Am 5. November 2024 finden in den USA wieder Präsidentschaftswahlen statt. Ob Kamala Harris (*1964) von der Demokratischen Partei oder Donald Trump (*1946) von den Republikanern gewinnt, lässt sich kaum absehen. Deshalb müssen beide Lager nicht nur ihre Kernklientel mobilisieren, sondern möglichst viele Wechselwähler für sich gewinnen. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den sogenannten running mates zu, das heißt den jeweiligen Stellvertretern, die im Falle eines Sieges als Vizepräsident amtieren werden.
Bei ihrer Auswahl spielen geografische und positionelle Erwägungen eine zentrale Rolle. So hat Harris, die aus Kalifornien stammt und als moderat gilt, den ins linke Spektrum anschlussfähigen Gouverneur von Minnesota, Tim Walz (*1964), zu ihrem running mate gemacht. Trump, der in New York und Florida ein luxuriöses Leben führt, wird von James David ("JD") Vance (*1984) unterstützt. Halb so alt wie Trump vertritt er den wirtschaftlich gebeutelten Bundesstaat Ohio im Senat der Vereinigten Staaten. Vance hat sich aus ebenso einfachen wie schwierigen Verhältnissen hochgearbeitet. Mit seiner Frau, deren Familie aus Indien eingewandert ist, hat der Veteran drei kleine Kinder. Außerdem gehört er als Katholik einer bedeutenden Wählergruppe an. Trumps Entscheidung, ihn als running mate zu nehmen, ist somit strategisch nachvollziehbar. Ob es ihm gelingen wird, Wechselwähler in signifikanter Zahl für die Republikaner zu gewinnen, bleibt allerdings abzuwarten.
Zwischen Billy Graham, Ayn Rand und Augustinus
Seinen Weg zum Katholizismus hat Vance in einem Essay beschrieben: How I joined the Resistance (2020). Hier wird manches vertieft, was bereits im stark autobiografischen Roman Hillbilly Elegy (2016) vorkommt. Unübersehbar sind dabei Anklänge an die Confessiones, in denen Augustinus (354-430) sein Leben vor Gott reflektierte. Vance wählte den spätantiken, persönlich komplexen Bischof bei seiner Taufe im August 2019 übrigens als Patron.
Vance stammt aus dem Rustbelt: Er wuchs in einer vom Verfall der Industrie geprägten Kleinstadt im Bundesstaat Ohio auf. Die Familienverhältnisse waren kompliziert. Sein Vater hatte die Familie früh verlassen, die Mutter war drogenabhängig. Deshalb wuchs er bei einer Großmutter auf ("Mamaw"). Sie kümmerte sich nach Möglichkeit um ihren Enkel. Religion war ein wichtiger Aspekt des Lebens, nicht aber die Kirche. So waren Gottesdienstbesuche eine Seltenheit. Wenn Vance gelegentlich seinen Vater besuchte, dann gingen sie gemeinsam zu einer pentekostalen Gemeinde. Daheim bei seiner Großmutter wurden dagegen die Auftritte von Erweckungspredigern wie Billy Graham (1918-2018) im Fernsehen geschaut. Der politisch bestens vernetzte Graham war zwar Baptist, verkündigte aber ein lebenspraktisches, protestantisches Christentum ohne Bezug auf eine bestimmte Konfession. Sakramente spielten bei ihm keine Rolle; es zählte allein der persönliche Glaube. So wurde Vance auch weder getauft noch Mitglied einer bestimmten Kirche.
Nach dem Abschluss der High School verpflichtete sich Vance beim Militär. Von 2003 bis 2007 diente er bei der Marineinfanterie und nahm im Zuge dessen auch am Irakkrieg teil. Danach studierte er Politikwissenschaften und Philosophie an der Ohio State University. Inzwischen war seine Großmutter gestorben und zu seinem Herkunftsmilieu hatte er kaum noch Kontakt. An der Universität fand er sich in einem säkularen Umfeld wieder. Vance las religionskritische Autoren und wurde selbst zum Atheisten. Gleichzeitig überzeugte ihn der Libertarismus, also eine Strömung in der politischen Philosophie, die regulierende Eingriffe in Marktprozesse und den Sozialstaat ablehnt. Seine intellektuelle Leitfigur wurde die Schriftstellerin Ayn Rand (1905-1982). Geboren in Russland, hatte sie den Kommunismus unmittelbar erlebt. Rand wanderte in die USA aus, verfasste Romane und Theaterstücke, in denen sie die Bedeutung des Individuums gegenüber dem Kollektiv betonte. Sie nahm größten Einfluss auf die Politik der USA, besonders auf die Republikanische Partei.
Vance erwarb nach nur vier Semestern den Collegeabschluss – üblich sind vier Jahre. Aufgrund seiner akademischen Leistungen erhielt er ein Stipendium für die Yale University. Im Herbst 2010 nahm er an dieser elitären Bildungseinrichtung nördlich von New York das Jurastudium auf. Die dortige Law School zählt zu den besten des Landes. Ihre Absolventen verfügen über ein exzellentes Netzwerk und werden normalerweise Anwälte oder Rechtsberater mit enormen Gehältern. Dies vor Augen, begann Vance jedoch, über seine persönlichen Prioritäten nachzudenken. Anstoß dazu war die Beziehung zu einer Kommilitonin, heute seine Frau. Denn so wichtig Erfolg und Karriere sein mochten – ein guter Mensch war er damit noch lange nicht. Ein solcher wollte er aber sein, um eine Familie gründen zu können.
