Die Abtreibungsfrage ist die Mutter aller medizinethischen Konflikte. Schon ein flüchtiger Blick in den internationalen Streit um den angemessenen moralischen, rechtlichen und politischen Umgang mit dem in sich facettenreichen Phänomen ungewollter Schwangerschaften zeigt, dass die Konflikthaftigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen nicht nur ein Relikt der Vergangenheit ist, sondern zahlreiche aktuelle Debatten prägt. Daher ist es wenig überraschend, dass sich auch die inzwischen gescheiterte "Fortschrittskoalition" aus SPD, Grünen und FDP wiederholt dieses Themas angenommen hat. Bedauerlicherweise wiesen ihre einschlägigen Aktivitäten jedoch von Anfang an in die falsche Richtung. Statt die konkrete Lebenssituation ungewollt Schwangerer und ihrer Partner zu verbessern, betrieb sie eine einseitige Interessenpolitik.
Zur Erinnerung: Als der Deutsche Bundestag am 24.6.2022 ohne Not das Werbeverbot für Abtreibungen aufhob, bezeichnete die Bundesfamilienministerin Lisa Paus dies als einen "Triumph, mit dem wir das Selbstbestimmungsrecht der Frauen stärken." Dass diese Maßnahme nur einen ersten Schritt auf das eigentliche Ziel der völligen Neuordnung des deutschen Abtreibungsrechts darstellte, wurde dadurch deutlich, dass sie auf der Homepage ihres Ministeriums erklärte, ein "Schwangerschaftsabbruch sollte kein Straftatbestand (…), sondern eine Gesundheitsleistung" sein. Daher setzte sie sogleich zusammen mit den Ministern für Gesundheit und Justiz eine eigens gebildete "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" ein, die sich am 31.3.2023 konstituierte und bereits am 15.4.2024 ihren Abschlussbericht vorlegte.
Auf der Grundlage eines humanwissenschaftlich und philosophisch hochgradig umstrittenen Gradualismus votierte dieses völlig einseitig zusammengesetzte und politisch willfährige Gremium für eine Position, die das durch jahrelange Debatten sorgsam austarierte Spannungsverhältnis zwischen den beiden Schutzgütern der elterlichen Autonomie und des Lebensschutzes einseitig zugunsten der Förderung weiblicher Selbstbestimmung auflöste und sich für eine weitestgehende Entkriminalisierung der Abtreibung starkmachte, wobei "das Lebensrecht des Fetus ab extrauteriner Lebensfähigkeit mit starkem Schutz und ab Geburt mit vollem Schutz" (27) ausgestattet sein sollte.
Urteile des Bundesverfassungsgerichts werden ins Gegenteil verkehrt
Die Radikalität dieser Position wird sofort deutlich, wenn man sich die beiden einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung noch einmal vergegenwärtigt, deren Gehalt hier ins glatte Gegenteil verkehrt wird.
In seinem Urteil vom 25. Februar 1975 hatte das BVerfG das "sich im Mutterleib entwickelnde Leben" nicht nur als "selbstständiges Rechtsgut", das "unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG)" steht, anerkannt, sondern den Staat auch dazu aufgefordert, "sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen". Wegen der unterschiedlichen Ranghöhe der involvierten Rechtsgüter genieße der "Lebensschutz der Leibesfrucht (…) grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und (…) [dürfe] nicht für eine bestimmte Frist infrage gestellt werden".
Unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung hat das BVerfG dann am 28. Mai1993 zwar die Fristenlösung erneut für verfassungswidrig erklärt, aber den Betroffenen trotz der verfassungsmäßig gebotenen prinzipiellen Rechtswidrigkeit der Abtreibung einen weiten Zugang zu einem straffreien Schwangerschaftsabbruch unter der Voraussetzung ermöglicht, dass "die Schwangerschaft innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis durch einen Arzt abgebrochen wird" und ein bescheinigtes Gespräch mit einer anerkannten Beratungsstelle mindestens drei Tage vor dem Eingriff stattgefunden hat.
Besorgniserregend an diesem Vorstoß sind nicht nur die äußeren politischen Umstände, unter denen diese an den Grundfesten unserer Verfassung rüttelnde Regelung in größter Hektik durch das Parlament gepeitscht werden soll, sondern mehr noch der offenkundig ideologische Charakter des dabei zu Tage tretenden Verständnis von Selbstbestimmung.
