Anno 2001 gab sich Deutschland geschockt. PISA, eine internationale Vergleichsstudie der OECD-Staaten, hatte ergeben, dass die schulischen Leistungen der 15-Jährigen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften eher bescheiden waren. Bald darauf, am 21. November 2001 hielt Leo O'Donovan SJ, damals Präsident der Washingtoner Georgetown Universität, im französischen Dom zu Berlin eine viel beachtete Rede: "Tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung". Als Schüler von Karl Rahner sprach er perfekt Deutsch. Seine faktengestützte gesellschaftliche Analyse lief auf nichts weniger als die Befürchtung eines sich verselbständigenden totalitären Funktionalismus hinaus. In Zeiten des KI-Hypes wiedergelesen eine prophetische Ansage.
Damit hatte er die Frage nach einer transfunktionalen Gegenkraft dramatisch angeschärft. Für sie griff er auf eine Prägung aus Thomas Manns Josephsroman zurück: das "Übernützliche". Dieser Begriff geistert seitdem durch viele pädagogische und vor allem kirchliche Texte zur Bildungsthematik. Überhaupt kann sich Leo O'Donovan über die offene und verdeckte Rezeption seiner Überlegungen nicht beschweren. Doch der bemerkenswerte Erfolg seiner Rede führte nicht zu einer Änderung der Bildungspolitik. Im Gegenteil. Die Anstrengungen, die messbaren Anteile der schulischen Bildung zu optimieren, wurden forciert. Die Bundeskanzlerin sprach vom "Bildungsland Deutschland", und schon lange war von der "Wissensgesellschaft" die Rede. Geld sollte in die Hand genommen, Whiteboards angeschafft, möglichst alle Kinder und Jugendlichen mit einem Tablett ausgestattet werden etc. Die Schulen wurden und werden, forciert durch die Corona-Epidemie, digitalisiert.
Für die Beratungsindustrie hatte sich ein neues Geschäftsfeld eröffnet. Das Ergebnis: Die PISA-Daten von 2023 lagen noch unter denen von 2001. Gleichzeitig aber ornamentierten die Plädoyers für das Übernützliche die folgenlosen pädagogischen Sonntagsreden.
Anhaltend schlechte PISA-Daten
Eine seltsame Schizophrenie liegt über den Bildungsdebatten. Die Anwälte und Fachvertreter der nicht von PISA erfassten Inhalte, also der musischen Fächer, Religion, Ethik, Philosophie, Literatur, Kunst, Musik, melden sich immer wieder zu Wort, erhalten regelmäßig viel Beifall und Zustimmung, erreichen aber im Grunde nichts. Klaus Mertes kann ausgerechnet den OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher zitieren, der 2023 schrieb: "Die meisten Schülerinnen und Schüler sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden. Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen." Sogar der für die Leistungsmessung Zuständige weiß also um die Defizite, die sein Verfahren nahezu automatisch erzeugt, indem der Vergleich im globalen Wettbewerb das Bildungswesen ökonomisiert und alle Energie auf den messbaren Sektor lenkt. Die Wirtschaft hatte das Thema entdeckt. 2005 fand in Berlin unter dem Titel "McKinsey bildet" eine große Auftaktveranstaltung statt, mit der Dr. Kluge, damals der CEO der Firma, sich anheischig machte, Deutschland im globalen Wettbewerb um das "Humankapital" an die Spitze zu führen. Für die Beratungsindustrie hatte sich ein neues Geschäftsfeld eröffnet. Das Ergebnis: Die PISA-Daten von 2023 lagen noch unter denen von 2001. Gleichzeitig aber ornamentierten die Plädoyers für das Übernützliche die folgenlosen pädagogischen Sonntagsreden.
Klaus Mertes beteiligte sich an diesen Predigten nicht. In einem ausführlichen Kapitel seines Buches macht er im Gegenteil die funktionale Bildung zunächst einmal stark. Die Ausbildung in Lesen, Schreiben, Mathematik und Naturwissenschaften bereitet ja tatsächlich auf die Teilhabe nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch am gesellschaftlichen Leben vor. Natürlich ist sie wichtig für den globalen Wettbewerb, sorgt aber auch für Chancengleichheit. Um diese stand und steht es nicht gut. Die Bedeutung messbarer Grundbildung steht also außer Frage. Aber 2023 muss man noch mehr als 2001 fragen: Wie kommt es, dass sich trotz der forcierten Förderung funktionaler Bildung die Chancengleichheit nicht verbessert hat?
Am Ende zieht Mertes das lapidare Resümee: "Planen und steuern lässt sich nur, was sich planen und steuern lässt." Offenbar hängt in der Bildung etwas Entscheidendes von dem ab, was sich nicht planen und steuern lässt. Wenn der Blick sich von den Stellschrauben löst und auf die Kinder und Jugendlichen fällt, die nicht nur schrauben und geschraubt werden, sondern miteinander leben, durch Pubertät und Krisen umgetrieben werden, Ängste und Probleme haben, sich aber auch begeistern und hoffnungsvoll Ziele verfolgen, dann weitet sich der Horizont, dann kommt es auf Herzensbildung an.
Der Sabbat bildete dort das Urmodell des transfunktional Übernützlichen. Das Verbot, am siebten Tag der Woche zu arbeiten, suspendiert den Nutzenkalkül, entfaltet aber nahezu unausweichlich die segensreichen Wirkungen, die der arbeitsfreie Tag mit sich bringt. Dieses transfunktionale Paradox ist auch der Motor der Herzensbildung.
