Jenseits von Markt und StaatWelche Ontologie braucht die Commons-Bewegung?

Das "postmetaphysische Zeitalter" war nur eine Phase. Die Ontologie ist zurück. Nicht nur in der Philosophie. Auch die politische und soziale Relevanz grundlegender Seinsfragen wird wiederentdeckt: zum Beispiel in der Commons-Bewegung. Sascha Vetterle empfiehlt den Commons-Theoretikern eine Beschäftigung mit dem christlichen Denken.

Weide mit Kühen
© Pixabay

Lange Zeit galt die Beschäftigung mit Ontologie als veraltet. Noch in den Neunzigerjahren sah sich Papst Johannes Paul II. gezwungen, in einer Enzyklika – "Fides et Ratio" – hierfür eine Lanze zu brechen. Diese Zeiten scheinen vorbei. In der deutschsprachigen universitären Philosophie steht Markus Gabriel beispielhaft für das neu erwachte Interesse an der Metaphysik.

An der Naht zwischen Forschung und gesellschaftlichem Aktivismus hat auch das Commons-Institut rund um die verstorbene Silke Helfrich die Bedeutung der Ontologie neu entdeckt.

Das Institut präsentiert sich als "ein Netzwerk von Menschen, die rund um Commons aktiv sind: in Forschung, Lehre und aktivistischer Praxis". Bei Commons handelt es sich um Formen gemeinschaftlicher Selbstversorgung mit materiellen und immateriellen Gütern jenseits von Staat und Markt. Ein traditionelles Beispiel hierfür wäre etwa die Bewirtschaftung von Almen in den Alpen durch örtliche Dorfgemeinschaften, ein modernes Beispiel ist Open Source-Software wie OpenOffice.

International auf größere Resonanz stößt das Thema Commons insbesondere seit 2009, als Elinor Ostrom den Nobelpreis für Wirtschaft für den Nachweis erhielt, dass und wie Commons langfristig funktionieren können. Ostrom hat sieben Design-Prinzipien für langfristig erfolgreiche Commons erarbeitet wie "klar definierte Grenzen" oder "abgestufte Sanktionsmöglichkeiten". 

Die Macht der Ontologien

Die beiden Commons-Theoretiker Johannes Euler und Sigrun Preissing haben kürzlich in einem Beitrag begründet, warum es aus ihrer Sicht für die soziale und politische Praxis wichtig ist, sich mit Ontologie zu beschäftigen:

"Unsere ontologischen Grundannahmen beschreiben, was ist und zum Teil auch was sein sollte. Sie bestimmen letztlich, welche soziale und politische Ordnung wir denken, welche Transformation und Utopie wir uns überhaupt vorstellen können. Silke Helfrich war sich bewusst, welche Macht Ontologien haben, und überzeugt davon, dass es für eine gesellschaftliche Transformation kaum ein strategischeres Vorgehen gibt, als sich auf die Veränderung der Ontologie – der Weltsicht an sich – auszurichten."

Ethik und Politik operieren nie in einem luftleeren Raum. Sie hängen immer davon ab, welches Bild wir uns von der Realität machen und wie wir uns als Menschen zur Realität ins Verhältnis setzen. 

Mit anderen Worten: Ethik und Politik operieren nie in einem luftleeren Raum. Sie hängen immer davon ab, welches Bild wir uns von der Realität machen und wie wir uns als Menschen zur Realität ins Verhältnis setzen. So wird sich beispielsweise eine Politik, die zu Harmonie und Ausgleich tendiert, nie vermitteln lassen, wenn die Mehrheit der Menschen davon überzeugt ist, dass die Realität fundamental unsicher und chaotisch ist.

Euler und Preissing kritisieren nun eine "derzeit vorherrschende Ontologie", die sie als "westlich-moderne Ontologie" bezeichnen und die "sich während der Renaissance entwickelt und im 18. und 19. Jahrhundert verfestigt" habe. Es sei diese Ontologie, die dafür verantwortlich sei, dass der Kapitalismus alternativlos erscheine. Stattdessen halten sie Ausschau nach einer Ontologie, die die von ihnen bevorzugte soziale Praxis des Commoning als realistisch, ja natürlich erscheinen lässt.

Margaret Stout folgend gehen die Autoren von einem Dualismus zwischen Parmenides und Heraklit aus und entscheiden sich in dieser Entweder-Oder-Situation für Heraklit ("Alles fließt") und in dessen Tradition für die Prozess-Philosophie Alfred North Whiteheads, die aus ihrer Sicht am ehesten der Commoning-Praxis entspreche.

Damit zäumen sie das Pferd gewissermaßen von hinten auf: Sie picken sich eine Ontologie passend zu der von ihnen angestrebten soziale Praxis heraus, anstatt ihre soziale Praxis an einer wohlbegründeten Ontologie auszurichten.

Der Bruch mit der "westlich-modernen Ontologie" ist nicht radikal genug

Gleichzeitig bleiben sie mit ihrer gewählten Vorgehensweise zutiefst einem dualistischen Denken verhaftet, wie es Silke Helfrich selbst als typisch für die westlich-moderne Ontologie kritisiert hat. Die Herausforderung bestünde darin, diesen Dualismus und seine Einseitigkeiten zu durchbrechen, anstatt ihn als gegeben vorauszusetzen.  Hier erscheint der Bruch mit der "westlich-modernen Ontologie" nicht radikal genug.

Leider widmen Euler und Preissing tatsächlich keine Gedanken jener Ontologie, die durch die "westlich-moderne Ontologie" abgelöst wurde: der christlich inspirierten Ontologie des Mittelalters und der Traditionen, die sich darauf zurückgehen. Dabei bietet gerade der christliche Glaube ein unerhörtes Potenzial, die von Margaret Stout behaupteten Dualitäten aufzulösen, ja zu durchkreuzen. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Margaret Stout ordnet die diversen historischen Ontologien anhand von 4 Dimensionen.

