In den letzten Tagen häuften sich im Vorfeld der beiden Entscheidungen von Bundestag und Bundesrat zur Grundgesetzänderung die Appelle der mutmaßlich künftigen Koalitionspartner an die "staatsbürgerliche Verantwortung" der Vertreter der demokratischen Parteien der Mitte. Man möge in dieser besonders drängenden weltpolitischen Situation doch der Reform der "Schuldenbremse" zustimmen, um die Bundesrepublik Deutschland wieder handlungsfähig zu machen und die künftige Regierung von Union und SPD in dieser historischen Stunde mit den erforderlichen Finanzmitteln auszustatten, um den Herausforderungen der nächsten Jahre gerecht werden zu können.
So nachvollziehbar diese verfassungsrechtliche Notoperation für die dringend gebotene Ertüchtigung der Bundeswehr nach Jahrzehnten der verteidigungspolitischen Trittbrettfahrerei auch sein mag, so sehr wirft das gleichzeitig angestrebte Infrastrukturpaket von 500 Milliarden Euro Fragen auf. Um die Zustimmung der Grünen zu sichern, musste es im letzten Augenblick noch um eine Klimaschutzkomponente ergänzt werden. Dass hier in großer Eile ganz unterschiedliche Komponenten zu einem Gesamtpaket verbunden wurden, führte dazu, dass über die Berechtigung der einzelnen Maßnahmen überhaupt nicht diskutiert werden konnte.
Erpressbare Union
Natürlich ist die Union angesichts der Mehrheitsverhältnisse in keiner leichten Situation. Trotzdem haben sich CDU und CSU gleich in doppelter Hinsicht erpressbar gemacht – und viel Vertrauen verspielt, noch bevor die eigentlichen Koalitionsverhandlungen überhaupt begonnen hatten.
Es besteht nun die Gefahr, dass wichtige Debatten über eigentlich dringend notwendige Strukturreformen nicht geführt werden, etwa zur generationengerechten Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Dass Friedrich Merz schon im Wahlkampf eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ausgeschlossen hat, war ein Fehler.
Auch von den anderen ungelösten politischen Großproblemen – von der Migrationskrise über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und dem Pflegenotstand bis hin zu einem familiengerechteren Umbau des Steuersystems – war in den letzten Wochen kaum noch die Rede. Ist das wirklich nur mit externen Faktoren wie der andauernd beschworenen veränderten geopolitischen Weltlage oder gar der notwendigen Vertraulichkeit der Koalitionsverhandlungen zu erklären?
Reform des Abtreibungsrechts "essenziell" für Koalitionsvertrag?
Gerade das, was aus diesen Koalitionsverhandlungen jüngst nach außen drang, lässt nichts Gutes erwarten. Die Bundesvorsitzende der SPD-Frauen, Ulrike Häfner, hat in einem Brief an die Parteiführung darauf hingewiesen, dass eine Reform der Regelungen nach Paragraf 218 StGB "essenziell für einen künftigen Koalitionsvertrag von Union und SPD" sei. Abgesehen davon, dass die hier erneut bemühte Behauptung, das geltende Abtreibungsrecht führe zur Kriminalisierung von Frauen und Ärztinnen und Ärzten, sachlich haltlos ist, passt ein solches Vorgehen so gar nicht zu der im Vorfeld der Verhandlungen noch unisono beschworenen "staatsbürgerlichen Verantwortung", die doch nicht nur von den Parlamentariern der Grünen vor der Grundgesetzänderung eingefordert, sondern auch von den Delegationen der künftigen Regierungsparteien bei ihren Koalitionsverhandlungen selbst vorgelebt werden sollte.
Wenn es den Parteiführungen in ihren Koalitionsverhandlungen nicht gelingt, sich der konstruktiven Lösung realer Probleme zuzuwenden, dann werden auch die neuen Kreditermächtigungen die weitere Erosion der "demokratischen Mitte" nicht aufhalten können.
Zur Erinnerung: Die letzten substanziellen Arbeitsmarktreformen in Deutschland stammen aus der Agenda 2010 Gerhard Schröders. Seitdem ist der Sozialstaat immer stärker ausgeweitet worden, während die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhebliche Einbußen erlitten haben.
Wenn es den Parteiführungen in ihren Koalitionsverhandlungen nicht gelingt, eine derartige Klientelpolitik zu überwinden, wie sie in der Wortmeldung der SPD-Frauen aufflackert, und wenn sich die Unterhändler insbesondere der SPD im Bewusstsein ihres historisch schlechten Wahlergebnisses nicht von ihren ideologischen Lieblingsthemen ab- und der konstruktiven Lösung realer Probleme zuwenden, dann werden auch die neuen Kreditermächtigungen die weitere Erosion der "demokratischen Mitte" nicht aufhalten können.
Es ist an der Zeit, dass die künftige Kanzlerpartei konkrete Schritte ergreift, um dem nicht nur im Wahlkampf versprochenen, sondern auch tatsächlich dringend gebotenen Politikwechsel in Deutschland ein erkennbares Profil zu verleihen.