Im Zentrum dieser Herzensbildung wirkt ein Paradox. Es führt zu Einsichten und entfaltet eine seltsame Kraft. Schon in Leo O'Donovans Tempi-Thesen war es ein faszinierender Nucleus. Der Sabbat bildete dort das Urmodell des transfunktional Übernützlichen. Das Verbot, am siebten Tag der Woche zu arbeiten, also Zwecke zu verfolgen, suspendiert den Nutzenkalkül, entfaltet aber nahezu unausweichlich die segensreichen Wirkungen, die der arbeitsfreie Tag mit sich bringt, und zwar ohne sie direkt intendiert zu haben. Dieses transfunktionale Paradox ist auch der Motor der Herzensbildung. Klaus Mertes nennt es "Das pädagogische Nutzenparadox". Was er damit meint, kann er durch viele treffende Beispiele klarmachen. So ergibt sich ein erfahrungsgesättigter Einblick in die Schule als Lebensraum. Die Institution Schule ist ein System, das Regeln folgt. Ludwig Wittgenstein stellte die Philosophie seiner Spätphase unter die Leitfrage: "Was heißt einer Regel folgen?"
Wer das Übernützliche anstrebt, muss Geschichten erzählen
Sie könnte auch für Klaus Mertes gelten. Das Regelsystem Schule nennt er sogar eine "Zwangsinstitution". Sie bedient zunächst einmal die legitime Forderung nach funktionaler Grundbildung. In einer guten Schule darf es aber dabei nicht bleiben. Einen besonders leserfreundlichen Reiz entfalten die exemplarischen Erlebnisberichte, in denen der Autor darlegt, wie man den Zwang, den Regeln trivialerweise ausüben, in einen Freiheitsraum verwandeln kann. Mertes setzt funktionale und transfunktionale Bildung in ein immer spannungsreiches, am Ende aber fruchtbares Verhältnis. Wer das Übernützliche anstrebt, erlässt keine neuen Regeln, er muss Geschichten erzählen. Diese kreisen fast alle um den gedanklichen Kern des transfunktionalen Nutzenparadoxes. Wie schon Leo O'Donovan sieht er im Sabbat sein Urbild, in dem die polare Spannung des Paradoxes seine Kraft entfalten kann. Geradezu spannend die Beispiele, in denen der Regelbruch zum Bildungserlebnis wird und ein Selbstbewusstsein erzeugt, das es erst möglich macht, den Regeln in Freiheit zuzustimmen.
Der ehemalige Rektor der beiden Jesuitenkollegs Canisius in Berlin und Sankt Blasien im Schwarzwald ist eine Ausnahmeerscheinung. Man kennt ihn als den Mann, der in Berlin mutig den Missbrauch aufgedeckt hat. Damit begann für ihn und seine Kirche eine schwere Zeit. Einen Boten für seine Botschaft zu bestrafen, gilt zwar als exemplarische Dummheit, in den Ordinariaten wurde sie dennoch oft genug begangen. Doch Mertes leckt keine Wunden. Er beschweigt das Thema nicht, zu dem er sich auch schon hinreichend geäußert hatte und blickt nach vorne. Auch beim Thema Prävention kann er den Segen der Herzensbildung aufzeigen, die für ihn schließlich zu einer Art Universalie wird.
Im Laufe der Zeit wird Mertes zu einem Experten in der Organisation von Stille- und Schweigeübungen. Das pädagogische Nutzenparadox mag manchmal ein Geschenk des Himmels sein.
Er macht sie zu einem gesamtgesellschaftlichen Desiderat, das weit über den Bereich der Bildung hinausstrahlt. Mit Hartmut Rosa, dem Jenaer Soziologen, beschreibt er das gegenwärtige Grundrauschen der Beschleunigung, dem die Ziele abhandengekommen sind, als "rasenden Stillstand". Rosa spricht dann von Räumen der Resonanz, "… in denen Herzen überhaupt wieder anfangen können zu hören und zu schwingen im Sinne des harmonischen Gebetes 1 Kön 3,9. 'Gib mir ein hörendes Herz…'."
Mertes' Werbung für Herzensbildung
In einer seiner Geschichten erzählt Klaus Mertes, wie er das Schweigen entdeckt hat. Im Schweigen macht der Funktionalismus Pause. Nach dieser Entdeckung beschließt er, "… es in Zukunft immer so zu halten". Im Laufe der Zeit wird Mertes so zu einem Experten in der Organisation von Stille- und Schweigeübungen. Das pädagogische Nutzenparadox mag manchmal ein Geschenk des Himmels sein. Dem Himmel und den Seelen durch Übungen zu helfen, war schon seit Ignatius von Loyola die Leitidee der Jesuiten. Seine Erfahrung hat ihn überzeugt: durch ein bestimmtes Training kann man dem Übernützlichen Raum verschaffen. In einem abschließenden Kapitel bringt er daher die ignatianischen Exerzitien in einem "Curriculum der Herzensbildung" a jour. An einem besonders interessanten Punkt berühren sie sich mit dem Nutzenparadox als der Kraftquelle der Herzensbildung. So wie der Nutzen des Übernützlichen nicht kalkuliert und strategisch angestrebt werden kann, so muss die Person, welche die Übungen anleitet, auf jeden strategischen Einfluss verzichten und sich wie der neutrale Kipppunkt in der Mitte einer Waage verhalten.
Klaus Mertes' Werbung für Herzensbildung ist eine furchtlose Intervention, die um die großen Begriffe, unter denen Liebe der größte ist, keinen Bogen macht, nur weil sie abgenutzt sind. Er bringt sie zum Strahlen als wären sie gerade erst erfunden.