Der Sozialethiker und Dominikaner Thomas Eggensperger hat in einem Interview auf dem Portal katholisch.de geäußert, in der Migrationsdebatte dürfe man mit dem Begriff ordo amoris – "Ordnung der Liebe" nicht argumentieren, so wie ich das in meinem COMMUNIO-Beitrag getan habe. Eggensperger meint: Thomas von Aquin verwende den Begriff, um zu "systematisieren", nicht um zu "priorisieren"; es handle sich um ein theologisches Konzept, das sich nicht ohne Weiteres auf politische Fragen der Gegenwart anwenden lässt. Hier muss widersprochen werden.
Selbstverständlich kann man den Begriff der "geordneten Liebe" im Rahmen der Migrationspolitik verwenden; nach christlichem Verständnis muss man es sogar. Die Sache, um die es geht, wird mit verschiedenen Begriffen bezeichnet. Unbeschadet der Tatsache, dass die Begriffe amor, caritas und dilectio unterschiedliche Aspekte der Liebe bezeichnen, sind sie in dem Zusammenhang, um den es hier geht, synonym. In allen Fällen geht es darum, dass dem Begriff der Nächstenliebe ein spezifizierendes Element hinzugefügt wird. Das kann der Begriff "Ordnung", "Regel" oder auch "Wahrheit" sein: Ordo amoris, regula dilectionis, caritas ordinata – all das sind verschiedene Begriffe, die in diesem Zusammenhang verwendet werden, um deutlich zu machen, dass die Liebe einer Regel, einer Ordnung zu folgen hat, die der Vernunft zu entsprechen hat. Der Begriff stammt übrigens aus dem Hohenlied 2,4 und beruht auf einer nicht ganz korrekten Übersetzung des hebräischen Textes: "Ordinavit in me caritatem" – "Er [der Bräutigam, gemeint ist: Christus] ordnete in mir die Liebe" (ausführlich dazu: Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied der Liebe, Freiburg 2015, 71–74).
Liebe und Wahrheit
Fragen der Migrationspolitik gehören in der Kirche zur katholischen Soziallehre. Dass man in der katholischen Soziallehre nicht mit dem Begriff der Liebe im Rückgriff auf Augustinus und Thomas von Aquin argumentieren kann, wie Eggensperger meint, verwundert. Papst Benedikt XVI. tut genau dies. Er hat seine Sozialenzyklika (sic!) aus dem Jahre 2009 unter den Begriff der Liebe gestellt, und zwar – und darauf kommt es hier an – unter den Begriff der "Liebe in der Wahrheit" (Caritas in veritate) (nicht zu verwechseln mit der Enzyklika: Deus caritas est): "Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre […] sie ist das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen – in Freundschaft, Familie und kleinen Gruppen –, sondern auch der Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen" (2). Darin weist der Papst auf den unauflöslichen Zusammenhang von Wahrheit und Liebe hin:
"Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden. Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist das Licht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natürlichen und übernatürlichen Wahrheit der Liebe gelangt […] Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab. Sie wird ein leeres Gehäuse, das man nach Belieben füllen kann. Das ist die verhängnisvolle Gefahr für die Liebe in einer Kultur ohne Wahrheit. Sie wird Opfer der zufälligen Gefühle und Meinungen der einzelnen, ein Wort, das missbraucht und verzerrt wird, bis es schließlich das Gegenteil bedeutet" (13).
Dass nach katholischer Lehre die Liebe zu Gott ohne Maß, die Liebe zum Nächsten aber immer ein bestimmtes Maß hat, mag für viele irritierend klingen. Das hängt damit zusammen, dass seit einigen Jahren in der Öffentlichkeit die Reihenfolge des ersten und zweiten Gebotes verdreht wurde. Das Hauptgebot (1. Gebot) ist die Gottesliebe, an zweiter Stelle kommt das Gebot der Nächstenliebe (Mk 12,28–34: "Das erste ist … Als zweites kommt hinzu …"). So gelten in der Tradition die ersten drei Gebote des Dekalogs als Gebote der Gottesliebe (Fremdgötterverbot, Namensmissbrauchverbot, Sabbatgebot); allein vom Textbestand umfassen sie rund 75 Prozent des Dekalog-Textes. An zweiter Stelle stehen die Gebote vier bis zehn als Gebote der Nächstenliebe. In der Öffentlichkeit beobachten wir seit einigen Jahren eine eigenartige Verdrehung: Die Gebote der zweiten Dekalog-Tafel rücken auf die erste Tafel, und das Hauptgebot der Gottesliebe rückt an die zweite Stelle und wird gewöhnlich gar nicht mehr erwähnt, weil man gar nicht mehr weiß, was das sein soll: Gott um seiner selbst willen zu lieben. So entsteht eine eigenartig verzerrte Darstellung des christlichen Glaubens in der Öffentlichkeit und zum Teil sogar in der Kirche, die es besser wissen müsste.
Gott verlangt vom Menschen nichts Unmögliches
Dazu zwei Beispiele aus der Tradition: Bereits Origenes (ca. 185–253) hat vor einer maßlosen Liebe zum Nächsten gewarnt. In einer seiner Predigten zum Lukasevangelium sagt er:
"Selbst Liebe (dilectio) ist nicht ohne Gefahr: Sie kann maßlos werden. Wer jemanden liebt, darf die Natur und die Motive der Liebe nicht aus den Augen verlieren und sollte den Partner nicht mehr lieben (diligere), als er es verdient [...] Man muss auch der Liebe Zügel anlegen und darf ihr nicht erlauben, so frei auszuschweifen, dass sie schließlich in einen jähen Abgrund stürzt" (Homilien zum Lukasevangelium, 25,1 und 6).
