Die Proteste von Landwirten in Deutschland sorgen vielfach für Empörung. Kommentare warnen vor rechtsradikaler Unterwanderung und rufen die Bauern dazu auf, sich an Recht und Ordnung zu halten. Der Zorn der Landwirte wiederum richtet sich besonders gegen Regierungsvertreter der Grünen.
Das ist nicht ohne Ironie. Denn für die Entwicklung der grünen Bewegung spielten die Protestformen, die heute für Kritik sorgen, eine wichtige Rolle, waren identitätsprägend: seien es die Proteste gegen das geplante Atommüllendlager in Gorleben oder gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Die Gegner des Endlagers Gorleben griffen in den Neunzigerjahren immer wieder zu drastischen Mitteln: Sie blockierten und beschädigten Straßen und griffen Polizisten mit Molotow-Cocktails und Leuchtmunition an. Die Flughafen-Protestbewegung in Frankfurt zerbrach 1987, nachdem während einer Demonstration auf Polizisten geschossen worden war und zwei Polizeibeamte dabei ums Leben gekommen waren.
Heute sagt der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, der vergangene Woche von aufgebrachten Bauern in Schleswig-Holstein daran gehindert wurde, eine Fähre zu verlassen: Der Protest der Landwirte sei zwar "ihr Recht", jedoch komme es zu extremistischen Vereinnahmungen, es kursierten "Umsturzfantasien" unter den Protestierenden. In den letzten Jahren, so Habeck, sei etwas "ins Rutschen geraten", das "den legitimen demokratischen Protest und die freie Meinungsäußerung entgrenzt".
Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass nicht erst heute Proteste oberhalb eines gewissen Erregungsniveaus in Gewalt umschlagen und dass es sich oft nur schwer verhindern lässt, dass sich extremistische Kräfte einer Bewegung anschließen. Auch unter den Aktivisten der Klima-Bewegung gibt es radikale Kräfte, denen die demokratischen Prozesse viel zu langsam gehen und die darum andere Formen der Entscheidungsfindung durchsetzen wollen.
Je nachdem, ob man selbst dem Anliegen nahesteht oder nicht, hat man Verständnis für die gewählten Methoden oder beklagt sich über sie.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Georg Bätzing, ließ angesichts der Agrar-Proteste wissen, es sei "unsere gemeinsame Pflicht, für eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu sorgen, dabei aber Gewalt und Radikalismus entschieden abzulehnen". Doch auch in der katholischen Kirche halten sich Aktivisten in angespannten Zeiten nicht immer an die vorgesehen Prozeduren, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Unter Indiens Katholiken des syro-malabarischen Ritus' tobt ein Streit um die richtige Feier der Liturgie. Ein Papstgesandter wurde dort im vergangenen Jahr mit Eiern und Flaschen beworfen. Als 1988 der konservative Wolfang Haas zum Bischof von Chur geweiht wurde, mussten die Teilnehmer über einen "Menschenteppich" steigen, um zum Eingang der Kathedrale zu gelangen. Und 1977 besetzten Anhänger der traditionalistischen Piusbruderschaft die Pariser Kirche St-Nicolas-du-Chardonnet. Ein Räumungsbeschluss wurde nie durchgesetzt; die Piusbruderschaft ist dort bis heute beheimatet.
Zwar nicht gewaltsam, aber doch jenseits des geltenden kirchlichen Rechts und Mahnungen der römischen Zentrale zum Trotz hat man in der katholischen Kirche Deutschland den Reformprozess "Synodaler Weg" vorangetrieben. Natürlich hat der Synodale Weg nichts mit Extremismus und Gewaltanwendung zu tun. Doch auch hier gilt: Je nachdem, ob man selbst dem Anliegen nahesteht oder nicht, hat man Verständnis für die gewählten Methoden oder beklagt sich über sie.
Die Integration der auseinanderstrebenden Kräfte bleibt eine große Herausforderung für die katholische Weltkirche. Da unterscheidet sie sich nicht vom demokratischen Staat, der auf ein bestimmtes Maß an "gesellschaftlichem Zusammenhalt" angewiesen sind. Anders als die Kirche kann er den aber nicht erzeugen: er lebt auch diesbezüglich von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann.