Das knappe Rennen, das alle Vorhersagen den beiden Kandidaten im amerikanischen Wahlkampf prophezeit hatten, war tatsächlich gar nicht so knapp: Ein Swing State nach dem anderen fiel dem Bewerber Trump zu; seine Gegenkandidatin Kamala Harris konnte nicht so viele Wähler auf ihre Seite ziehen wie erwartet.
Für tiefergehende Analysen, wie es so weit hat kommen können, wieso alle Erfahrungen, die das amerikanische Volk mit Trump bereits machen konnte, seine Wiederwahl nicht aufgehalten haben, ist es noch zu früh. Auch Prognosen, was die erneute Präsidentschaft Trumps für Amerika und die Welt bedeuten mag, stehen noch auf unsicherem Grund. Doch einige allgemeine Überlegungen zum Phänomen Trump sind schon jetzt möglich – darüber, was seine Person nach allem, was man weiß, kennzeichnet, und wie sich Persönlichkeit und Verfassungsgefüge zueinander verhalten.
Trumps gefährliche Neigung zur Entgrenzung
Ein herausragendes Persönlichkeitsmerkmal Trumps scheint die Neigung zur Entgrenzung zu sein. Narzisstisch veranlagte Menschen leiten aus dem Gefühl ihrer Einzigartigkeit sehr häufig die Schlussfolgerung ab, Regeln gälten nur für die anderen, die durchschnittlichen Menschen, während sie selbst bestenfalls Regeln erlassen, aber keinesfalls selbst einhalten. Äußere Grenzen würden die Entfaltung ihrer Großartigkeit nur behindern. Innere Grenzen kennen sie ohnehin nicht, denn das würde die Akzeptanz eines anderen Maßstabs als das Ich voraussetzen. Das Ich jedoch ist der Gott, dem der Narzisst folgt.
Dass diese Selbstvergötzung nur die Kehrseite eines tatsächlich schwach ausgebildeten Selbst ist, dem aufgrund dieser Schwäche unentwegt äußere Anerkennung zugeführt werden muss, steht auf einem anderen Blatt. Es erklärt aber die Sprunghaftigkeit, Extrovertiertheit und Exzentrik narzisstischer Persönlichkeiten, die ständig auf der Jagd nach Bestätigung sind, um so die innere Leere, von der sie gequält sind, zu übertönen. Das jüdisch-christliche Vanitas-Motiv illustriert das Problem sehr eindrücklich: Eitelkeit bedeutet eben nicht nur Selbstverliebtheit, sondern auch Nichtigkeit.
Wie weit Trump dazu bereit ist, sich über Grenzen hinwegzusetzen, hat er schon hinreichend bewiesen. Dass er permanent die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet, gehört zu den lässlicheren Sünden. Deutlich schwerer wiegt, dass die Wahrheit für ihn kein relevanter Maßstab ist. Viele seiner Aussagen entspringen freier Erfindung ("Die Deutschen bauen jeden Tag ein Kohlekraftwerk", "13.000 Menschen, die wegen Mordes verurteilt wurden, durften in unser Land"). Moralische Grenzen respektiert er ebenfalls nicht im Mindesten, das zeigen seine Gehässigkeiten gegenüber Behinderten, seine Übergriffe auf Frauen, seine Schamlosigkeit in der Präsentation seines Reichtums, vor allem aber die Zügellosigkeit, mit der er Menschen gegeneinander aufhetzt und zu Hass und Rache anstachelt.
Ein Mensch, der keine Scham kennt, ist auch nicht zu beschämen. Das ist Teil seiner Unangreifbarkeit, seiner Unempfänglichkeit für soziale Kontrolle. Ein Mensch, der sein Gewissen zum Schweigen gebracht hat, unterliegt auch keiner internen Regulierung. Das beraubt ihn seines inneren Korrektivs, das ihm bei Ausfall des äußeren immerhin noch Einhalt gebieten könnte. Was ihm Einhalt gebieten kann, wäre also nur eine stärkere Gegenmacht. Doch die ist nicht in Sicht, zumal es genügend Menschen gibt, die, ohne unbedingt von der Person Trump begeistert zu sein, von den Wohltaten zu profitieren hoffen, welche die Nähe zu ihm verheißt. Die Entwicklung der republikanischen Partei liefert in dieser Hinsicht reiches Anschauungsmaterial.