Gott liebt alles, was er geschaffen hat (vgl. Weish 11,24), doch er liebt auf unterschiedliche Weise. Den Pharao liebt er nicht in der gleichen Art und Weise (similiter) wie Mose und Aaron. Beim Menschen, so Origenes, sind zwei Formen der Liebe zu unterscheiden: die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zu Gott ist ohne Maß: "Denn in Christus Jesus ist Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Kräften" (Dtn 6,5; Lk 10,27). Die Liebe zum Nächsten aber hat ein Maß: "Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst" (Lev 19,18). Und bei der Liebe zum Feind wird ohne nähere Angabe gesagt: "Liebet eure Feinde" (Mt 5,44). Gott verlangt vom Menschen nichts Unmögliches.
Bernhard von Clairvaux (1090–1153) schreibt zum gleichen Thema:
"Wo es daher eine heftige Erregung gibt, gerade dort ist die Besonnenheit (discretio) ganz unentbehrlich, die in der Ordnung der Liebe (ordinatio caritatis) besteht. Immer erweist sich ja Eifer ohne klare Erkenntnis als weniger wirksam, als weniger nützlich; meist erfährt man ihn sogar als sehr gefährlich. Je glühender daher der Eifer, je heftiger der Geist erregt ist und je reichlicher die Liebe strömt, desto mehr braucht man wachsame Erkenntnis, die den Eifer mäßigt, den Geist zügelt und die Liebe ordnet" (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke V, Innsbruck 1994, 37).
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 ging eine "heftige Erregung" durch unser Land. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, der nichts mit Rechtsextremisten zu tun hat, mahnte zur Besonnenheit und zu wachsamer Erkenntnis: "Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich."
Was wir auf individueller und familiärer Ebene entweder intuitiv wissen oder uns von der modernen Psychologie sagen lassen müssen (vgl. das Buch der amerikanischen Therapeutin Robin Norwood: "Wenn Frauen zu sehr lieben", 1985), war den Kirchenvätern völlig selbstverständlich und gilt auch auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene. Als absoluter Souverän des Kirchenstaates kann der Papst frei entscheiden, wer den Kirchenstaat betreten darf und wer nicht. In einem demokratischen Rechtsstaat geht das nicht so einfach; da muss man sich verständigen. Und da gibt es unterschiedliche Gewichtungen. Was den einen zu viel ist, ist anderen zu wenig. Bei der Abwägung spielen auch Aspekte der kulturellen Identität eine Rolle. Das wird vom Lehramt der Katholischen Kirche ausdrücklich anerkannt; man sollte den Begriff nicht den Rechtsextremen überlassen; das geschieht jedoch allzu leicht, wenn man ihn meidet. Deshalb habe ich den einschlägigen Text korrekt zitiert. Natürlich weiß ich, da ich das Hauptgebot kenne und lesen kann, dass der Text weitergeht: "Die nationale Souveränität ist jedoch nicht absolut" (Kompendium der Soziallehre der Kirche, 32014, Nr. 435). Das habe ich in meinem Beitrag auch gar nicht bestritten.
In einem lesenswerten Aufsatz "Die Flüchtlinge und der barmherzige Samariter. Zur Bedeutung des christlichen Liebesgebotes im Migrationsdikurs" (StdZ 1/2018, 10–20) geht auch der Moraltheologe Tobias Hack ausführlich auf das Motiv des ordo amoris ein und gelangt zu demselben Ergebnis. Hinsichtlich der Parabel vom barmherzigen Samariter schreibt er:
"Eine universalistische Perspektive, in der letztlich alle Menschen zu lieben sind, birgt jedoch die große Gefahr, dass Nächstenliebe im Sinne einer 'Allerweltsliebe' dem Ziel der Parabel Jesu letztlich zuwiderläuft. Gerade weil die Parabel Jesu auf das konkrete Tun und Handeln zielt, muss zu Recht gefragt werden, ob man in diesem Sinn alle Menschen gleichermaßen lieben kann. Die offensichtliche Begrenztheit des Menschen war bereits für die beiden Kirchenväter Augustinus und Thomas von Aquin der Ausgangspunkt, angesichts einer fraglos geltenden Universalität des Liebesgebotes nach Präferenzregeln [Vorzugsregeln, L.S.] zu fragen, wer wem gegenüber primär beizustehen habe. Dies führte zur Formulierung der traditionellen Vorstellung eines ‚ordo amoris‘, einer Rangordnung der Liebe" (ebd. 15). Im Hinblick auf die Migrationspolitik zieht Tobias Hack daraus folgende Konsequenzen: "Eine entsprechende Differenzierung wird auch auf staatlicher und internationaler Ebene fragen müssen, wer Flüchtlinge bestimmter Herkunft wo in welcher Zahl am besten helfen kann. Dabei sind die vorhandenen begrenzten Ressourcen ökonomischer oder gesellschaftspolitischer Art, etwa die Akzeptanz durch die Bevölkerung, realistisch einzuschätzen und miteinzubeziehen" (ebd. 18).
Genau darum geht es.