Spätestens seitdem der Kandidat der Republikanischen Partei für die anstehenden Präsidentschaftswahlen, Donald J. Trump, seinen Running Mate bekannt gegeben hat, beschäftigt die Öffentlichkeit hierzulande die Frage der Verhältnisse zwischen der MAGA-Bewegung und dem Katholizismus: Trumps Wahl, der Schriftsteller J.D. Vance, hatte, wie bereits Benjamin Dahlke in COMMUNIO erläutert hat, im April 2020 im Online-Magazin The Lamp der amerikanischen Öffentlichkeit seine Konversion bekannt gegeben und mit Respekt verdienender Ernsthaftigkeit begründet.
Vance ist nur der prominenteste aus einer Reihe politischer Intellektueller – weitere bekannte Namen sind die Kommentatorinnen Candace Owens und Eva Vlaardingerbroek – deren katholische Konversionen mit einem Bekenntnis zu Trump einhergehen. Diese Entwicklung ist erstaunlich: Die Rechte der Vereinigten Staaten ist traditionell anti-katholisch. Werden wir also Zeugen einer Art neuer Ökumene in politischer Absicht? Oder gar einer Neujustierung der politisch-theologischen Relevanzordnung der Vereinigten Staaten, fast 250 Jahre nach deren Gründung?
Vances Wahlverwandtschaft mit Trumps MAGA-Bewegung ist nicht so erstaunlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Liest man Vances Text aus dem April 2020 genau, lässt sich weder die erste noch die zweite Frage bejahen, und zwar aus einem einfachen Grund: Das Bekenntnis Vances gilt zwar dem Namen, nicht aber seiner Qualität nach dem Katholizismus. Wenn wir aber Vances Bekenntnis jenseits des Namens, den er ihm gibt, rekonstruieren, so zeigt sich, dass seine Wahlverwandtschaft mit Trumps MAGA-Bewegung nicht so erstaunlich ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Schauen wir uns das genauer an.
Eine Aufstiegserzählung
Vances Schilderung seines Weges zu dem, was er Katholizismus nennt, folgt zunächst dem Schema der Aufstiegserzählung. Der Einstieg lässt sich als Milieuskizze lesen, deren Mittelpunkt seine Großmutter – "Mamaw" genannt – bildet, bei der er aufwuchs. Sozioökonomisch zählt sie zur Gruppe der Armen, die Georg Simmel zufolge kennzeichnet, dass sie die eigene "Lage als eine Ungerechtigkeit der Weltordnung empfindet und sozusagen von dem gesamten Dasein Abhilfe fordert".1
Nach der Klassifikation der moralischen Segmente der amerikanischen Gesellschaft, die der klassische Soziologe der Vereinigten Staaten, der Darwinist William G. Sumner, vorschlug, ist "Mamaw" eine Protagonistin des (zahlenmäßig kleinen) Proletariats: Leuten, die sich zwar irgendwie durchschlagen, deren einziger Beitrag zum Gemeinwohl aber streng genommen der zur gesellschaftlichen Reproduktion sei.2 Geschichtspolitisch kultiviert "Mamaw" jene von "Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart" ausgehende Haltung, die Jan Assmann als "kontrapräsentische Mythomotorik"3 bezeichnet: Sie sei eine Frau gewesen, so Vance, "deren einzige politische Helden seit Jahrzehnten tot waren". Religiös ist sie eine tiefgläubige Protestantin, aber in ihrem Bekenntnis so unbestimmt, dass sie sogar dem institutionenstarken Katholizismus, einer Sache bloß für "majestic people", indifferent begegnet – was nicht hindert, dass Vance in diesem Milieu lernt, dass der Antichrist ein Katholik sein würde.
So kann nicht überraschen, dass Vance, als er als Student der Ohio State University seinen Aufstieg aus der Welt der Armen des Rust Belt in die Welt der amerikanischen Eliten beginnt, neben der rückwärtsorientierten politischen Nostalgie "Mamaws" (zugunsten einer libertären: Atlas Shrugged) auch ihre indifferente Religiosität hinter sich lässt. An deren Stelle tritt ein klarer, geradliniger Atheismus – der zugleich den Gegenpol dessen bildet, was Vance unter der Sigle Joining the Resistance – "sich dem Widerstand anschließen" – bekanntmacht: ein "intellektuelles Erwachen", das ihn schließlich zurück zu Christus geführt habe.
