Am 4.2.2019 unterschrieben Papst Franziskus und Großimam Ahmad Al-Tayyeb in Abu Dhabi die "Erklärung zur Brüderlichkeit aller Menschen". Trotz ihres bahnbrechenden Charakters ist die Erklärung noch viel zu wenig in der Dialogarbeit von Christen und Muslimen rezipiert worden. Ich will deswegen das in diesen Tagen anstehende fünfjährige Jubiläum der Erklärung nutzen, um vier Impulse sichtbar zu machen, die von der Erklärung ausgehen und die eine verstärkte Rezeption verdienen.
Kultur des gegenseitigen Respekts: Wahrnehmung des Leids der anderen
Wir alle erleben angesichts des gegenwärtigen Gaza-Konflikts und des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien, wie sich auch in Europa die Debatten immer stärker polarisieren. Wir sehen inzwischen auch in Deutschland, dass sich Juden und Muslime nicht mehr auf die Straße trauen und sich nicht mehr sicher fühlen. Immer mehr Menschen sehen nur ihre eigenen Leiden und Probleme und sind völlig unfähig, empathisch auf andere zuzugehen. Papst Franziskus hat schon lange diese Polarisierung und die dabei schwindende Mitmenschlichkeit als Grundübel unserer Zeit erkannt. Er geißelt immer wieder, dass wir nur noch in unseren Blasen leben und dadurch gar nicht mehr diejenigen sehen, die unter die Räuber gefallen sind und unsere Hilfe brauchen. Seine Antwort auf diese Krise besteht im Konzept der Geschwisterlichkeit und ebendieses Konzept ist auch Grundlage der Erklärung von Abu Dhabi.
Gleich am Anfang des Textes erinnern uns Franziskus und Al-Tayyeb daran, dass der Glaube "den Gläubigen im anderen einen Bruder sehen" lässt, "den man unterstützt und liebt." Und sie laden deshalb am Ende des Textes ein "zur Versöhnung und zur Brüderlichkeit unter allen Glaubenden … sowie unter allen Menschen guten Willens", ja sie sprechen emphatisch von einer "Umarmung zwischen Ost und West, Nord und Süd", um zu leben "als Brüder und Schwestern, die sich lieben." Ich wüsste keine machtvollere, wichtigere Botschaft für unsere zerrissene Welt. Um liebevoll und geschwisterlich auf Muslime und Juden zuzugehen und um ihre und unsere Angst zu überwinden, braucht es auch vor Ort in unseren Gemeinden viel mehr Zeichen der Geschwisterlichkeit und die Bereitschaft, die Leiden, Sorgen und Ängste der anderen wahrzunehmen. Schon Johann Baptist Metz wusste, dass der Schlüssel zur Lösung des Konflikts im Nahen Osten darin liegt, dass wir alle die Leiden der anderen erinnern – und nicht nur die eigenen.
Zur Notwendigkeit und Aktualität von Götzenkritik
Im Islam und Judentum wurde die Trinitätslehre immer wieder als Götzendienst verstanden und das Christentum entsprechend kritisiert. Deswegen ist es bemerkenswert, wie deutlich sich Al-Tayyeb und Franziskus gegen jede Vergötzung des Menschen oder materieller Werte wenden, die nicht an die Stelle der höchsten und transzendenten Prinzipien treten dürfen. Die monotheistischen Religionen ziehen für sie an dieser Stelle an einem Strang. Zugleich lassen sie sich aber nicht zu einem Schulterschluss der Glaubenden gegen die säkulare Gesellschaft verführen und warnen nicht nur vor der Gefahr "des atheistischen und agnostischen Extremismus", sondern genauso vor der des "religiösen Integralismus, Extremismus und blinden Fundamentalismus". Sie laden uns ein, gegen die "angehäuften falschen Interpretationen der religiösen Texte" anzugehen und also gemeinsam um die Deutung unserer Heiligen Texte zu ringen und ihre reinigende Kraft in den Dienst unserer Gesellschaft zu stellen.
Götzenkritik also nicht als Kritik an Andersglaubenden, sondern als Impuls gegen falsche Prioritätensetzungen in unserer Gesellschaft, als Ringen um Verzicht und Demut – da bleibt tatsächlich viel zu tun.
