Benjamin Leven: Die Ampel-Koalition ist Geschichte. Am kommenden Wochenende tagt das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in Berlin. Ein Antrag steht unter dem Titel "'Hab Mut, steh auf.' Das ZdK zur Bundestagswahl". Wie muss sich das ZdK aus Ihrer Sicht in die Bundestagswahl einbringen?
Michael Wedell: Das ZdK überzeugt vor allem im Gespräch. Es schafft Orte des Dialogs und des Hinhörens und ist eine der wenigen Organisationen, die eine Vielzahl an politischen Meinungen vereint. Wir alle erleben jeden Tag, dass es Komplexitätsmüdigkeit in der Gesellschaft gibt und eine Sehnsucht nach einfachen und schnellen Lösungen. Dem setzt das ZdK einen Resonanzkörper für unsere Gesellschaft entgegen, der sogar vielfältiger ist als der Deutsche Bundestag. Schreiräume und Echokammern gibt es genug; wir geben Raum auch für kontroverse Ansichten in einem gegenseitig wertschätzenden Rahmen. Deshalb ist es so wichtig, dass das ZdK sich in politische Debatten einbringt. Für die nächste Wahlperiode würde ich mir wünschen, dass ihm wieder mehr Vertreterinnen und Vertreter aus der Wirtschaft und der Politik angehören. Als Beispiel nenne ich hier meine Vorgängerin als Sprecherin des Sachbereiches 3 "Wirtschaft, Soziales, Digitalisierung", Hildegard Müller, hauptberuflich Präsidentin des VDA, die sich leider entschieden hat, nicht mehr zu kandidieren. Wir brauchen solche Expertisen und wir brauchen mehr Expertise von Gläubigen, die ihr Gehalt außerhalb der kirchlichen Arbeitswelt verdienen. Hier sollte es wieder mehr Ausgewogenheit geben.
"Wenn wir bei permanent steigenden Sozialausgaben und Hilfsprogrammen feststellen, dass beispielsweise immer noch viele Kinder in Armut oder Armutsgefährdung aufwachsen, die Hilfe also nicht dort ankommt, wo sie ankommen soll – dann müssen wir doch mal anders denken und schauen, woran es wirklich fehlt."
Leven: Die CDU will das Bürgergeld in seiner jetzigen Form abschaffen. Es fehlen die Anreize für die Empfänger, wieder eine Arbeit aufzunehmen, sagen viele. Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr?
Wedell: Vielleicht sollten wir erst noch einmal darüber nachdenken, worum es im Kern eigentlich geht. Es geht darum, Menschen, die nicht für sich selbst sorgen können, ein Leben in Würde und außerhalb von Armut zu ermöglichen. Ziel des Staates und der Wirtschaft muss in diesem Sinne "die feste und beständige Entschlossenheit sein, sich für das ‚Gemeinwohl einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind" (Sollicitudo Rei Socialis, 38). Oder um es mit den Worten des Grundgesetzes zu sagen: "Eigentum verpflichtet". Angewandt auf heute: Fähigkeiten verpflichten aber auch. Politisch müssen wir uns fragen: Welche Politik erreicht dieses Ziel? Wenn wir bei permanent steigenden Sozialausgaben und Hilfsprogrammen feststellen, dass beispielsweise immer noch viele Kinder in Armut oder Armutsgefährdung aufwachsen, die Hilfe also nicht dort ankommt, wo sie ankommen soll – dann müssen wir doch mal anders denken und schauen, woran es wirklich fehlt. Ob die Sozialleistungen nach Hartz IV, Arbeitslosengeld II und Bürgergeld nun Grundsicherung heißen sollen, ist nachrangig gegenüber der Frage, wie die sozialstaatliche Fürsorge gewährleistet werden kann. Ich würde mir daher wünschen, dass wir auf diese sehr komplexe Frage auch eine komplexe Antwort finden.
"Es wäre gut, wenn sich das ZdK mit den Sorgen und Ängsten, die mit Migration verbunden sind, demnächst grundsätzlicher auseinandersetzt."
Leven: Das ZdK wird bei seiner Vollversammlung über einen Antrag zur Asyl- und Migrationspolitik abstimmen, der sich gegen Verschärfungen und restriktivere Regelungen wendet. Beim Thema Familiennachzug werden Lockerungen der bestehenden Regeln verlangt. Ist das nicht etwas weltfremd, nachdem auch die deutschen Ministerpräsidenten hier eine stärkere Beschränkung fordern?
