Israelfeindlichkeit und IntegrationEine notwendige Debatte

Nach den Ausschreitungen von Amsterdam braucht es ein neues Nachdenken über Integration. Wir müssen verstehen: Integration ist mehr als Sprachkenntnisse, Arbeitsplatz und Ordnungstreue.

Pro-Palästina-Demonstration
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Die gewaltsamen Ausschreitungen vom 8. November 2024 gegen Israelis in Amsterdam erregen die Gemüter. Die einen reagieren empört, die anderen relativieren (haben israelische Fans den Konflikt "provoziert"?), manche feiern. Der genaue Verlauf der Ereignisse wird noch rekonstruiert. Fest steht, dass zur "Jagd auf Juden" in Chatgruppen mobilisiert worden ist. Im Mittelpunkt stehen – nicht zum ersten Mal – arabischstämmige Mob-Teilnehmer. Die Debatte über "importierten Antisemitismus" entfacht erneut. Wir müssen darüber sprechen, was wir eigentlich unter Integration verstehen. Es sind drei Kriterien, die landläufig für eine "gelungene Integration" angeführt werden: sozialversicherungspflichtige Anstellung, hinreichende Sprachkenntnisse und polizeiliche Unauffälligkeit. Diese werden zu Recht als Fundament einer gelingenden Existenz sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewertet. Auf diesen Achsen nämlich – Kommunikation, wirtschaftliche Partizipation und Ordnungstreue – erwachsen und bewähren sich Kulturtechniken, die für jedes soziale Zusammenleben konstitutiv sind. Vielleicht sollten wir statt gelegentlich von Leitkultur eher von leitenden Kulturtechniken sprechen, die unser republikanisches Zusammenleben gewährleisten.

Integration und Identität

Ich arbeite mit Migranten und habe selbst einen Migrationshintergrund. Ich weiß um die emotionalen und kognitiven Herausforderungen, die Migration mit sich bringt – über Generationen hinweg. Kultur ist nicht auf technische Vollzüge reduzierbar. Kulturen sind geschichtlich gewachsene, symbolisch verdichtete und geschichtete, organische Entitäten, aus denen Techniken erwachsen. Je geringer die Verwandtschaft zwischen den jeweiligen Symbolwelten, desto schwieriger der wechselseitige Zugang. Die Erfahrung kennt jeder Tourist.

Dass sich Menschen anderen Menschen in verschiedenen Geraden verbunden fühlen können, ist lebensweltlich naheliegend, genießt als politisches Argument aber einen schweren Stand.

In Geschichte und Kultur werden nicht nur Umgangsformen ausgehandelt, sondern auch Bezüge und daraus folgend Loyalitäten geformt. Dass sich Menschen anderen Menschen in verschiedenen Geraden verbunden fühlen können, ist lebensweltlich naheliegend, genießt als politisches Argument aber einen schweren Stand. Im Frühjahr 2022 fanden in Polen mehr ukrainische Kriegsflüchtlinge binnen weniger Wochen Obdach als im doppelt so großen Deutschland innerhalb des ganzen Jahres 2015. Ohne soziale Verwerfungen und Gewalt im Übrigen. Deutsche Kommentatoren mutmaßten wild über die Gründe einer «Wende» in der polnischen Innenpolitik. Die wenigsten begriffen, dass die Solidarität in den kulturellen, sprachlichen, teils biografischen und historischen Bezügen lag und liegt. Verantwortlichkeit erwächst in der konkreten Bezüglichkeit. Sie endet dort freilich nicht, erfährt sich aber gestuft, je kleiner das gemeinsame Fundament ist.

Die Aufklärung hat den Menschen als ein geschichtsloses Wesen konstruiert und meinte, von der partikularen Geschichte als Identitätsmerkmal absehen zu können. Der Liberalismus erklärt Herkunft zur Privatsache. Der Kommunismus verlangt die barbarische Einebnung aller kulturell-geschichtlichen Bezüge für sein Utopia. Nach Identität und Herkunft zu fragen, ist heute verdächtig geworden. Die einen vermuten diskriminierende Absichten, wenn wir nach unserer Herkunft und unseren Wurzeln gefragt werden. Andere nutzen die Identitätsdiskurse, um erneut Abgrenzung zu schaffen, Zugehörigkeiten zu stilisieren und Misstrauen zu säen.

Einwanderung aus kulturfernen Gesellschaften fordert diesen Aufklärungsglauben heraus. Menschen aus anderen Kulturen bringen ihre eigenen Kulturtechniken, symbolische Wirklichkeitsdeutungen und entsprechende Verstehensweisen mit. Menschen bringen ihre historischen und genealogischen Bezüge und damit auch Loyalitäten mit. All das geht weit über das eingangs skizzierte, zwar korrekte, aber nur oberflächliche Verständnis von Integration hinaus. Simone Weil hat das – politisch ausgesprochen unverdächtig – in ihrer Schrift L'Enracinement ausgedrückt.