Sünde und Tugend
Im Essay How I joined the Resistance ist "Tugend" (virtue) ein Schlüsselwort. Gemeint ist eine selbstlose und hingebungsvolle Existenz, die den anderen sieht, statt den eigenen Vorteil zu suchen. Ein solcher Mensch zu werden ist aber nicht leicht. Davon überzeugte ihn zum einen René Girards (1923-2015) Theorie des mimetischen Begehrens. Ihr zufolge wollen Menschen immer etwas, das zugleich auch andere wollen, was unweigerlich zu Konflikten führt. Zum anderen beschäftigte sich Vance mit Augustinus, vor allem mit den kulturkritischen Partien in De civitate Dei. Was Augustinus in der Spätantike geschrieben hatte, sei die treffendste Kritik der modernen Gesellschaft. Denn ebenso wie die damaligen Eliten interessiere man sich auch heute mehr für Konsum und Vergnügen statt für Pflicht und Tugend. Was das Christentum Sünde nennt, erschien Vance kein abstraktes theologisches Konzept, sondern wirklichkeitserschließend zu sein. Keine strukturelle oder soziale Reform, wie linke Politiker sie gerne fordern, könne jemals das latent Zerstörerische im Menschen überwinden. Stattdessen müsse man zu einem neuen Menschen werden. Dazu bedarf es jedoch nicht nur der persönlichen Anstrengung, sondern auch einer unterstützenden Gemeinschaft.
Die Gruppe der Social Justice Catholics, wie die vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägten sozial- und gesellschaftspolitisch orientierten Katholiken heißen, dürfte Vance nicht ansprechen.
Allmählich näherte sich Vance dem Katholizismus an. Er kam mit Dominikanern der Provinz St. Joseph ins Gespräch. Diese Provinz gilt liturgisch, theologisch und (kirchen-)politisch als klar konservativ; zugleich steht sie für einen intellektuellen, thomistisch ausgerichteten Glauben. Nachdem Vance wegen des anhaltenden Missbrauchsskandals zunächst gezögert hatte, war es im August 2019 so weit. Er empfing in der Pfarrei St. Gertrude in Cincinnati im Bundesstaat Ohio Taufe, Firmung und Erstkommunion. Seit ihrer Gründung ist die Pfarrei den besagten Dominikanern anvertraut. Sein Taufspender, Henry Stephan (*1989), hatte vor dem Ordenseintritt an der Princeton University studiert.
Vance bewegt sich in einem konservativen Submilieu des US-Katholizismus, der in den letzten Jahren zwar gerade bei jungen Menschen Anklang findet, aber keineswegs repräsentativ ist. Die Gruppe der Social Justice Catholics, wie die vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägten sozial- und gesellschaftspolitisch orientierten Katholiken heißen, dürfte Vance jedenfalls nicht ansprechen. Für sie steht die Politik der Republikaner im Widerspruch zu den Prinzipien der kirchlichen Soziallehre: Personalität, Subsidiarität, Solidarität, Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeit.
Dass sich Trump in einer ganzen Reihe von Zivil- und Strafprozessen verantworten muss und darüber hinaus für seine aggressiv-herabwürdigende Umgangsweise bekannt ist, scheint Vance nicht zu stören. Wie er das mit dem Streben nach Tugend und den hohen moralischen Standards zusammenbringt, von denen er sich in der Zeit nach seiner Taufe überzeugt zeigte, bleibt sein Geheimnis.
Vance war lange als Investor tätig, was schwerlich zu seinem Image als Anwalt der einfachen Leute passt. Zudem ist er eng mit dem libertären Multimilliardär Peter Thiel (*1967) verbunden, der seine politische Karriere maßgeblich gefördert hat. Vance beschloss im Jahr 2021, für einen frei werdenden Sitz im Senat zu kandidieren. Erst setzte er sich gegen starke innerparteiliche Konkurrenz durch, dann gewann er gegen einen prominenten Kandidaten der Demokraten. Seither vertritt er den Bundesstaat Ohio in Washington – und gilt als treuer Anhänger Trumps. Ursprünglich hatte er ihn vehement abgelehnt; später gab er sich geläutert, sagte, Trump sei ein guter Präsident gewesen.
Dass sich Trump in einer ganzen Reihe von Zivil- und Strafprozessen verantworten muss und darüber hinaus für seine aggressiv-herabwürdigende Umgangsweise bekannt ist, scheint Vance nicht zu stören. Wie er das mit dem Streben nach Tugend und den hohen moralischen Standards zusammenbringt, von denen er sich in der Zeit nach seiner Taufe überzeugt zeigte, bleibt sein Geheimnis. Im Jahr 2021 bezeichnete Vance führende Politikerinnen der Demokratischen Partei als "childless cat ladies". Diese Aussage hätte man wohl eher Trump zugetraut – und sie verfolgt den vorgeblich reflektierten Katholiken im laufenden Wahlkampf.