Dimension 1 fragt nach der Quelle des Seins und verortet diese entweder in der Transzendenz oder in der Immanenz. Die Autoren deuten nur an, dass nach ihrer Vorstellung ersteres mit eher hierarchischen und letzteres mit eher egalitären Ordnungsvorstellungen einhergeht. Hier ist anzumerken, dass es natürlich stimmt, dass der christliche Glaube die Quelle des Seins mit Gott in der Transzendenz verortet. Doch in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, dem wahren Menschen und wahren Gott, wird diese Unterscheidung durchkreuzt. Mit ihm gibt es die Quelle einer neuen Schöpfung, eines neuen Seins, die gleichermaßen Transzendenz und Immanenz angehört.

Dimension 2 unterscheidet Individualität und Relationalität und versteht unter ersterem ein Menschen- und Weltbild, in welchem der einzelne Mensch bzw. jedes Einzelwesen ontologisch zunächst für sich steht und erst sekundär in Beziehung tritt, wohingegen Relationalität für eine ursprüngliche Verbundenheit und Bezogenheit von allem steht. Euler und Preissing schreiben: "Wir haben in der deutschen Sprache kein adäquates Wort für die Seinsweise eines Individuums, die sich vor allem durch die vielfältigen Beziehungen und Interaktionen bestimmt." Vom Personenbegriff der christlichen Theologie und Philosophie haben die Autoren offenbar noch nie gehört. Das adäquate Gegenstück zur Individualität, die die Individualnatur des Menschen verabsolutiert, wäre ohnehin die Kollektivität, die seine Sozialnatur verabsolutiert. Es ist eben der christliche Personenbegriff, der diese Dichotomie durchbricht.

Dimension 3 unterscheidet zwischen einem undifferenzierten und einem differenzierten Seinsverständnis. Es geht um den ontologischen Vorrang von entweder dem Einen oder dem Vielen und in Konsequenz um Gesellschaftsbilder, die entweder Homogenität oder Diversität betonen. Hier ist es das christliche Gottesbild von dem einem Gott in drei Personen, das diesen scheinbaren Antagonismus durchkreuzt und Eines und Vieles als gleich ursprünglich bekennt.

Dimension 4 kontrastiert schließlich Statik und Dynamik bzw. Sein und Werden und in Konsequenz entsprechende Gesellschaftsbilder. Auch hier wird der Dualismus im christlichen Glauben aufgebrochen. Gott ist ewig. Er ist ohne Anfang und ohne Ende – in diesem Sinne könnte man ihn statisch nennen. Zugleich gibt es in ihm jedoch von Ewigkeit her und bis in alle Ewigkeit die pulsierende, lebendige und kreative Dynamik des inneren Lebens der drei göttlichen Personen, der wir letztlich die Schöpfung verdanken, die im Sinne der creatio continua nicht abgeschlossen ist, sondern im Prozess ist – ein Prozess der schlussendlich nicht in eine endlose Stasis mündet, sondern in jenes pulsierende innere Leben Gottes, das seinen Ursprung bildet.

Hier ist noch festzuhalten, dass Euler und Preissing ihre eigene Präferenz für die Dynamik und das Werden nicht durchhalten, wenn sie – mit Helfrich – Commoning eine anthropologische Konstante nennen und damit implizit anerkennen, dass es eben neben der Veränderung und dem Wandel doch auch Bleibendes – und bleibend Relevantes – gibt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Ontologie, die diesen Umstand hinreichend würdigt.

Nicht zuletzt geht es den Commonern und den Common-Theoretikern ja auch ganz praktisch nicht nur um die Weiterentwicklung von Commons, sondern gerade darin um deren Erhalt als ein bleibendes Gut.

Den Commons-Theoretikern sei entgegen allen Eurozentrismus-Befürchtungen eine Beschäftigung mit christlich inspirierter Ontologie im Besonderen und christlicher Philosophie im Allgemeinen empfohlen.

All das zeigt, dass eine vom christlichen Glauben inspirierte Ontologie sämtliche Anforderungen Eulers und Preissings an eine Ontologie im Sinne des Commonings erfüllt, nämlich angemessene Würdigung von Immanenz, Relationalität, Diversität und Werden, ohne dabei in die Einseitigkeiten der Whitehead'schen Prozess-Philosophie zu fallen. So wäre eine christlich inspirierte Ontologie geeignet, die Commons-Bewegung vor drohenden Einseitigkeiten zu bewahren.

Den Commons-Theoretikern sei daher entgegen allen Eurozentrismus-Befürchtungen eine Beschäftigung mit christlich inspirierter Ontologie im Besonderen und christlicher Philosophie im Allgemeinen empfohlen.

Im Werk "The Foundations of Nature. Metaphysics of Gift for an Integral Ecological Ethic" von Michael Dominic Taylor (Eugene 2020) etwa kommt die Commonsfreundlichkeit schon im Titel zum Ausdruck: Taylor schlägt eine Metaphysik der Gabe vor. Als Vordenker einer solchen Metaphysik nennt Taylor christliche Denker wie Thomas von Aquin, Erich Przywara, Ferdinand Ulrich, Hans Urs von Balthasar sowie David L. Schindler.

Das bei den Commons-Theoretikern neu erwachte Interesse an ontologischen Fragestellungen sollte umgekehrt auch für Christen eine Ermutigung sein, sich neu mit ihren ontologischen Grundannahmen und deren sozialen und politischen Konsequenzen auseinanderzusetzen und sie vom Evangelium her zu überprüfen.

 

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