Und mit dieser Polarität wird Vances traditionelle Aufsteiger-Geschichte kompliziert: Die Vertrauenswürdigkeit von jemandem, der in kurzer Frist vom einen zum anderen Pol gelangt sein will, ist ähnlich problematisch wie die eines Zeugen bei Gericht, der seiner früheren Aussage widerspricht, indem er sie als Lüge bezeichnet: Vances Leser könnten auf die Idee kommen, bei der Beurteilung seiner Persönlichkeit der Praxis des flip-flopping größeres Gewicht als dem Anspruch der Rechtgläubigkeit beizumessen. Vor diesem Hintergrund können wir unter den Erläuterungen, die Vance leistet, um die Vertrauenswürdigkeit seines Bekenntnisses zu demonstrieren, die sozialfunktionalistischen (auf seine Weise Frieden mit der religiösen Familien-Tradition machen, ein geduldigerer Vater sein) vernachlässigen und uns auf deren religiöse Dimension konzentrieren.
Antielitäre Elite
Vance verwendet, um sein geistiges Erwachen zu erläutern, eines der klassischen Bilder des Christentums: Wenn er von seeds spricht, die bereits in der Zeit, als er noch im Atheismus sein Heil suchte, in seinen Verstand und sein Herz gepflanzt worden seien, steht unverkennbar das Gleichnis vom Sämann Pate – wobei allerdings auffällt, dass in Vances Fall nicht Glaube, sondern Zweifel gesät worden sein soll: kein Himmelreich, sondern die Hölle der zeitgenössischen Kultur Amerikas ist seine Referenz.
Das erste Samenkorn des Zweifels wird Vance in einer jener Schuldebatten4 zuteil, mit denen an manchen amerikanischen Universitäten Philosophie vermittelt werden soll: und zwar in Gestalt einer Parabel Basil Mitchells. Deren zentrale Figuren sind ein Widerstandskämpfer in besetztem Gebiet und ein undurchsichtiger Fremder, von dem jener "Partisan" gegen den Augenschein und alle konventionellen Einreden glaubt, er führe den Widerstand an. Letztlich macht Vance anhand von Mitchells Parabel, in der der Fremde für Gott stehen soll, die altbekannte Feststellung, dass die religiöse Überzeugung sich leicht gegen jede Invektive eines Atheisten verteidigen lässt, solange ihr Vertreter sich nicht auf dessen Voraussetzungen einlässt. Vance gewinnt dem besonders die Lehre ab, dass von der Zerissenheit der Welt nicht auf die Nicht-Existenz Gottes geschlossen werden sollte. Überdies ist für ihn von Interesse, dass Mitchells Parabel, deren außergewöhnliche Kraft sich ihm nun erschlossen hat, gegenüber den Beiträgen der Wettbewerber in der Schuldebatte, Anthony Flew und R.M. Hare, weniger Aufmerksamkeit im Seminar erhalten hätte. Neben dem Zugeständnis des Risses, der durch die Welt geht, und der Figur Gottes als Fremdem, der für den Riss nicht verantwortlich ist, spricht also die Ausnahmehaftigkeit der eigenen Sympathie mit Mitchells Position für deren besonderen Wert: der Reiz, Teil einer Gegen-Elite zu sein, die, statt in elitärer "Arroganz", im Zeichen von "Demut" besser als die Masse ist.
Dasselbe Motiv der antielitären Elite begegnet uns wieder, wenn Vance das zweite Samenkorn des Zweifels schildert. Personifiziert wird es durch den deutschstämmigen Investor Peter Thiel, der anlässlich eines Vortrags an der Yale Law School, der nächsten Station von Vances Bildungsaufstieg, sich als Skeptiker der cutthroat professional competitions der Gegenwart inszeniert, zu deren Gewinnern er doch selbst zählt. Für Vance verbindet sich mit Thiels Vortrag das aufkommende Gefühl, dass er die Zukunft, die die gegenwärtige Eliten-Kultur ihm verspricht, im Grunde hasst.
Überdies verfügt Vance mit Thiel, der sich als Christ bezeichnet und ihm zugleich als der "vielleicht klügste Mensch" erscheint, den er je getroffen habe, über einen figuralen Beleg, dass eine Vermählung von elitärer Aspiration und Religiosität möglich ist. Um dieser Verbindung Gestalt zu geben, orientiert Vance sich an der Sündenbock-Theorie des von Thiel geschätzten Kulturwissenschaftlers René Girard, der zufolge Christus die seit Anbeginn der Welt und bis heute den "Massen" verborgene Macht des Einzelnen enthüllt habe, sich der allfälligen "mimetischen Rivalität" zu entziehen und den Sündenbock-Mechanismus zu unterbrechen.
