Mit Datum vom 2. Mai 2024 ging im Kanzleramt in Berlin ein offener Brief von 37 Organisationen ein, der von Amnesty International Deutschland initiiert wurde, die aus ihrem entwicklungs-, friedens- und menschenrechtspolitischen Engagement heraus eine Dringlichkeitsforderung an die Bundesregierung adressieren: "Rüstungsexporte nach Israel stoppen und völkerrechtliche Verpflichtungen umsetzen!" So plakativ der Appell formuliert ist, so weit reichen die Folgen seiner Umsetzung für Israel. Bereits mit der Überschrift wird deutlich, worauf sich der Brief fokussiert: Die Aufmerksamkeitsagenda richtet sich ausschließlich auf Israel. Die Erstforderung lautet nicht: Befreiung der israelischen Geiseln und Entwaffnung der Hamas, sondern sie drängt auf einen rüstungspolitischen Stopp, der offenlässt, welche Konsequenzen dies für die Selbstverteidigung Israels hat.
Zu den Unterzeichnern gehört neben "Islamic Relief Deutschland", einem Verein, der im Verdacht steht, die Hamas zu unterstützen, auch die deutsche Sektion der Friedensbewegung "Pax Christi". Nicht zum ersten Mal bewegt sich die katholische Organisation, die Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ist und deren Präsident, der Mainzer Bischof Peter Kolhlgraf, von der Deutschen Bischofskonferenz ernannt wird, im israelpolitischen Zwielicht. Zwei Seiten sind dabei zu unterscheiden: die Form der Solidarisierung mit Palästinensern und die einseitige Kritik an Israel. Was sich aus einer Serie von nachbessernden Klärungen ergibt, ist der Eindruck, dass sich die Beteuerung, man lehne jede Form von Israelfeindlichkeit und Antisemitismus ab, in der politischen Forderungspraxis mit ambivalenten Solidaritätsadressen verbindet. Im Zweifelsfall steht Pax Christi jedenfalls nicht klar und eindeutig zu dem, was sich für die katholische Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil als kirchlich-theologische Haltungsgrundlage aufpflichtet: belastbar an der Seite von Jüdinnen und Juden zu stehen, gerade, wenn es um das Existenzrecht des Staates Israel geht. Pax Christi hat dies zwar beteuert, doch rhetorische Selbstdarstellung und kommunikative Praxis kreuzen sich oft genug, etwa im Zuge der Unterstützung der "Free-Gaza-Bewegung".
So auch dieses Mal. Der offene Brief der 37 entwickelt seine Forderungen nach einem Lieferungsstopp von Militärmaterial an Israel mit dem Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht Israels und der Forderung nach einer Freilassung der Geiseln. Sie werden vom Völkermord-Verdacht gegenüber Israel gerahmt, der die polit-hermeneutische Voraussetzung der humanitären Dringlichkeitsforderung des Schreibens stellt. Dieser Vorwurf wird international erhoben und diskutiert. Der Internationale Gerichtshof forderte im April, die Menschen in Gaza "vor der Gefahr eines Völkermords zu schützen", wie der offene Brief zitiert, verbunden mit dem Hinweis, "dass jegliche Lieferungen von Waffen oder Munition an Israel, die im Gazastreifen eingesetzt werden könnten, gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen könnten". Aus dem Konjunktiv wird im offenen Brief ein unterstellter Indikativ: Der Vorwurf des Völkermords steht damit rhetorisch wie eine Tatsache im Raum. Entsprechend wird folgerungstaktisch von ihm Gebrauch gemacht.
Es ist der Terror der Hamas, der den Gaza-Krieg ausgelöst und das Leiden der eigenen Bevölkerung nicht nur in Kauf genommen hat, sondern für die eigenen Interessen einkalkuliert.
Die Not der Bevölkerung in Gaza ist unermesslich. Die Situation verschärft sich dramatisch und es muss alles unternommen werden, um humanitäre Lösungen zu finden. Israel trägt als intervenierende Militärmacht dafür eine besondere Verantwortung, und es gibt heftige Diskussionen darüber in Israel selbst, verbunden mit massiver Kritik von Jüdinnen und Juden. Sie ist wiederum mit der Herausforderung zu vermitteln, dass Israel nicht nur auf den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 reagieren, sondern sowohl die verbliebenen Geiseln befreien als auch jede nächste zu erwartende Attacke der Hamas unterbinden muss. Deswegen ist immer wieder daran zu erinnern, dass die Hamas nicht nur Akteur des 7. Oktobers war, sondern das Drehbuch der folgenden Eskalationen geschrieben hat und die hintergründige Regie bis heute in der Hand hält. Es ist der Terror der Hamas, der den Gaza-Krieg ausgelöst und das Leiden der eigenen Bevölkerung nicht nur in Kauf genommen hat, sondern für die eigenen Interessen einkalkuliert: Der Hass gegen Israel und die Rekrutierung der nächsten Generation von Hamas-Kämpfern soll so gesichert werden.