Die Frage ist, ob ein Präsident, der per verfassungsgemäß durchgeführter Wahl an die Macht gelangt ist, den ihm gesetzten legalen Rahmen so ausdehnen könnte, dass er zu einer überproportionalen Machtfülle gelangt.
Ist aber die politische Ordnung der Vereinigten Staaten von Amerika ein verlässlicher Rahmen, der einen zur Entgrenzung neigenden Präsidenten wieder einfangen kann? Bietet die zu Recht vielgerühmte amerikanische Verfassung jenen Schutz vor exaltierten Persönlichkeiten an der Spitze des Staates, der im vorliegenden Fall so wünschenswert erscheint?
Natürlich können politische Ordnung und Verfassung diese Funktion dann nicht mehr erfüllen, wenn sie vom amerikanischen Volk selbst nicht mehr gewollt sind. Demokratische Verfassungen haben nur so lange Bestand, wie der Souverän, das Volk, sie als die seinen anerkennt. Ein von einem Demagogen verhetztes Volk könnte der eigenen Herrschaft die Grundlage entziehen und sie dem neuen Führer übergeben, der diese zweifellos autokratisch nützen würde. In den USA erscheint ein solches Szenario aber unwahrscheinlich, da die Spaltung in der Bevölkerung sehr tief und die Trump-Gegnerschaft zahlenmäßig stark ist.
Die Frage ist also, ob ein Präsident, der per verfassungsgemäß durchgeführter Wahl an die Macht gelangt ist, den ihm gesetzten legalen Rahmen so ausdehnen könnte, dass er zu einer überproportionalen Machtfülle gelangt. Eindeutig lässt sich diese Frage wohl nicht beantworten, dazu müsste man wissen, wie weit Trump zu gehen bereit ist. Man kann deshalb nur nach konstitutionellen bzw. institutionellen Schwachstellen suchen, die eine Unwucht in das so sorgfältig konstruierte Verfassungsgefüge bringen könnten.
Zunächst ist festzuhalten, dass zur Zeit der amerikanischen Verfassungsdebatte, also 1787/88, von Verfassungsgegnern bereits vor einer bedenklichen Machtfülle des Präsidenten gewarnt wurde. Sie sahen in ihm einen Quasi-Monarchen, weil er den Oberbefehl über Armee und Marine, das Begnadigungsrecht, ein eingeschränktes Vetorecht und diverse zusammen mit dem Senat wahrzunehmende Kompetenzen erhalten sollte; auch die Amtsdauer von vier Jahren und die damals noch nicht eingeschränkte Zahl von Amtsperioden erschienen ihnen gefährlich für die junge Demokratie.
Allerdings war ihr Bild der von einem einzigen Mann repräsentierten Staatsspitze stark geprägt von den europäischen Monarchen, denen kein so ausgeklügeltes System der checks and balances gegenüberstand, wie sie die amerikanische Verfassung vorsah. Insofern waren ihre Ängste übertrieben, und die Mehrheit der Bevölkerung, die über die Ratifizierung der Verfassung abzustimmen hatte, folgte ihnen nicht.
Die Verfassung und der Geist, der sie erfüllt
In der Geschichte wurde die Macht des Präsidentenamtes von den jeweiligen Amtsinhabern auch sehr unterschiedlich gebraucht. Oftmals wurde bei der Amtsausübung sogar zu einem Problem, was von den Verfassungsvätern gar nicht vorausgesehen wurde: Legislative und Exekutive blockierten sich gegenseitig, der sogenannte gridlock, der meist auf unterschiedliche Parteizugehörigkeiten von Präsident und Kongress zurückzuführen war. Denn da der Präsident sich im Präsidialsystem seine Mehrheit im Kongress immer aktuell beschaffen muss, kann bei einem divided government ein Stillstand eintreten, der den Präsidenten ohnmächtig dastehen lässt. Trump kann das mit dem Senat nicht passieren, denn dieser ist nun in republikanischer Hand. Möglicherweise fällt auch das Repräsentantenhaus noch an die Republikaner, und dann kann der Präsident im Grunde durchregieren.
Als die Verfassung entstand, gab es noch keine Parteien im eigentlichen Sinn. Dass diese zu den entscheidenden Trägern des politischen Prozesses werden würden, war nicht zu ahnen. Sie haben in den USA auch erst in den letzten Jahrzehnten jene ideologische Färbung und feindliche Entgegensetzung angenommen, die Trumps Aufstieg so begünstigten.
Weshalb die Verfassung weder vor dem gridlock noch vor dem Durchregieren schützt, hängt mit den Bedingungen zur Zeit ihrer Ratifizierung zusammen: Damals gab es noch keine Parteien im eigentlichen Sinn. Dass diese zu den entscheidenden Trägern des politischen Prozesses werden würden, war nicht zu ahnen. Sie haben in den USA auch erst in den letzten Jahrzehnten jene ideologische Färbung und feindliche Entgegensetzung angenommen, die Trumps Aufstieg so begünstigten.Deshalb kann auch die dritte Gewalt, die Judikative, ihre Kontrollmacht nicht mehr so ausüben, wie es die Verfassung konzipiert hatte. Trump hat den Obersten Gerichtshof, dessen Richter auf Lebenszeit berufen sind, in seiner ersten Amtszeit so mit Republikaner-affinen Richtern besetzt, dass ihm von dieser Seite her wohl keine Einschränkungen in seinem Tun drohen.
Auf der horizontalen Ebene der Gewaltenteilung, also der Aufteilung der Macht zwischen Präsident, Kongress und Supreme Court, könnten die parteipolitische Übereinstimmung sowie die persönlichen Abhängigkeiten, die Trump zu schaffen versteht, die Wirkung der checks and balances deutlich mindern. Wie es mit der vertikalen Gewaltenteilung, der Machtverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten, aussieht, bleibt abzuwarten. Freilich bieten die "goldenen Zügel", die vom Bund gewährten und an Auflagen geknüpften finanziellen Mittel, immer die Möglichkeit der politischen Steuerung der Einzelstaaten.
Die Verfassungsväter setzten nicht zuletzt auf die republikanische Gesinnung der Bürger wie der Amtsträger.
Wovor die Verfassung ganz und gar nicht schützen kann, ist ein Gebrauch gegen den Geist, der sie erfüllt. Wie wir aus den "Federalist Papers", jenem genialen Verfassungskommentar aus der Gründungsphase der USA, wissen, setzten die Verfassungsväter nicht zuletzt auf die republikanische Gesinnung der Bürger wie der Amtsträger. Bei allen eingebauten Kontrollmechanismen – ohne die Tugend der Amtsinhaber, ihre Liebe zum Land und ihr Pflichtgefühl, konnte das neue System nicht funktionieren. Gemeinwohl erfordert Gemeinsinn, bei den Mitgliedern der Regierung noch in höherem Maß als bei den Bürgern.
Dass ein Mensch wie Donald Trump jemals in das höchste Amt des Staates gelangen könnte, kam den Gründern der amerikanischen Demokratie wohl nicht in den Sinn. Ein solcher Mensch kann die klug erdachten Institutionen einfach aushöhlen, indem er, wie bereits in der ersten Amtszeit geschehen, Ämter mit willfährigen Personen besetzt, per Verfügung am Parlament vorbei regiert, ihm obliegende Aufgaben einfach nicht exekutiert. Es bleibt zu hoffen, dass der republikanische Geist zumindest noch andernorts weht und stark genug ist, das System zu bewahren – notfalls auch gegen seinen obersten Repräsentanten.