Zukunft braucht Herkunft

Wenn technisch bestens integrierte Nachfahren von Einwanderern aus bestimmten Ländern heute den Kern antisemitischer Stimmung auf den Straßen westeuropäischer Großstädte bilden, so wird dieses Problem sichtbar. Ein hochproblematisches Verhältnis zum Judentum innerhalb der muslimischen und insbesondere arabischen Welt ist selbstverständlich in westeuropäische Gesellschaften importiert worden. Menschen bringen ihre Bezugs- und Loyalitätssysteme mit. Einige assimilieren sich mit der Zeit vollständig. Einige schaffen die Herausforderung, alte Herkunft und neue Lebenswelt differenziert in Einklang zu bringen. Andere ignorieren diese Spannung und provozieren die Öffentlichkeit durch ihre ganz eigene Räson.

Ist das verwerflich? Sofern es sich um Antisemitismus handelt, ist es immer ein verwerflicher Akt der Entwürdigung. Davon abgesehen erzeugen konkurrierende Loyalitätssysteme immer potenzielle Zielkonflikte. Doch von Menschen zu verlangen, ihre Herkunft zu neutralisieren, hieße, übergriffig und zynisch ihre identitärer Verwurzelung zu verachten.

"Zukunft braucht Herkunft", diktierte einst Odo Marquard und legte sich mit dem identitären Konstruktionsparadigma der Postmoderne an. Was folgt daraus?

Wenn wir über Integration nachdenken, sollten wir zwei Dinge in Erinnerung behalten: Erstens: Menschen gibt es nur mit Wurzeln. Zweitens: Eine wurzellose Gesellschaft existiert nicht. Integration verlangt und muss gewährleisten, dass beide Wurzeln sich miteinander verflechten können. Ein Staatswesen verlangt keine zwingende kulturelle, religiöse oder sprachliche Homogenität. Aber es verlangt ein Loyalitätsbekenntnis zu seiner Stabilität. In der Krise muss sich dieses Bekenntnis bewähren, nicht im friedlichen Alltag. Es ist überfällig, Milieus, in denen Sympathie mit Gewalt öffentlich demonstriert wird, mit ihrem Verständnis von Loyalität kritisch zu konfrontieren. Die republikanische Öffentlichkeit eines Landes hat das Recht zu wissen, wie es um die Sicherheit des Gemeinwesens bestellt ist.

Migrationsdebatten sind geprägt von undifferenzierten Generalisierungen einerseits und verdrängenden Relativierungen andererseits – ganz zu schweigen von diskursabbrechenden Whataboutismen. Natürlich ist es berechtigt, darauf hinzuweisen, dass Antisemitismus bei weitem nicht nur in arabisch-muslimischen Milieus existiert. Antisemitismus in unterschiedlicher politischer Einfärbung hat es in Deutschland und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg immer gegeben. Dieser Antisemitismus ist in unserer Kultur tief verwurzelt. Er ist schmerzhafter Teil unserer historisch gewachsenen Identität. Gerade deswegen konnten und können wir kulturimmanente Kulturtechniken entwickeln, um ihm kritisch zu begegnen. Gegenüber dem "importierten Antisemitismus" fehlt uns ein intuitiver Zugang, mutmaßlich genau deswegen, weil ein gemeinsamer diskursiver Boden fehlt.

Eine Debatte um Grenzen und Möglichkeiten kultureller Kompatibilität ist unbequem, und sie muss mit höchster Sensibilität geführt werden. Sie nicht zu führen, während die jüdische Community in mehreren europäischen Ländern begründet um eine sichere Zukunft für sich im Land bangt, wäre vor dem Hintergrund des einmal mehr beschworenem "Nie-wieder"-Diktums hingegen zynisch.

Ambivalenzen auszuhalten, wäre dringend geboten. Dass die Polarisierung bisweilen unappetitliche Züge annimmt und die ganze politische Landschaft kolonialisiert, ist Folge einer Verdrängung durch Vertreter des politischen Zentrums. Eine Debatte um Grenzen und Möglichkeiten kultureller Kompatibilität ist unbequem, und sie muss mit höchster Sensibilität geführt werden. Sie nicht zu führen, während die jüdische Community in mehreren europäischen Ländern begründet um eine sichere Zukunft für sich im Land bangt, wäre vor dem Hintergrund des einmal mehr beschworenem "Nie-wieder"-Diktums hingegen zynisch. Schweigt das Zentrum, werden die Ränder die Migrationsdebatten bestimmen. Sie tun es schon jetzt.

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