Bei der Frage nach gesellschaftlichen Spannungen kommen wir am Diktum der Krise nicht vorbei. Aktivisten und Politiker verleihen ihrem Standpunkt die Extraportion Dringlichkeit oder Ernsthaftigkeit, indem sie die Krise diagnostizieren. Der Begriff hat in der öffentlichen Debatte totemhafte Züge angenommen.
Der Ausdruck dient als Brücke zwischen Fachdisziplinen und politischer Praxis. Wer "Krise" sagt, möchte auf einen Ausnahmezustand hinaus. Die Rekonstruktion des ursprünglichen Problems wird dabei häufig übersprungen, gefordert wird sofortiges Handeln.
Gefährliche Versprechen
Mit dem Historiker Reinhart Koselleck können wir feststellen, dass der Krisenbegriff neben der politischen auch eine religiös-eschatologische Dimension hat. Einerseits bewegt sich die Kirche immer häufiger auf den Bahnen der Parteipolitik und arbeitet so an ihrem Auftrag vorbei. Andererseits verschiebt sich das politische Gespräch durch die Krisendiagnostik auf eine Ebene, die über die Lösung konkreter Probleme und die Bewältigung einer entsprechenden Krise hinausgeht: hin zur Erlösung als diffuses Versprechen wider das Unbehagen. Wo Politiker mit einem solchen Erlösungsmotiv arbeiten, bedienen sie sich eines Legitimationsmechanismus, der für die Demokratie gefährlich werden kann: Denn sie suggerieren damit, dass sich alle (irdischen) Herausforderungen und Widersprüche auflösen lassen. Das ist jedoch ein gesellschaftlicher Zustand, der niemals erreicht werden kann, und wird damit eine demokratiegefährdende Utopie. Ohne Spannungen ist eine liberale Gesellschaft nicht zu haben. Denn ein solcher Ansatz übergeht die Bewältigungskompetenzen des Einzelnen. Resiliente Gesellschaften sind nämlich diejenigen, die die Fähigkeit, mit Krisen umzugehen, vor allem auf der Ebene des Subjektes kultivieren.
Konkreter: Ob Regierungskrise, die Klimakrise, die Flüchtlingskrise, die Finanzkrise, die Wirtschaftskrise – die Instanz, die die Krise diagnostiziert, präsentiert zugleich auch die Lösung: sich selbst. Das soll nicht heißen, dass es unlauter ist, ein Problem festzustellen und eine Lösung zu haben. Doch die öffentliche Debatte funktioniert nicht wie eine Arbeitsbesprechung am Montagmorgen, in der ein Mitarbeiter auf einen Fehler hinweist, den er entdeckt hat, und dann erläutert, wie man diesem begegnet. Nach dem Schema: Problem – Problemdiagnose – Lösung.
Wer die Krise ausruft, beschreibt in vielen Fällen keine Problemsituation, sondern vollzieht einen performativen Akt: Man schreibt sich selbst die Kompetenz zu, die gegebene Ordnung für obsolet zu erklären, über sie hinweg zu agieren: einen Ausnahmezustand festzustellen.
Das Ausrufen der Krise vollzieht sich vielmehr nach der Logik des Dezisionismus im Sinne der politischen Theologie Carl Schmitts: Es entsteht das Bild eines über allen Entscheidungen stehenden Entscheiders. Wer die Krise ausruft, beschreibt in vielen Fällen eben keine Problemsituation, sondern vollzieht einen performativen Akt: Man schreibt sich selbst die Kompetenz zu, die gegebene Ordnung für obsolet zu erklären, über sie hinweg zu agieren: einen Ausnahmezustand festzustellen. Damit entsteht dann tatsächlich eine Krise, weil es so zu einer Ablösung der geltenden Ordnung, einer Neuordnung kommt, also dem Gegenteil dessen, was wir unter "Routine" verstehen.
Da sich dieses Schema immer weiter einschleift, behandelt der öffentliche Diskurs, so scheint es, zunehmend weniger Probleme und deren Lösung sondern die Frage, wie eine Sache in der Öffentlichkeit Gestalt annehmen soll. Politiker und Experten diagnostizieren implizit oder explizit Krisen, um ihre Ideen in kollektive Handlungsmuster zu überführen. Dem Diskurs muss man sich dann nicht mehr stellen, wenn man konzediert, dass ein Zustand erreicht ist, in dem eine sofortige Ausführung notwendig ist. Es ist in dieser Logik viel zentraler, den Ausnahmezustand festzustellen, als beispielsweise überzeugendere Argumente zu liefern. Mittels Ausnahmezustand wird nicht nur die Ordnung selbst für obsolet erklärt, sondern auch die aus ihr erwachsenen Gepflogenheiten: etwa das Ringen um die beste Lösung.