Nachdem wir Vances "Samen des Zweifels" überblicken, können wir deutlich Motive erkennen, die statt auf die Lehren des Katholizismus auf eine andere religiöse Tradition hindeuten, die auch schon antikatholische Blüten getrieben hat.5 Mithilfe von Hans Jonas6 finden wir Variationen des Bildes der irdischen Welt als eines von niederen Mächten verwalteten Verlieses, Gottes als des schlechthin Fremden, des Gegensatzes von Trägern der wahrhaften Sittlichkeit und der fehlgeleiteten "Masse" oder den Anspruch, auf paradoxe Weise zum Erlösungswerk beizutragen, die zu den typischen Kennzeichen gnostischen Denkens zählen. Und damit ist noch nichts über Vances eigentümliche Augustinus-Bezüge gesagt, insbesondere auf das zweite Buch von "De civitate Dei".
Das "System" zum Einsturz bringen
Doch ist nicht in erster Linie Vances Gnostizismus bemerkenswert. Wir verstehen dessen politische Dimension, wenn wir einen Blick in einen Vortrag7 werfen, den Leo Strauss, ein langjähriger Gesprächspartner von Jonas, am 26. Februar 1941, unverkennbar Bezug auf den Problemkomplex Gnosis nehmend, vor der Graduiertenfakultät der New School for Social Research hielt.
Strauss ging es in seinem New Yorker Vortrag darum, eine Vorstellung der geistigen Situation junger Deutscher der Zwischenkriegszeit, die zum Begleitpersonal des aufsteigenden Nationalsozialismus wurden, zu vermitteln. Den Glauben dieser jungen Deutschen bezeichnete er als "German Nihilism" und identifizierte als dessen ungläubige Priester eine Reihe prominenter Fürsprecher einer anti-westlichen Gegen-Elite, etwa Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler, Martin Heidegger, Ernst Jünger oder Carl Schmitt. Deren Lehren kanalisierten die ursprünglich nicht nihilistische, im Gegenteil auf einem intuitiven moralischen Protest gegen die selbstgewisse Fortschrittsseligkeit des Juste Milieus Weimars gegründete Sehnsucht der Jungen in Richtung einer "Zerstörung der modernen Zivilisation". "In einem Zeitalter der völligen Korruption besteht das einzige Heilmittel darin, das Gebäude der Korruption – 'das System' – zu zerstören und zum unverdorbenen und unverderblichen Ursprung zurückzukehren".
Und so stellt sich die Frage, ob nicht die nihilistische Pointe des gnostisch temperierten Bekenntnisses Vances darin liegt, dass er in Trump seinen Geburtshelfer gefunden hat, da der niederträchtiger und radikaler als jeder andere den spätpuritanischen Tugendkatalog, dessen Rationalisierungen der Armenfürsorge, der Moral, der Geschichtspolitik und der religiösen Toleranz, zum Teufel zu jagen bereit ist (stellvertretend für "Mamaw" und ihr ganzes Milieu).
Doch während feststand, dass zum Heil der Welt ihr die westliche Zivilisation auszutreiben war, mangelte es, abgesehen vom luftigen Versprechen eines im Verborgenen intakten Ursprungs, an einer klaren Idee davon, wodurch man sie ersetzen wollte. Stattdessen begann für die ambitionierten Jungen die Suche, die sie schließlich zu Hitler führte. Sie fanden in ihm jemanden, der gerade wegen seiner unverkennbaren Niedertracht und seinem radikalen Desinteresse an den Rationalitätsstandards der gegenwärtigen Elite zum Geburtshelfer einer nebulösen neuen Zeit taugte.
Und so stellt sich die Frage, ob nicht die nihilistische Pointe des gnostisch temperierten Bekenntnisses Vances darin liegt, dass er in Trump seinen Geburtshelfer gefunden hat, da der niederträchtiger und radikaler als jeder andere den spätpuritanischen Tugendkatalog, dessen Rationalisierungen der Armenfürsorge, der Moral, der Geschichtspolitik und der religiösen Toleranz, zum Teufel zu jagen bereit ist (stellvertretend für "Mamaw" und ihr ganzes Milieu).
Tatsächlich hat Strauss, nachdem der Krieg gewonnen war, auf die Gefahr hingewiesen, dass die Saat des Nihilismus der Besiegten auch einmal in den Vereinigten Staaten Blüten treiben könnte.8 Überdies erinnerte er sein Publikum allerdings daran, dass es trotz des Problems des Nihilismus nicht gleich in wahlloser Solidarität den scheinbaren Gewissheiten des Juste Milieu das eigene Denken eingemeinden sollte.