Dieser aus ethischer Sicht keineswegs unproblematische, weil den Lebensschutz stark einschränkende politische Kompromiss, der immerhin zu einer gesellschaftlichen Befriedung beigetragen hat, soll nun endgültig aufgekündigt werden. Einer Gruppe von derzeit 236 Bundestagsabgeordneten vor allem von SPD und Grünen möchte unmittelbar vor den Neuwahlen im Deutschen Bundestag einen Antrag einbringen, der zwar in einzelnen Punkten hinter den hochproblematischen Vorschlägen der Paus-Kommission zurückbleibt, deren zentrale Forderung nach einer Streichung der Rechtswidrigkeit des Abbruchs bis zur 12. Schwangerschaftswoche aber aufgreift und die Abtreibung als reguläre Leistung der Krankenkasse den solidargemeinschaftlich zu tragenden Gesundheitskosten zuschlägt. Zwar soll an der Beratungspflicht festgehalten werden, doch wird die bislang bestehende dreitägige Wartefrist zwischen Beratung und Abbruch für verzichtbar gehalten.
Besorgniserregend an diesem Vorstoß sind nicht nur die äußeren politischen Umstände, unter denen diese an den Grundfesten unserer Verfassung rüttelnde Regelung in größter Hektik durch das Parlament gepeitscht werden soll, sondern mehr noch der offenkundig ideologische Charakter des dabei zu Tage tretenden Verständnis von Selbstbestimmung.
Da niemand auf der Grundlage seines Selbstbestimmungsrechtes befugt ist, über das Leben eines anderen zu verfügen, bietet eine unvoreingenommene gerechtigkeitsethische Analyse gerade keine tragfähige Grundlage für die aktuellen Versuche, das ohnehin schon prekäre Schutzniveau für die Ungeborenen im Namen der weiblichen Selbstbestimmung und ihrer Verfügungsmacht über den eigenen Körper noch weiter abzusenken.
Die Stilisierung komplexer Konfliktlagen ungewollter Schwangerschaften zur ausschließlich privaten Entscheidung der Schwangeren widerspricht zudem einem zeitgemäßen Verständnis relationaler Autonomie, die eine Einbeziehung vieler verschiedener Aspekte und Beziehungsfaktoren erfordert. Statt Abtreibungen zur Privatsache betroffener Frauen zu verharmlosen, bedarf es einer konzeptionellen Weitung der Perspektive, um die unterschiedlichen Verantwortungsebenen solcher Konfliktlagen überhaupt in den Blick zu bekommen und konstruktive Ansätze zur Konfliktlösung zu entwickeln.
Es braucht gezielte sozialpolitische Maßnahmen
Zur Verringerung der erschreckend großen Zahl von Abtreibungen in unserem Land bedarf es vor allem einer besseren Verschränkung individual- und sozialethischer Reflexionen sowie gezielter sozialpolitischer Maßnahmen, um werdenden Eltern in Konfliktsituationen die Annahme ihres Kindes zu erleichtern oder dort, wo dies nicht gelingt, zumindest die Möglichkeiten zur Adoption der betroffenen Kinder zu verbessern. So richtig es ist, von ethischer Seite die individuelle Verantwortung für das eigene sexuelle Handeln zu betonen und den elementaren Zusammenhang von Zeugung und Annahme des Kindes zu verteidigen, so notwendig ist es doch auch, gerade in unserer strukturell kinder- und familienfeindlichen Gesellschaft durch geeignete soziale Unterstützungsmaßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass sich eine ungewollte Schwangerschaft nicht zu einer biografischen Katastrophe auswächst, die die werdenden Eltern bzw. die schwangere Frau psychisch, sozial und finanziell heillos überfordert.
Die gegenwärtige Initiative zur Legalisierung der Abtreibung löst keines der bestehenden Probleme, sondern stellt einen Kulturbruch dar, der die ohnehin schon bedrohlichen gesellschaftlichen Polarisierungen noch einmal erheblich verschärfen könnte.
Da effizienter Lebensschutz letztlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, sollten die verschiedenen Verantwortlichkeiten der Kindseltern, verschiedener kommunaler Einrichtungen sowie des Gesetzgebers nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern in eine komplexe Gesamtbetrachtung integriert werden.
Die gegenwärtige Initiative zur Legalisierung der Abtreibung löst keines der bestehenden Probleme, sondern stellt einen Kulturbruch dar, der die ohnehin schon bedrohlichen gesellschaftlichen Polarisierungen noch einmal erheblich verschärfen könnte. Dies gilt umso mehr, als die vorgeschlagenen Regelungen nicht nur das Resultat einer verfassungsrechtlichen Amnesie sind, sondern letztlich auch eine politische Kapitulation vor den vielfältigen Herausforderungen auf dem Gebiet der Sexualpädagogik, der Familien- und Sozialpolitik darstellen, die dringend angegangen werden müssten. Aufgrund der besonderen Sensibilität der Thematik und der ideologischen Stoßrichtung dieses unausgegorenen Gesetzesvorhabens ist zu hoffen, dass eine Mehrheit der Parlamentarier diesem unwürdigen Schauspiel ein rasches Ende bereitet.