Gott und die Politik – ein delikates Thema! In Amerika ist es wieder hochvirulent. Beide Bewerber um das Präsidentenamt – Donald Trump und Amtsinhaber Joe Biden – nehmen den Allerhöchsten für sich in Anspruch – und widersprechen so ganz unverblümt einer Theologie der Nicht-Intervention Gottes, die behauptet, der Schöpfer mische sich nicht ein in die Belange der Schöpfung. Die Kugel hätte Trump tödlich getroffen, wenn er den Kopf nicht spontan ein wenig gedreht hätte. Darin, dass der Mordversuch gescheitert ist, sieht er einen Akt der Vorsehung. "Gott allein hat das Undenkbare verhindert", erklärte er.
Aber auch Joe Biden nimmt Gott in Anspruch. Nach den Aussetzern im Fernseh-Duell mit Trump steht er unter wachsendem Druck, seine Kandidatur zurückzuziehen. Aber, so ließ er vermelden, nur wenn der allmächtige Herr ihm persönlich dazu auffordere, würde er aus dem Rennen ausscheiden – als hätte er einen direkten Draht zum Himmel.
Beide Präsidentschaftskandidaten – der eine Protestant, der andere Katholik – haben keine Hemmung, die göttliche Providenz zu bemühen. Die Wolke des Deismus ficht sie nicht an. Auch provozieren sie eine Theologie, die sagt: Gott handelt, indem er nicht handelt. Umgekehrt ziehen sie sich den Vorwurf zu, Gott für ihr politisches Projekt einzuspannen. Denn woher sollten die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten kommen, ihre Gottes-Behauptungen empirisch abzugleichen?
Doch schauen wir die Situation näher an. Joe Biden hat Gedächtnislücken und Sprachstörungen, die mit seinem vorgerückten Alter zusammenhängen. Er könnte, wenn er wollte, zurücktreten. Aber offensichtlich kann er sich nicht entscheiden oder will es nicht – und verweist nun auf Gott, der es ihm ausdrücklich sagen müsste! Ein willkommenes Alibi. Statt persönliche Verantwortung zu übernehmen und einem jüngeren Kandidaten das Feld zu überlassen, macht er eine höhere Instanz geltend, die schweigt. Dieses Schweigen aber deutet er so, wie er es will. Weil Gott es ihm nicht ausdrücklich sage, dass er zurücktreten soll, bleibt Biden. Noch.
"Beinahe" – das ist die Einbruchstelle für das, was "Vorsehung" genannt werden kann, aber nicht muss.
Bei Donald Trump sieht die Sache anders aus. Er ist bei seiner Wahlkampfrede in Pennsylvania beinahe getötet worden. "Beinahe" – das ist die Einbruchstelle für das, was "Vorsehung" genannt werden kann, aber nicht muss. Das Projektil hat nur sein Ohr, nicht aber seinen Kopf perforiert – ein staunenswerter Vorfall. Säkulare Beobachter werden darin eine lebensrettende Kontingenz erblicken. Trump selbst hat nur wenige Sekunden gebraucht, um aus der Situation Kapital zu schlagen. Die Kräfte des Secret Service hat er abgeschüttelt, sich aufgerichtet und mit hochgestemmter Faust "Fight, Fight, Fight" gerufen. Eine Ikone der Stärke, die jeder Bedrohung trotzt. Dass ein anderer an Trumps Stelle tödlich getroffen wurde, wurde mitfühlend bedauert – ein Kollateralschaden der Vorsehung?
Gott kann handeln, wenn er es will
Gottes Wirken aber wird von beiden Politikern ganz unterschiedlich bemüht: Bei Amtsinhaber Biden um sich vor kritischen Rückfragen zu immunisieren, bei Herausforderer Trump um sich zum unverletzlichen Helden von Gottes Gnaden zu stilisieren. Beiden sei unbenommen, ihr persönliches Geschick geistlich zu deuten. Der eine ist bewahrt worden, der andere sieht sich geführt. Problematisch aber ist es, wenn sie aus ihrer geistlichen Selbstdeutung politische Folgerungen ableiten, die nicht nur sie persönlich, sondern alle betreffen. Der eine leitet aus der Errettung seine politische Sendung ab, als hätte er göttliche Weihen; der andere tut so, als hätte er eine heilsgeschichtliche Mission für Amerika. Beides ist übergriffig.
Niemand kann Gott in die Karten schauen. Auch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika nicht.
Aber auch eine Theologie, die bestreitet, dass Gott in der Geschichte handeln kann, ist übergriffig, weil sie Gott abspricht, was er doch kann, nämlich handeln, wenn er es will. Nur kann niemand verbindlich sagen, wann, wie und wo er es tut. Die Pointe kann daher nur sein, dass es unter den Bedingungen von Zeit und Geschichte keine identifizierbaren Akte der göttlichen Vorsehung geben kann. Denn niemand kann Gott in die Karten schauen. Auch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika nicht.
Lassen sich aus dem gescheiterten Attentat von Pennsylvania Lehren für die politische Kultur ziehen? Sicher wäre zunächst ein Innehalten und eine Gewissenserforschung fällig, wie Akte politischer Gewalt – und alles, was dazu beiträgt – künftig vermieden werden können. Bei allem Dissens in der Sache wäre der Respekt vor dem politischen Gegner einzufordern. Eine Rhetorik der Geringschätzung und des Hasses, die die Polarisierung der Gesellschaft befeuert, ist zu meiden, die Kunst des Kompromisses zu fördern, auf dass der gemäßigte Ton, wie er nach dem Attentat vielfach angeschlagen wurde, sich nicht gleich wieder ins Aggressive kehrt. Der Mut, nach dem berechtigten Punkt in der Meinung des politischen Gegners zu fragen, kann dazu beitragen, eine tief gespaltene Gesellschaft wie die amerikanische wieder zusammenzuführen. Hätte das gescheiterte Attentat einen läuternden Effekt, der in der politischen Kultur verbale Verrohung aussetzt und dafür Besonnenheit, Sachlichkeit und Versöhnungsbereitschaft vorantreibt, wäre das für das Land in der Krise gut. Was säkulare Chronisten retrospektiv eine glückliche Wendung nennen würden, wäre aus der Optik gläubiger Geschichtsbetrachtung dann vielleicht sogar als providenzielle Fügung beschreibbar. Mit einem portugiesischen Sprichwort: Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade.