Für die anstehenden deutschen Bundestagswahlen bietet die Erzdiözese Freiburg auf ihrer Webseite einen "Wahlkompass" an. Ein KI-Chatbot, gefüttert mit den Wahlprogrammen der Parteien und, wie es heißt, den "wichtigsten Texten der Katholischen Soziallehre" will "eine fundierte Orientierung" für die Wahlentscheidung bieten. Er tut dies, indem er die Programme der zur Wahl stehenden Parteien mit den zentralen Aussagen der katholischen Soziallehre vergleicht.
Rot-Grün: Für soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde
Dem Reiz, das einmal auszuprobieren, vermochte ich, obwohl Schweizer ohne Wahlberechtigung, nicht zu widerstehen. "Welche Partei stimmt am besten mit der Soziallehre der Kirche überein?", war meine erste Frage, die ich dann jeweils gesondert für CDU, SPD, Grüne, FDP und AfD wiederholte. Um es vorwegzunehmen: Die vom "Wahlkompass" gewiesene Richtung war eindeutig. Die Positionen von SPD und Grünen wurden – und zwar ohne Vorbehalte – als in Harmonie mit der Soziallehre erachtet. Denn, so liest man, die Positionen dieser Parteien stehen auf der Seite des Gemeinwohls, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität, der Nachhaltigkeit und – erstaunlicherweise, muss man sagen – auch der Subsidiarität. Schließlich befänden sie sich mit ihren Forderungen auch im Einklang mit den Menschenrechten und der Wahrung der Menschenwürde.
Die Positionen der CDU (und der CSU) werden hingegen nur mit Vorbehalt empfohlen, unter der Voraussetzung nämlich, "sie fördern das Gemeinwohl und gewährleisten soziale Gerechtigkeit". Auch bei den von der CDU geforderten "wirtschaftlichen Maßnahmen" sei es von Bedeutung, sicherzustellen, dass sie "nicht nur auf Wachstum abzielen, sondern auch soziale Gerechtigkeit und Solidarität fördern". Das wird sowohl der SPD wie auch den Grünen ohne Vorbehalt eingeräumt. Letztere würden für ihren Einsatz für "Klimaschutz, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit" und für erneuerbare Energien auch zur "Förderung des Gemeinwohls und zur Bewahrung der Schöpfung" beitragen.
"Die Wirtschaft ist für den Menschen da …": Fehlzitat
Neben den Mantras wie "Gemeinwohl" oder "soziale Gerechtigkeit" erscheint zu Beginn der Antworten zu wirtschaftlichen Positionen, gleichsam als Einstimmung, immer wieder der Satz: "Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft". Als Quelle gibt der diözesane Chatbot, die Enzyklika "Centesimus annus" von Johannes Paul II. (Abschnitt 36) an. Doch der Verweis ist falsch. Im angegebenen Abschnitt steht dieser Satz nicht, es geht dort vielmehr um eine Kritik am Konsumismus und im Speziellen an der Rechtfertigung des Drogenkonsums als einem moralisch unbedenklichen Bedürfnis. Bekanntlich war es die Ampel, also Rot-Grün mit Kopfnicken der FDP, die in Deutschland den Konsum von Cannabis legalisierte – was die CDU rückgängig machen möchte. Das wird hier aber vom Wahlkompass großzügig ausgeblendet.
In Wirklichkeit findet sich – laut Auskunft eines anderen, nicht-kirchlichen KI-Bots, nämlich ChatGPT – der angeblich von Johannes Paul II. stammende Satz "Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft", in keinem Text der kirchlichen Soziallehre, wohl aber in vielen Äußerungen von Gewerkschaften und der SPD. Sie würden ihn, so ChatGPT, oft mit Bezug auf die katholische Soziallehre verwenden. Natürlich kursiert der Satz längst auch in kirchlichen Verlautbarungen, doch findet er sich eben in keinem Dokument des sozialen Lehramtes der katholischen Kirche, wie ChatGPT auf Anfrage ausdrücklich bestätigt.
