Antisemitismus verlernenSo lässt sich der Judenhass zurückdrängen

Bei der Eröffnung der Berlinale wurden AfD-Politiker zunächst ein-, dann wieder ausgeladen – in der Begründung verwiesen die Organisatoren auch auf das Thema Antisemitismus. Gefahr gebannt? Nein. Bei der Berlinale-Preisverleihung kam es zu antisemitischen Entgleisungen von Links. Wie bekommen wir als Gesellschaft das Problem in den Griff?

Preisträger der Berlinale 2024
© Richard Hübner/Berlinale 2024

Antisemitische Entgleisungen scheinen gegenwärtig zum Standardprogramm größerer Kulturveranstaltungen zu gehören. Antisemitismus wird hierzulande aber auch physisch gewalttätig – und dies nicht erst seit dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober 2023. Überdeutlich zeigt sich, dass "Antisemitismus genau das ist, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden" – wie es die Philosophin Hannah Arendt pointiert auf den Begriff gebracht hat.

Doch wie ließe sich der Hass auf Jüdinnen und Juden gesellschaftlich wieder verlernen? Soziales Lernen ist immer schwierig. Es genügt nämlich nicht nur, theoretisches Wissen zu verbreiten, vielmehr müssen fest verankerte, soziale Praktiken erneuert werden. Das Verlernen von Antisemitismus konfrontiert dabei mit besonderen Herausforderungen.

Der Hass auf Jüdinnen und Juden tritt in unterschiedlichen Gestalten auf. In seinem jüngsten Buch unterstreicht der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn, dass Antisemitismus in Deutschland nach dem Schock des Holocausts viel zu lange nur im rechten Milieu verortet wurde. Parallele Tendenzen im linken und im islamistischen Milieu seien übersehen, verschwiegen oder verniedlicht worden. Dies hole uns nun ein. Zu einer "tödlichen Gefahr für Juden" wird Antisemitismus in all seinen Gestalten, weil er kognitive und emotionale Defekte verbindet und sich dabei aus religiösen, kulturellen und sozialen Quellen speist.

Verschwörungstheorien entgegentreten

Damit das soziale Verlernen von Antisemitismus gelingt, ist eine breit angelegte Gesamtstrategie vonnöten, in der theoretische, sicherheitspolitische, demokratische und emotionale Lernprozesse ineinandergreifen.

Auf kognitiver Ebene ist den Verschwörungstheorien entgegenzutreten, mit denen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden gerechtfertigt werden soll: über die Macht der "jüdischen Wallstreet", des "amerikanisch-jüdischen Militärapparats", "jüdischer Medienmoguln" und den Diaspora-Juden als "verlängertem Arm Israels". Dabei wirken Verlautbarungen aus der Politik, dass Antisemitismus in Deutschland keinen Raum habe, genauso hilflos wie der lang schwelende Streit über eine allgemein verbindliche Antisemitismusdefinition. Wichtiger ist, im Streit über konkrete Ereignisse auf historischen Tatsachen und notwendigen Differenzierungen zu bestehen.

Aktuell heißt das insbesondere: historisches Wissen gegen israelbezogenen Antisemitismus im Nahostkonflikt in Stellung zu bringen. Dies hat nichts damit zu tun, Kritik an Israel mundtot zu machen oder das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung zu leugnen. Gemeint ist vielmehr: mit Verweis auf historische Tatsachen Veto einzulegen gegen eine Stilisierung von Israel zum alleinigen Aggressor in Nahost – um auf dieser Grundlage das Existenzrecht Israels infrage zu stellen und einen palästinensischen Staat "from the river to the sea" zu fordern. Gegen die holzschnittartige These von einer "Züchtung" palästinensischer Gewalt durch die problematische Siedlungs- und Besatzungspolitik Israels wäre etwa auf den Angriffskrieg zu verweisen, mit dem die arabischen Nachbarstaaten 1948 auf die Staatsgründung Israels reagiert haben.

Antisemitismus als Leidenschaft

So wichtig das Bestehen auf historischen Tatsachen und notwendigen Differenzierungen ist, kann sich Antisemitismusprävention darauf nicht beschränken. Dies liegt daran, dass Antisemitismus nicht in seiner ideologischen Weltsicht aufgeht.  Der Literaturwissenschaftler und Publizist Jan Philipp Reemtsma hat ihn kürzlich als Leidenschaft bezeichnet. In der Gegenwart führt nicht zuletzt der israelbezogene Antisemitismus deutlich vor Augen: leidenschaftlicher Judenhass baut emotionale Lernblockaden auf, die blind und taub für historische Tatsachen machen. Damit laufen Anstrengungen von vornherein ins Leere, Antisemitismus rational zu widerlegen.

Wenn ein gesellschaftliches Verlernen von Antisemitismus Erfolg haben soll, sind auch seine emotionalen Defekte zu überwinden. Im Gefühlshaushalt übt Antisemitismus eine quasi-religiöse Funktion aus. Von psychoanalytischer Seite wird Judenhass als Abscheu vor dem "Fremden in uns selber" gedeutet, das auf "den Juden" projiziert werde – so Arno Gruen. Durch diese Entäußerung eröffnen Hass und Verachtung gegenüber Juden moralische Entlastung. Indem "die Juden" schuld sind, muss man sich die wertfremden Aspekte des menschlichen Lebens nicht länger selbst zuschreiben: all die Strategien, um im ökonomischen Wettbewerb und in internationalen politischen Konflikten zu überleben. In jüngster Zeit haben die Terroristen der Hamas und ihre Sympathisanten diese Verquickung aus Judenhass und Eigenliebe auf besonders drastische Weise ausgelebt: indem sie sich für die Akte der Vergewaltigung, Verstümmelung und Ermordung von Israelis im vergangenen Oktober auch auf deutschen Straßen begeistert gefeiert haben.