Auf diese Weise hebelt die Krisendiagnose bestimmte Mechanismen aus, die für ein funktionierendes öffentliches Gespräch wesentlich sind. Ideen sind keine physischen Gegenstände. Ihre Gestalt gewinnen sie in Begriffen, aus denen eine Ordnung formuliert wird. Zu meinen, kollektives gesellschaftliches Handeln, das auf Ideen aufbaut, sei von den Begriffen zu lösen, mit denen man sie durchzusetzen versucht, ist leichtsinnig. So leitet sich aus der Krisendiagnose eben nicht mehr ein begrenzter Handlungsraum ab, sondern die allgemeine Aufhebung eines "Unbehagen[s] in der Kultur", wie Sigmund Freud es begrifflich verdichtet. Damit verschiebt sich das Ziel des Krisendiskurses von einer konkreten Lösung auf eine diffuse Erlösung.
Das Bedürfnis nach Erlösung ist ein menschliches, das dem ebenfalls sehr menschlichen Bedürfnis nach Zufriedenheit nur zu ähnlich ist. Problematisch wird es, wenn weltliche Zufriedenheit und transzendente Erlösung mutwillig miteinander verschränkt werden. Dabei wäre für die Kulturaufgabe, auf das Bedürfnis nach Erlösung eine Antwort zu geben, eigentlich die Kirche zuständig.
Es gibt parteipolitische Akteure, die den Menschen Erlösung versprechen: Wählt uns und ihr braucht euch nicht mehr vor den Herausforderungen und Widersprüchen der modernen Welt zu fürchten. Es ist nämlich folgendermaßen: Das Bedürfnis nach Erlösung ist ein menschliches, das dem ebenfalls sehr menschlichen Bedürfnis nach Zufriedenheit nur zu ähnlich ist. Problematisch wird es, wenn weltliche Zufriedenheit und transzendente Erlösung mutwillig miteinander verschränkt werden. Dabei wäre für die Kulturaufgabe, auf das Bedürfnis nach Erlösung eine Antwort zu geben, eigentlich die Kirche zuständig. Besonders sticht dabei die AfD hervor. Ihre Krisendiagnose besteht aus verschiedenen Elementen. Die Bilder, die dort gezeichnet werden, tendieren zur Diffusität, denn die diagnostizierte Krise ist so tiefgehend, dass sie beinahe nicht mehr lokalisiert werden kann. Sie zielen darauf, dass etwas so fundamental falsch läuft, dass die Welt, in der wir leben, und ihre Ordnung, eine falsche ist. Die globale Welt ist herausfordernd. Wenige Momente haben das so deutlich offengelegt wie die Coronapandemie. Dabei wird dieser Diktion das Globale zum Kennzeichen der modernen Welt, die folglich überwunden werden muss. Als könnte das Unbehagen in dieser Welt, alles, was in ihr falsch läuft, durch die Wahl einer Partei bewältigt werden. Diese Motivlage ist nicht ausschließlich bei der AfD zu finden, aber sie treibt es eben auf die Spitze. Es ist sinnvoll, aus dieser Diskurslogik herauszukommen.
Als der Soziologe und Theologe Ernst Troeltsch 1912 seine Studie "Die Soziallehren der Christlichen Kirchen und Gruppen" veröffentlicht, da herrscht gerade eine Kirchenkrise. Damals schreibt Troeltsch, dass die große Herausforderung die "militärisch-bureaukratischen Riesenstaaten" seien: eine immer globaler werdende Welt mit kapitalistischer Ordnung. Das Alleinstellungsmerkmal der Kirche besteht für Troeltsch darin, über ein Ethos zu verfügen, das alle politischen Utopien obsolet mache. Das dem Christentum eigene Erlösungsversprechen überrage alles, was in politischer Sprache artikulierbar wäre. Die Herausforderung besteht, so Troeltsch, darin, dies auch zur Geltung zu bringen.
Life goes on
Die Welt verändert sich, ob politische Maßnahmen gelingen oder misslingen – es geht immer weiter. Das trennt Politik von den letzten Dingen. Politische Akteure tun gut daran, nicht mit Endgültigkeit zu arbeiten, ansonsten wäre die Frage zu stellen, ob damit nicht erreicht ist, was in kirchlicher Diktion den Zustand des großen rien ne va plus beschreibt: die Apokalypse. (Ja, genau die.)
Um den politischen Diskurs zu entspannen, wäre es hilfreich, den Krisenbegriff zu säkularisieren. Das bedeutet, ihn in eine nüchterne, weltliche Sprache zu überführen. Politische Entscheidungen sind in Demokratien in den allermeisten Fällen korrigierbar. Das entbindet nicht von der Verantwortung für die Konsequenzen, relativiert aber ihre Dramatik.
Die Aufgabe der Kirche wäre es, die Politik daran zu erinnern, dass sie Wahlversprechen und keine Heilsversprechen machen sollte – und sich selbst daran, dass nicht die Politik über das Ende aller Tage entscheidet.
Um es mit den Worten des amerikanischen Dichters Robert Frost zu sagen: "In three words I can sum up everything I’ve learned about life: it goes on."