Johannes Paul II. prägte hingegen in einer anderen Enzyklika, nämlich "Laborem exercens" (Abschnitt 6) den Satz, "in erster Linie ist die Arbeit für den Menschen da und nicht der Mensch für die Arbeit". (Enzyklika "Laborem exercens" 6). Dem Papst ging es hier um den "Subjektcharakter" der menschlichen Arbeit. Die Aussage wird vom Freiburger KI-Bot durchaus angeführt, aber zu einem ganz anderen Thema, nämlich der Forderung der SPD nach einer Erhöhung des Mindestlohns, was, so der Wahlkompass, der sozialen Gerechtigkeit entspreche. Denn er ermögliche unter anderem den Menschen, "ein Leben in Würde zu führen". Erst nach expliziter Nachfrage, ob denn höhere Mindestlöhne eindeutig diese Folge hätten, gibt der kirchliche Chatbot zu, das Thema sei in Wirklichkeit "vielschichtig". Um die Einschätzung der Position der CDU zu diesem Thema gebeten, kommt die Antwort, hier sei zu prüfen, ob deren Vorschläge zu "Steuererleichterungen und der Modernisierung des Arbeitsmarktes" tatsächlich zu einem "gerechten Lohn", der ein "menschenwürdiges Leben sichert", führen könne. Wiederum: 1:0 für Rot-Grün.
Von der Kirche gefordertes Umdenken ignoriert
Womit nun nicht gesagt sein will, der Satz "Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft" sei falsch. Im Wesentlichen geht er auf Adam Smith zurück ("Vom Wohlstand der Nationen", 4, 8). Die darin enthaltene Grundidee bestimmte auch Ludwig Erhards Konzept der "sozialen Marktwirtschaft": Die Wirtschaft hat den Konsumenten und nicht den Produzenten zu dienen. Just diese – im Grunde anti-merkantilistische – Perspektive fehlt in Gewerkschafts- und SPD-nahen Verlautbarungen. Ökonomisch gesehen vertreten ja die Gewerkschaften nicht die Interessen der Konsumenten, sondern die der Produzenten: höhere Löhne, Schutz von Arbeitsplätzen und so weiter, auch wenn das am Ende des Tages nur für die in bestimmten Industrien oder Dienstleistungssektoren Arbeitenden, nicht aber für die Konsumenten im Allgemeinen gut ist. Aus marktwirtschaftlicher Sicht gilt hingegen: Für die Allgemeinheit ist gut, was dem Wachstum förderlich ist, denn genau dadurch entsteht mehr und besserer Konsum, das heißt wachsender allgemeiner Wohlstand. Im Unterschied zur gewerkschaftlichen Sicht, die auch der SPD eigen ist, werden hier also keine Gruppeninteressen, sondern das Gemeinwohl ins Auge gefasst.
Im Unterschied zum rot-grünen Mindset kirchlich beamteter Sozialethiker hat das die katholische Soziallehre, insbesondere Johannes Paul II., an sich durchaus erkannt. Trotz aller Vorbehalte findet sich bei ihm die wichtige Aussage, sowohl auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene sei der "freie Markt das wirksamste Instrument für die Allokation der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse" (Centesimus annus, 34). Andererseits warnte er vor einem überbordenden Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der zur Hängematte des "Fürsorgestaates" wird. Deutlich heißt es in der Enzyklika "Centesimus annus" (48): "Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen; Hand in Hand damit geht eine ungeheure Ausgabensteigerung."
Der Wahlkompass meint: Die Zielsetzung des Bürgergelds "harmoniert mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre, die eine ausgewogene Beziehung zwischen Unterstützung und Eigenverantwortung anstrebt." Trifft das wirklich auf das heutige Bürgergeld zu, dem ja zu Recht vorgeworfen wird, es zerstöre Arbeitsanreize?
So verlangte auch das – vom erzbischöflichen KI-Bot (auf Anfrage) durchaus verwendete – Arbeitspapier der Deutschen Bischofskonferenz "Das Soziale neu denken" von 2003 ein Umdenken in genau diese Richtung: Abbau des überbordenden, leistungsfeindlichen und bürokratischen Sozialstaates. Rund zwanzig Jahre danach führte hingegen die Ampelkoalition das "Bürgergeld" ein, geht also in die entgegengesetzte Richtung. Der Wahlkompass meint dazu auf Anfrage: Die Zielsetzung des Bürgergelds "harmoniert mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre, die eine ausgewogene Beziehung zwischen Unterstützung und Eigenverantwortung anstrebt." Trifft das wirklich auf das heutige Bürgergeld zu, dem ja zu Recht vorgeworfen wird, es zerstöre Arbeitsanreize?
