In Amsterdam hat es ein antijüdisches Pogrom gegeben. Am 9. November wurden wohlfeile Reden gehalten zum Gedenken an die Reichspogromnacht. Was tun, damit Trauer oder Wut angesichts antisemitischer Ausschreitungen auf europäischem Boden nicht ihrerseits in Hass umschlagen?

Bevor ich dies schreibe, war ich einkaufen. Der Einkaufswagen füllte sich mit Pampelmusen, zu vielen Pampelmusen. Gut, im November muss man sich was Gutes tun. Vitamin C und so. Aber hier ging es mir um was Anderes: Ich musste diese Pampelmusen kaufen, weil sie in Israel geerntet wurden. Ein verzweifelter Akt der Solidarität? Hilflose Übersprungshandlung? Nein, denn die Pampelmusen, die ich durch Berlin-Moabit trage, fühlen sich richtig an. Aber was tröstet oder stärkt wirklich und sozusagen nachhaltig – angesichts der Sorge, dass sich Geschichte wiederholt?

Es ist der 9. November, es wird der Reichspogromnacht 1938 gedacht. Am 7. November 2024 hat es ein Pogrom in den Niederlanden gegeben. Nach einem Fußballspiel zwischen Ajax Amsterdam und Maccabi Tel Aviv ist es zu extremer Gewalt gegen israelische Fans gekommen. Juden werden durch die Straßen gehetzt, weil sie Juden sind. Auf Videos, die im Netz kursieren, werden am Boden liegende Menschen getreten und bewusstlos geschlagen. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, sagt: "Das sind Bilder des Schreckens. Die Hatz auf Juden ist wieder ausgebrochen. Das waren keine Krawalle unter Fangruppen".

Wie lässt sich der Wut-Modus verhindern?

Am Freitagnachmittag und -abend sitze ich im ICE. Ich will mich informieren über den Stand der Ermittlungen in Amsterdam. Just in diesem Moment gibt es live auf WELT-TV ein Gespräch mit Ulf Poschardt, dem Chefredakteur der WELT-Gruppe. Er erzählt von seiner Zeit als Fußballspieler bei Maccabi München. Er hat als protestantischer junger Mann mit seinen jüdischen Freunden und Mitspielern gelitten, wenn sie angemacht wurden. Poschardt wirkt angesichts der Ereignisse in Amsterdam sehr angefasst und zugleich kämpferisch, maximal frustriert und zugleich nicht gewillt, den Kopf in den Sand zu stecken. Er bezeichnet das, was in Amsterdam passiert ist, als "offene Kriegserklärung an den freien Westen". Ich kann jeden Satz, den er sagt, unterschreiben, auch wenn man sich damit Feinde macht. Nicht bei jenen muslimischen Freundinnen und Freunden, die in puncto Judenhass viel klarer sind als all jene in Redaktionsstuben, die muslimischen Antisemitismus nicht wahrhaben wollen und so gern und schnell "Islamophobie" erkennen zu können glauben. Also, danke, Ulf Poschardt, für diese klaren Worte! Ohne Wenn und Aber.

Und doch frage ich mich: Wie kann ich für mich verhindern, dass ich nicht in einen Wut-Modus gerate? Was tun, damit der Hass des Mobs nicht zu noch mehr Hass führt? Mal wieder hat mir Etty Hillesum geholfen, ausgerechnet Etty Hillesum, jene jüdische Tagebuchschreiberin, die 1943 im deutschen Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde. Ausgerechnet Etty Hillesum, die in eben diesem Amsterdam vor mehr als 80 Jahren erlebt, wie die deutschen Besatzer allen Juden die Luft zum Atmen nehmen.