In dieser Zwangslage operiert Israel. Vor dem Hintergrund dieser Aussicht ist zu beurteilen, was der offene Brief voraussetzt und welche Folgen für Israel er verschleiert, ausblendet oder auch einfach hinnimmt. Israel kämpft gegen ein Terrorregime, das die Vernichtung des Staates Israel zum Ziel hat und die Exterminierung jüdischen Lebens betreibt. Die politische und militärische Isolierung Israels, die der offene Brief mit seiner Fokussierung betreibt, arbeitet dem zu. Sie macht sich an der Frage fest, was der geforderte Waffenstillstand für die Konsolidierung der Hamas und was ein Stopp von Waffenlieferungen für die Verteidigungsfähigkeit Israels in einem Umfeld bedeutet, in dem jüdisches Leben permanent bedroht ist.
Kritische Rückfragen an die israelische Regierung sind legitim
Noch einmal: Das enthebt nicht von kritischen Fragen an die israelische Regierung: Wie Israel militärisch vorgeht. Welche Konsequenzen die israelische Siedlungspolitik hat. Wie es um die Integrität der Regierungskoalition von Benjamin Netanjahu steht. Welche Positionen von Regierungsmitgliedern vertreten werden. Aber das Existenzrecht Israels lässt sich nicht nur rhetorisch behaupten, sondern verlangt konkrete Unterstützung. Auf dieser Linie agiert die deutsche Bundesregierung von Beginn an, ohne auf kritische Rückfragen zu verzichten.
An diesem Punkt holt Pax Christi die eigene Ambivalenzgeschichte in der Haltung zu Israel ein. Ein Gespräch mit Vertretern des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat in der Vergangenheit nicht für Klärung sorgen können. Mit dem Pax Christi-Präsidenten Bischof Kohlgraf und Papst Franziskus ist zu unterstreichen, dass man sich als Christin, als Christ nicht an Kriege gewöhnen darf. Dass man in akuter Handlungsnot Schuld auf sich lädt.
Aber gerade in diesem prekären religionspolitischen Szenario muss sich Pax Christi fragen lassen, mit wem sich die katholische Friedensbewegung solidarisiert. Das schließt die Frage ein, mit wem man einen offenen Brief von dieser Reichweite unterzeichnet. Da reicht es nicht hinzuweisen, man habe keinen Einfluss darauf, wer sich sonst noch im Unterstützercorso bewege. Das lässt sich vorab prüfen und festlegen. Hier zeigt sich eine fehlende Sensibilität, die auch den Ton des Schreibens bestimmt. Auch wenn sich eine jüdische Organisation unter den Unterzeichnern findet und der Verweis auf kritische Positionen in Israel Gewicht hat: Welches Signal sendet der offene Brief? Er läuft auf eine politische Isolierung Israels hinaus.
Der Journalist Lucas Wiegelmann hat in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" die Frage aufgeworfen, wie Pax Christi zum Apartheid-Vorwurf an Israel steht. Der Bundesvorsitzende Gerold König ließ dazu verlauten, für seine Organisation sei "die Faktenlage und die Gewichtung angesichts einer solchen Einstufung noch nicht klar ausdiskutiert".
Wie positionieren sich die deutschen Bischöfe und das Zentralkomitee der Katholiken?
In diesem Licht ist die Unterzeichnung des offenen Briefes durch Pax Christi zu lesen. Der Brief ist in Stil und Ton von einer Rhetorik der Anklage gegen Israel geprägt. Das erhöht den Handlungsdruck auf die katholische Kirche in Deutschland: Wie bringt sie die besondere Solidaritätspflicht des Christentums gegenüber dem Judentum und Israel zum Ausdruck? Und wie stehen die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken zu der Position, die Pax Christi einnimmt? Die Kritik des Grünen-Politikers Volker Beck hallt nach: "Wenn es um die Delegitimierung Israels geht, steht Pax Christi immer in der ersten Reihe". Zwar hat Pax Christi den Vorwurf der Israelfeindlichkeit umgehend zurückgewiesen, ohne allerdings die sachlichen Bedenken auszuräumen. Und so steht Becks Frage im Raum, was der Vorgang für das jüdisch-christliche Verhältnis bedeutet. Seine polemisch zugespitzte Kritik zielt aufs Grundsätzliche. Es geht um den konstitutiven Israelbezug von Christentum und Kirche. Das Verhältnis zum Judentum stellt die katholische Vertrauensfrage. Hier entscheidet sich die Belastbarkeit christlicher Dialogversprechen.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat nach dem 7. Oktober mit dem Erfurter Bischof Neymeyr als Vorsitzenden der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum klare Worte gefunden. Zugleich hat sich der Vatikan ambivalent geäußert. Seitdem hat sich die humanitäre Lage in Gaza noch einmal dramatisiert. Auch vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt angesichts der Intervention von Pax Christi muss Becks Frage beantwortet werden. Der Katholikentag in Erfurt bietet dazu eine öffentlichkeitswirksame Gelegenheit.