Kirchliche KI gegen Marktwirtschaft und Bürokratieabbau
Kurz: Bei näherem Zusehen scheint die erzbischöfliche KI ganz auf ein mit dem rot-grünen politischen Spektrum konformen Verständnis von "Gemeinwohl" und "sozialer Gerechtigkeit" getrimmt. Das hängt natürlich auch mit der Schwammigkeit dieser Begriffe zusammen. Alles hingegen, was in Richtung Bürokratieabbau, Senkung der Staatsquote und Stärkung des Wettbewerbs weist – ein Grundanliegen der sozialen Marktwirtschaft im Verständnis von Ludwig Erhard –, wird als "neoliberal" bezeichnet und als nur schwerlich vereinbar mit dem Gemeinwohl stigmatisiert. Das Etikett "neoliberal" wird dabei witzigerweise der AfD angehängt.
Auf meine Frage, weshalb genau die AfD neoliberal sei, kommt unter anderem die Antwort: Weil sie "eine marktwirtschaftliche Ordnung, die Deregulierung und den Abbau von Bürokratie in den Vordergrund stellt". Darüber hinaus, so die kirchliche KI, "setzt sich die AfD für eine Verringerung der Staatsquote ein, um den Wettbewerb zu stärken." Will der Wahlkompass ureigene christdemokratische und wirtschaftsliberale Anliegen, die sogar vom sozialen Lehramt der Päpste unterstützt werden, durch angebliche AfD-Nähe diskreditieren?
Ob das Mantra "soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl" tatsächlich die richtige Orientierung bietet, ja nicht vielmehr durch Bürokratisierung, Überschuldung und wirtschaftliche Stagnation die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Abwärtsspirale des ganzen Landes antreibt, spielt keine Rolle. Moralische Appelle gehen ökonomischem Sachverstand vor.
Aus Sicht der katholischen Soziallehre, so die im Dienste des Erzbistums stehende künstliche Intelligenz, könne "die starke Fokussierung auf Deregulierung und die Reduzierung staatlicher Eingriffe als kritisch angesehen werden" denn die katholische Soziallehre fordere – so heißt es nun auch hier wieder in gewerkschafts- und SPD-naher Diktion – "eine Wirtschaft, die dem Menschen dient und soziale Gerechtigkeit fördert." Die Kriterien sind also sonnenklar, und, so der kirchliche "Wahlkompass", nur Rot-Grün kann ihnen offenbar wirklich entsprechen. Ob das Mantra "soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl" in diesen Fällen tatsächlich die richtige Orientierung bietet, ja nicht vielmehr durch Bürokratisierung, Überschuldung und wirtschaftliche Stagnation die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Abwärtsspirale des ganzen Landes antreibt, spielt keine Rolle. Moralische Appelle gehen ökonomischem Sachverstand vor.
Spiel mit gezinkten Karten
Was der KI-Bot antwortet, hat er nicht im Netz gefunden; darauf hat er, wie er explizit betont, keinen Zugriff. Seine Antworten gründen auf den Ressourcen, mit denen sein Gehirn von ganz und gar nicht-künstlichen Intelligenzen gefüttert wurde. Es scheinen eher einfach gestrickte Intelligenzen, für die Schlagworte wie "Gemeinwohl", "soziale Gerechtigkeit", "Menschenwürde" allein schon genügen, um ein mit solchen Worten operierendes politisches Konzept zu beurteilen. Dabei verbleibt man an der Oberfläche, entscheidend sind letztlich ideologische Prägungen, gemäß denen alles "Soziale" automatisch dem Gemeinwohl dient, alles "Wirtschaftliche" hingegen unter dem Apriori-Verdacht steht, ihm zu widersprechen.
Somit spielt dieser Wahlkompass mit gezinkten Karten. Zudem erinnert er an Zeiten, in denen die Kirche ihre Gläubigen darin zu beeinflussen suchte, wie sie zu wählen hätten, damals allerdings nur in wenigen, für den Glauben und die christliche Identität wirklich relevanten Fragen. Heute geht es jedoch um Fragen, die, wie das Zweite Vatikanische Konzil betont hat, dem freien Ermessen der Gläubigen anheimgestellt sind, ohne dass es hier die eine "katholische" Position geben könnte. Warum dann also im Jahre 2025, sechzig Jahre nach dem Konzil, ein kirchlicher "Wahlkompass"?