Ich denke, dass uns dieses Plädoyer Ermutigung dazu sein kann, beispielsweise mit der Methode des Scriptural Reasoning in der Dialogarbeit vor Ort die befreienden Impulse unserer Schriften besser kennenzulernen und uns gemeinsam an ihren sperrigen Seiten abzuarbeiten. Götzenkritik also nicht als Kritik an Andersglaubenden, sondern als Impuls gegen falsche Prioritätensetzungen in unserer Gesellschaft, als Ringen um Verzicht und Demut – da bleibt tatsächlich viel zu tun.
Religion als Schrei nach Rettung
Spannend ist das Verständnis von Religion, das die Erklärung von Abu Dhabi prägt. Es ist sehr nah an der Definition von Religion als Unterbrechung und als subversive Erinnerung, das der neueren politischen Theologie von Johann Baptist Metz zugrunde liegt. Für Metz ist Religion der Schrei nach Rettung der bedrängten Kreatur und dieser Schrei muss uns immer wieder dazu herausfordern, unseren Alltagstrott zu unterbrechen, um uns denen zuzuwenden, die unsere Hilfe brauchen. Entsprechend deutlich formuliert die Erklärung: "Angesichts von (…) Millionen von Kindern, die an Hunger sterben, die aufgrund von Armut und Unterernährung bereits bis auf die Knochen abgemagert sind, herrscht ein inakzeptables internationales Schweigen." Dieses Schweigen zu stören, ist der letzte Sinn von Religion.
Wir sollen also wahrnehmen, was die Menschen bedrückt und lähmt und ihnen gemeinsam helfend zur Seite stehen.
Entsprechend sollte es auch im Dialog der Religionen nicht so sehr darum gehen, sich immer wieder um die gleichen Dissens- und Konsensbereiche zu drehen, sondern die Geschwisterlichkeit der Glaubenden zu nutzen, um die Sorgen und Nöte der Menschen zu verringern. Franziskus und Al-Tayyeb fordern deshalb einen Dialog und eine Kultur der Toleranz, um "viele wirtschaftliche, soziale, politische und umweltbezogene Probleme zu verringern, die einen großen Teil des Menschengeschlechts bedrängen." Wir sollen also wahrnehmen, was die Menschen bedrückt und lähmt und ihnen gemeinsam helfend zur Seite stehen – etwa durch gemeinsame Aktionen der Religionen, aber auch durch multireligiöse Gebete. Islam und Christentum müssen hier lernen und erfahrbar machen, dass es ihnen nicht darum geht, die bessere Figur in der Öffentlichkeit abzugeben, sondern gemeinsam für die Menschheit und Menschlichkeit einzutreten.
Religionsfreiheit und Menschenwürde sind unteilbar: Rechte und Pflichten zusammen denken
Ein letzter Gedanke noch: Franziskus und Al-Tayyeb finden in ihrer Erklärung eine schöne Weise, um sich für Religionsfreiheit und Menschenwürde einzusetzen. So heißt es gleich am Anfang des Dokuments: "Gott hat alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen." Der Diskurs der Menschenwürde und der Menschenrechte wird damit ergänzt um den Gedanken der Pflicht. In der Tradition des islamischen Rechts sind es unsere Pflichten, die Zugang zu universalen Werten ermöglichen und die den Schlüssel für das darstellen, was im westlichen Diskurs durch Rechte abgesichert werden soll. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau hat deswegen etwa aus der Sicht der islamischen feministischen Theologie gar nicht so viel mit gleichen Rechten wie mit gleichen Pflichten zu tun. Es ist interessant, dass die Erklärung hier beide Diskurse miteinander verkettet, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Wenn etwa das Geschenk der Gabe des Lebens durch Gott beschrieben wird, die niemand wegnehmen darf, lässt sich diese Gabe genauso als Recht wie als Pflicht verstehen, die sich zugleich beiden Zugangsweisen entzieht und ihnen ermöglichend voraus liegt.
Wichtige Anliegen des Westens gegenüber islamischen Ländern wie das "Recht der Frau auf Bildung", aber auch die Religionsfreiheit und der "Schutz der Gottesdienststätten – Tempel, Kirchen und Moscheen" können von beiden Seiten zusammen bejaht werden, weil der diese Gedanken rahmende Diskurs in unterschiedliche Deutungsrahmen eingepflegt werden kann. Gott – so sind sie sich einig – "hat es nicht nötig, von jemandem verteidigt zu werden" und so können und sollen wir verletzlich, liebevoll und mitmenschlich aufeinander zugehen und für den Glauben eintreten. Es wäre unserer Gesellschaft zu wünschen, dass sich in den kommenden Jahren mehr Menschen in Islam und Christentum finden, die sich von dieser inspirierenden Botschaft begeistern lassen.