Seit April lese ich morgens in meiner "stillen Stunde", die ich mir, so oft es geht, gönne, bevor ich mich an die Arbeit mache und mich den oft schlechten Nachrichten aus aller Welt stelle, ihre Tagebücher. An diesem Samstag, 9. November, bin ich auf Seite 578 angekommen. Am 1. Juli 1942, an einem Mittwoch "nachmittags, Viertel nach 4" schreibt sie in Amsterdam:

"O ja, dieser Jasmin. Wie ist das möglich, mein Gott, er steht da eingezwängt zwischen der farblosen Mauer der Nachbarn und der Garage. Er schaut über das flache, dunkle, dreckige Garagendach. Zwischen diesem Grau und diesem dreckigen Dunkel ist er so strahlend, so rein, so überschwänglich und so zart, eine übermütige junge Braut, die sich in ein Elendsviertel verirrt hat. Ich verstehe diesen Jasmin nicht. Das muss man auch nicht verstehen. Man kann selbst im 20. Jahrhundert immer noch an Wunder glauben. Das ist ein Wunder. Und ich glaube an Gott, selbst wenn mich die Läuse in Polen bald aufgefressen haben. Dieser Jasmin, er macht mich sprachlos. Er steht schon lange dort, aber erst jetzt macht er mich sprachlos."

Etty gibt Kraft, der Barbarei zu widerstehen

Etty Hillesum war heute morgen mein Jasmin. Den gilt es immer wieder zu suchen und zu finden. Dass diese "Chronistin ihrer Zeit" mich gefunden hat – oder ich sie –, das habe ich Heiner Wilmer SCJ zu verdanken, dem Bischof von Hildesheim, der ein bewegendes Buch über diese Autorin geschrieben hat: "Herzschlag. Etty Hillesum – Eine Begegnung". Was ich an diesem Samstagmorgen, 9. November, mit Kaffee im Bett las, scheint mir hilfreich zu sein, um mit dem Entsetzen angesichts all der antisemitischen Hetze heute klarzukommen. Etty tröstet. Auch wenn die Barbaren sie ermordet haben, sie lebt weiter und gibt so Kraft, der Barbarei zu widerstehen. Etty gelingt es, das Leben schön zu finden, auch wenn die deutschen Besatzer 1942 verordnet haben, dass sie nicht mehr Fahrrad fahren darf, dass sie um 20 Uhr zu Hause sein muss oder ihre Eltern in Deventer nicht mehr besuchen darf. Sie ahnt in jenem Sommer, dass sie und alle Juden vernichtet werden sollen. Woher ihr diese Kraft zukommt, die den Leser einfach sprachlos macht, wird klar in Sätzen wie jenen, die sie mir heute morgen geschenkt hat. Am 29. Juni 1942, "Montagmorgen, 10 Uhr", schreibt sie:

"Gott ist uns keine Rechenschaft schuldig, aber wir ihm. Ich weiß, was uns noch bevorstehen kann. Ich bin jetzt von meinen Eltern getrennt und kann sie nicht erreichen. (…) Aber ich weiß immerhin noch genau, (…) dass sie keinen Hunger leiden. (…) Und sie wissen auch, wo ich bin. Aber ich weiß, dass eine Zeit kommen kann, in der ich nicht mehr weiß, wo sie sind, in der sie weiß Gott wohin deportiert sein werden und irgendwo elendiglich umkommen, so wie schon jetzt so viele elendiglich umkommen. Ich weiß, dass das kommen kann. Die neueste Nachricht ist, dass alle Juden aus Holland über Drenthe nach Polen wegtransportiert werden. Und der englische Sender hat berichtet, dass seit April letzten Jahres 700.000 Juden in Deutschland und den besetzten Gebieten umgekommen sind. (…) Und dennoch finde ich das Leben nicht sinnlos, Gott, ich kann es nicht ändern. Und Gott ist uns auch keine Rechenschaft schuldig für die vielen Sinnlosigkeiten, die wir selbst anrichten, wir sind Rechenschaft schuldig. Ich bin schon in tausend Konzentrationslagern tausend Tode gestorben, ich weiß das alles und neue Nachrichten beunruhigen mich nicht mehr. Irgendwie ist mir das schon alles bewusst. Und dennoch finde ich das Leben schön und sinnreich. In jeder einzelnen Minute. Und ich werde bis zur letzten Minute an diesem Schreibtisch sitzen und an jedes Gedicht glauben, das ich lese ————— Schüler ——— kommt jetzt ———."

Etty Hillesum gelingt es, nicht zu hassen, auch wenn sie allen Grund dazu hätte. Ihre Tagebücher trösten in diesen dunklen Tagen – und auch Heiner Wilmers Liebeserklärung an Etty tröstet.

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