe kenne keine Grenzen. Es beziehe sich grundsätzlich auf alle Menschen, nicht nur auf die Angehörigen des eigenen Volkes. Das Christentum sei eine universale Liebesreligion und keine partikulare Stammesreligion. Dies wurde im Rahmen der politischen Diskussion so ausgelegt, dass man sagte: "Eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist unchristlich." So entstand der Eindruck – und nicht selten wurde dieser offen ausgesprochen –, die CSU verhalte sich mit ihrer Forderung nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen zutiefst unchristlich. Die Partei mit dem "C" im Namen galt als die am wenigsten christliche, jene Parteien, die für offene Grenzen plädierten, von ihrer Genese und personellen Zusammensetzung jedoch nicht viel mit dem christlichen Glauben am Hut haben, waren die wahren Christen. Das wirkt bis heute fort: Nachdem Friedrich Merz die Schwesterpartei CDU nach dem Ende der Merkel-Ära auf einen anderen migrationspolitischen Kurs geführt hat, wird auch ihm immer wieder vorgehalten, das "C" zu verraten.
Die Möglichkeiten sind begrenzt
Damals hörte ich ein Interview im Fernsehen. Eine in leitender Verantwortung stehende Ordensschwester wurde zur Flüchtlingskrise befragt. Auch sie sprach in schön klingenden Worten von der christlichen Liebe, die keine Grenzen kenne. Als der Journalist, der ihr sehr wohlgesonnen war, sie fragte, wie viele Flüchtlinge sie in ihrem Kloster aufnähme, geriet sie ins Stottern und sagte, ihre räumlichen Möglichkeiten seien leider begrenzt. Genau darum geht es! Einer der wenigen, die das damals offen und ehrlich ausgesprochen haben, war der damalige Bundespräsident Joachim Gauck – übrigens, wie bekannt, im Erstberuf ein Theologe. Er sagte: "Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich."
Damit spricht er den alles entscheidenden Unterschied an zwischen der Liebe als Gesinnung und der Liebe als Tat. "Die Liebe als Tat stößt an Grenzen, die die Liebe als Gesinnung des Wohlwollens nicht kennt", schreibt der Moraltheologe Bruno Schüller SJ in seinem Buch "Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie" (Düsseldorf 2 1980). Dieser Grundsatz gehört zum Kern der biblischen und somit christlichen Botschaft und darf nicht durch schönes Gerede verschleiert oder verwässert werden.
Recht und Ordnung sind nicht das Gegenteil der Liebe, wie oft behauptet wird, sondern die Voraussetzung dafür, dass sie fruchtbar werden kann.
Der traditionelle Begriff, unter dem das Thema erörtert wurde, lautet: "Ordnung der Liebe" (ordo amoris). Wenn diese Ordnung nicht eingehalten wird, so das vielfältige Zeugnis der christlichen Tradition, bricht das Chaos, also die Unordnung, aus. Recht und Ordnung sind also nicht das Gegenteil der Liebe, wie oft behauptet wird, sondern die Voraussetzung dafür, dass sie fruchtbar werden kann. Das meint der große Theologe Origenes, wenn er in seinen Predigten zum Lukasevangelium schreibt: "Man muss auch der Liebe Zügel anlegen und darf ihr nicht erlauben, so frei auszuschweifen, dass sie schließlich in einen jähen Abgrund stürzt" (Homilien zum Lukasevangelium, 25,6).
Im Rahmen der Auslegung der Zehn Gebote schreibt der allgemeine Lehrer der Katholischen Kirche, der heilige Thomas von Aquin: "Wir können aber nicht jedem Gutes tun. Daher sagt der heilige Augustinus, dass wir alle zu lieben (diligere) verpflichtet sind, aber nicht gehalten sind, allen Gutes zu tun (benefacere). Vor allen anderen müssen wir denen Gutes tun, die uns näherstehen, denn "wenn jemand für die Seinigen und besonders für seine Hausgenossen keine Sorge trägt, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger als ein Ungläubiger" [1 Tim 5,8]" (Collationes in decem praeceptis, Nr. 1238). Mit dem letzten Satz spielt Thomas auf die sogenannten Vorzugsregeln an: der Nahe, der Nähere und der Nächste. Nicht jeder ist mein Nächster, sondern jeder kann mein Nächster werden, darum geht es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Ein politisches Gemeinwesen muss unter Abwägung vieler Gesichtspunkte eine Entscheidung treffen, wie viele Flüchtlinge und andere Zuwanderer es aufnehmen kann und möchte. Dabei können Christen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Ob ein Ehepaar fünf oder drei Kinder adoptiert oder vielleicht nur ein Kind, ist eine Frage der Abwägung. Sollte es aufgrund einer realistischen Selbsteinschätzung zu dem Ergebnis kommen, dass die Adoption von drei Kindern gut zu schaffen ist, dann ist diese Entscheidung nicht weniger christlich, als es die Adoption von fünf Kindern wäre; letztere wäre sogar weniger christlich, wenn die Adoption von fünf Kindern zu einer Überforderung führen und die Ehe sowie die gesamte Familie destabilisieren würde.
In ähnlicher Weise muss ein politisches Gemeinwesen unter Abwägung vieler Gesichtspunkte eine Entscheidung treffen, wie viele Flüchtlinge und andere Zuwanderer es aufnehmen kann und möchte. Dabei können Christen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht von der relativen Autonomie der irdischen Angelegenheiten. Ein politisch engagierter Christ kann zu der Ansicht kommen, dass wir noch mehr Menschen aufnehmen sollten und könnten, er kann aber auch zu dem Ergebnis kommen, dass das Gegenteil die politisch bessere Option ist und die Aufnahme drastisch zu reduzieren sei – in beiden Fällen selbstverständlich unter Berücksichtigung und möglicherweise auch Modifikation der rechtlichen Rahmenbedingungen.
Kultur und Identität sind nicht bedeutungslos
Bei den Abwägungsprozessen spielt nach Lehre der Katholischen Kirche auch die kulturelle Identität eine wichtige Rolle: "Das Lehramt erkennt die Wichtigkeit der nationalen Souveränität an, die vor allem als Ausdruck jener Freiheit begriffen wird, die die Beziehungen zwischen den Staaten regulieren muss. Die Souveränität steht für die politische, wirtschaftliche, soziale und auch kulturelle Subjektivität einer Nation. Die kulturelle Dimension ist als Basis für den Widerstand gegen Akte der Aggression oder gegen Herrschaftsformen, die die Freiheit eines Landes einschränken, von besonderer Bedeutung: Die Kultur stellt eine Garantie dafür dar, dass die Identität eines Volkes bewahrt bleibt, indem sie seine geistige Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt und stärkt" (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 32014, Nr. 435).
Eine Partei, die sich immerhin noch ausdrücklich auf das christliche Menschenbild beruft, sollte sich von einigen Bischöfen und Theologen nicht einschüchtern und als unchristlich diffamieren lassen, wenn sie nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis kommt, dass die Migrationspolitik einer einschneidenden Korrektur bedarf.