Um Antisemitismus auf emotionaler Ebene zu überwinden, sind die Quellen dieser Pathologien anzugehen. Der Philosoph Max Scheler findet die Wurzeln modernen Ressentiments bereits in den 1920er-Jahren in Verlusten aus der Säkularisierung. Mit den religiösen Ritualen werden nämlich nicht nur Narrative menschlicher Endlichkeit, sondern vor allem auch Möglichkeiten preisgegeben, sich in all der eigenen Endlichkeit und Unzulänglichkeit gerechtfertigt zu erfahren. Wem die existenzielle Gewissheit des eigenen Selbstwerts fehlt, neige zum moralischen Rigorismus: ganz auf der Seite der Moral, des Lichts stehen und alle dunklen wertfernen Aspekte der eigenen Existenz abdrängen zu müssen. Und das geht für Mitglieder der christlich und muslimisch geprägten Mehrheitsgesellschaften auch in der säkularisierten Moderne immer noch besonders gut im Rückgriff auf antijudaistische Stereotype über die "verschlagenen Juden".

Israel als Stellvertreter

Besonders in den gesellschaftlichen Krisen der Moderne kann der Zwang zur moralistischen Rechtfertigung drängend werden. Soziologisch gut belegt ist denn auch das Zusammenfallen von gesellschaftlichen Krisen und einem Erstarken von Antisemitismus. Dabei geraten freilich zunächst soziale Krisenverlierer unter Druck. Aktuell lässt sich so die Empfänglichkeit in bildungsfernen weißen und migrantischen Milieus für rechtsextremen und islamistischen Antisemitismus erklären.

Die eigenen Verantwortlichkeiten lassen sich externalisieren, indem man Israel zum Inbegriff kolonialer Gewalt in der Gegenwart erklärt.

 In der Gegenwart werden allerdings auch gebildete Kreise von moralischen Rechtfertigungsnöten eingeholt. Dies hat mit den Einsichten der antikolonialen Bewegung zu tun: dass die europäische Aufklärung mit ihrem Ideal der Menschenwürde, den Menschenrechten, dem liberalen Rechtsstaat und ihrem Fortschrittsdenken tief in koloniale Entrechtung, Ausbeutung und Gewalt verstrickt ist. In Zeiten wachsender Gewalt in Nahost entdecken nun auch breitere Kreise des linksliberalen Kulturbetriebs in den USA und in Europa den Antisemitismus für sich: Die eigenen Verantwortlichkeiten lassen sich externalisieren, indem man Israel zum Inbegriff kolonialer Gewalt in der Gegenwart erklärt.

Das demokratische Ethos stärken

Direkte moralische Umerziehung kann als Mittel gegen die antisemitischen Gefühlsdefekte nicht funktionieren. In diesem Sinne betont auch Michael Wolffsohn, dass Betroffenheitsrituale und Versuche der Volkserziehung durch die Politik gescheitert seien. Wolffsohn selbst setzt in erster Linie auf Sicherheitspolitik: auf das Schließen gesetzlicher Lücken und die konsequente Anwendung gesetzlicher Regeln gegenüber allen Bürgern. Ausreichende Sicherheitsmaßnahmen sind unabdingbar, um hier und jetzt Gewalt gegen Jüdinnen und Juden zu verhindern. Zur Ursachenbekämpfung eignet sie sich jedoch nicht.

Auf emotionaler Ebene lässt sich Antisemitismus nur indirekt und mittelbar überwinden. Es hängt an gesellschaftlich gelebtem Pluralismus. In der Öffentlichkeit ist ein demokratisch-pluralistisches Ethos wiederzubeleben: eine Haltung, die fremde Lebensformen erträgt, sich auf pluralistische Debatten einlässt und lernbereit verhält. Dafür sind die demokratischen Verfahren so zu reformieren, dass alle Teile der Bevölkerung einbezogen werden. Vielversprechend sind etwa zeitgenössische Initiativen, die das Repräsentativsystem durch Bürgerräte zu ergänzen.

Zugleich sind aber auch Prozesse der ethisch-existenziellen Erneuerung vonnöten. Hier sind die Religionsgemeinschaften und insbesondere die Kirchen gefragt, die immer noch die meisten Gläubigen vertreten. Sie sollten endlich aufhören, um sich selbst zu kreisen, und sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben annehmen: Narrative und Rituale zu vermitteln, in denen die eigene Endlichkeit reflektiert, Haltungen der "Resonanz" (Hartmut Rosa), des Sich-Öffnens und Vertrauens eingeübt und Erfahrungen eigenen Angenommen-Seins gemacht werden können.

Antisemitismus können wir gesellschaftlich nur hinter uns lassen, wenn alle vier Lernprozesse ineinandergreifen: die Etablierung ausreichender Sicherheitsmaßnahmen, die Vermittlung von historischem Tatsachenwissen, eine Redemokratisierung der politischen Verfahren und Prozesse der ethisch-existenziellen Erneuerung. Gehen wir es an!

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