Wedell: Zunächst zum Antrag. Ich habe die Antragsteller so verstanden, dass keine generelle Lockerung verlangt wird. Es geht um zwei begrenzte Bereiche: einmal um den Bereich der Familienzusammenführung. Die aktuelle Regelungslücke führt in der Praxis regelmäßig dazu, dass Eltern zwischen ihren Kindern entscheiden müssen und Kernfamilien auseinandergerissen werden. Durchschnittlich dauern dann Familiennachzugsverfahren nach Deutschland drei Jahre, oft noch einige Jahre mehr. Studien zeigen aber, dass die mehrjährige Trennung von Eltern und Geschwistern die Integration der in Deutschland lebenden minderjährigen Kinder oder Elternteile massiv hemmt. Zum anderen geht es um die Schlechterstellung von Menschen mit sogenanntem subsidiären Schutz (also vor allem Kriegsflüchtlinge), wie sie in der Migrationsdebatte gefordert wird. Schwierige Themen werden durch scheinbar einfache Fragen nicht weniger schwierig und vielschichtig. Bei deutlich niedrigeren Migrationszahlen würden wir zum Beispiel über eine Beschränkung des Familiennachzugs gar nicht diskutieren. Ich finde es wichtig, und das ist ein Wertbeitrag des ZdK, politische Forderungen aus einer bestimmten Option heraus zu formulieren. Deshalb wäre es gut, wenn sich das ZdK mit den Sorgen und Ängsten, die mit Migration verbunden sind, demnächst grundsätzlicher auseinandersetzt.
Paragraf 218: Mehrheiten "auf Teufel kommt raus"?
Leven: Die Ampel-Koalition hat den Paragrafen 219a mit seinem Werbeverbot für Abtreibungen abgeschafft. Angesichts der Pläne, auch den Abtreibungsparagrafen 218 zu streichen, hat das ZdK stets betont, das bestehende "Schutzkonzept" mit der Beratungspflicht müsse beibehalten werden. Nun wollen Abgeordnete im Bundestag noch vor der Neuwahl eine "Entkriminalisierung" in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen durchsetzen. Was halten Sie davon?
Wedell: Selbstverständlich muss die Beratung beibehalten werden. Die Verkürzung dieser Debatte kann zu leicht dazu führen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frauen und der Schutz des ungeborenen Lebens gegeneinander ausgespielt werden. In Deutschland wurde dieses Thema immer sorgfältig und ernsthaft diskutiert, was eine große Stärke unserer Demokratie war. Dies sollten wir beibehalten, anstatt ein anspruchsvolles Thema, das einer ernsthaften Auseinandersetzung bedarf, nun ausgerechnet jetzt noch aufzurufen, wo dieses rein zeitlich nicht wirklich möglich ist. Es drängt sich eher der Verdacht auf, dass die Antragsteller im Bundestag gar keinen Diskurs wollen. Letztlich scheint es nur darum zu gehen, "auf Teufel komm raus" Mehrheiten zu bilden – notfalls auch mit Unterstützung der politischen Ränder. Das darf und kann uns jedoch nicht egal sein.
Leven: Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer hat die Studie einer Sachverständigengruppe der Deutschen Bischofskonferenz mit Vorschlägen zur Agrarpolitik kritisiert. Er sagte: "Agrarwissenschaftliche Fragen sollen von Agrarwissenschaftlern diskutiert und behandelt werden. Im Idealfall sind darunter auch Gläubige, die ihren Schöpfungs- und Erlösungsglauben als besondere Motivation und Maßstab in die wissenschaftliche Diskussion einbringen." Sollte die Bischofskonferenz die Behandlung derartiger sozialer und politischer Fragen besser dem ZdK überlassen?
Wedell: Es ist doch wunderbar, wenn die Bischofskonferenz Sachverständigengruppen einsetzt, die im Beispielfall interdisziplinär und mit Agrarprofis oder der Landvolkbewegung besetzt worden sind. Das diskutierte Thema, ethische Perspektiven für die globale Landnutzung, ist extrem wichtig. Und Stellungnahmen von Sachverständigen helfen in der Regel, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. So auch in diesem Fall.