Während Biomedizin und Reproduktionsmedizin rasante Fortschritte machen, driften die Kirchen auf dem Feld der Bioethik merklich auseinander. Franz-Josef Bormann hat die Lage aus katholischer Sicht analysiert. Er wünscht sich wieder mehr ökumenische Geschlossenheit und rät seiner Kirche, sollte diese nicht zu erreichen sein, andere Allianzen zu schmieden, um sich bei schwindendem Einfluss in den biopolitischen Diskursen noch Gehör zu verschaffen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen zwischen beide Kirchen in der Frage des Lebensschutzes "kein Blatt Papier" passte. 1989 konnten EKD und Deutsche Bischofskonferenz noch in ökumenischer Eintracht mit ihrer gemeinsamen Erklärung "Gott ist ein Freund des Lebens" an die Öffentlichkeit treten. Damals konnte man noch gemeinsam vor jeder noch so kleinen Bewegung in Richtung auf verbrauchende Embryonenforschung warnen und auch in der Frage des Schwangerschaftskonflikts – bei allen schon damals bestehenden Auffassungsunterschieden in Einzelfragen – in der Öffentlichkeit gemeinsam Position beziehen.
Risse in der bisherigen ökumenischen Einigkeit
Zwar war man sich einig, dass der Schutz des Lebens vornehmlich durch sozialpolitische Maßnahmen und Beratungsangebote gestärkt werden solle, welche es Frauen ermöglicht, sich auch im Fall einer ungewollten Schwangerschaft für das Kind zu entscheiden. Was die gesetzlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs betrifft, herrschte freilich schon damals zwischen den Kirchen keine Einigkeit. Die katholische Seite erklärte, man werde sich mit der geltenden Rechtslage in Deutschland niemals abfinden, weil sie der katholischen Morallehre fundamental widerspreche. 1998 zog sich die katholische Kirche auf Drängen des Vatikans aus der Schwangerschaftskonfliktberatung völlig zurück. Katholische Beratungsstellen gibt es nur noch durch Vereine wie Donum vitae.
Es traten zunehmend Risse in der ökumenischen Einigkeit zutage, die in jüngster Zeit noch größer geworden sind. Auch auf anderen Themenfeldern scheint die Suche nach Konvergenzen an ihre Grenzen zu stoßen, mag es auch nicht an Appellen fehlen, in Zeiten schwindender Mitgliederzahlen und einer inneren Auszehrung der Kirchen stärker zusammenzurücken.
Die EKD hingegen hielt zwar die strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nicht für ganz befriedigend, erklärte aber, keine Änderung der geltenden Rechtslage anzustreben. In der Beurteilung, wie weit das Strafrecht überhaupt einen wirksamen Beitrag zur Verhinderung von Abtreibungen leiste, wurden jedoch in der evangelischen Kirche schon damals abweichende Auffassungen vertreten.
In den folgenden Jahren traten zunehmend Risse in der ökumenischen Einigkeit zutage, die in jüngster Zeit noch größer geworden sind. Auch auf anderen Themenfeldern scheint die Suche nach Konvergenzen an ihre Grenzen zu stoßen, mag es auch nicht an Appellen fehlen, in Zeiten schwindender Mitgliederzahlen und einer inneren Auszehrung der Kirchen stärker zusammenzurücken. Das mit großem Aufwand ökumenisch gefeierte Reformationsjubiläum 2017 war eben doch nicht das viel beschworene Signal zu einem ökumenischen Neuaufbruch, sondern ein Strohfeuer, von dem fünf Jahre später kaum noch etwas zu spüren ist.
Abschied vom "differenzierten Konsens"
Unterschiede in dogmatischen Fragen werden in der Ökumene gern mit Hilfe der Idee des differenzierten Konsenses bearbeitet. Differenzen in der Sprache müssten nicht trennend wirken, sofern von einem Konsens in Grundwahrheiten ausgegangen werden könne. Inzwischen ist das Modell zur Idee eines "differenzierenden Konsenses" verfeinert worden. Offenbar gelingt es aber nicht mehr, bestehende Unterschiede in ethischen Fragen mit Hilfe dieser Denkfigur einzugehen. Ein deutliches Signal gibt dafür ein gemeinsames Dokument der VELKD und der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Titel "Gott und die Würde des Menschen" aus dem Jubiläumsjahr 2017. Es betont einerseits den nach wie vor bestehenden Konsens in anthropologischen Grundüberzeugungen, spricht aber, wenn es um die auf dem Gebiet der Bioethik offen zu Tage liegenden Differenzen geht, von einem "begrenzten Dissens". Wie weit diese Formel, die sich als Modifikation der Idee vom differenzierten Konsens verstehen lässt, nach der Veröffentlichung der jüngsten Stellungnahmen von EKD und Diakonie zur geplanten Reform des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland noch trägt, ist zweifelhaft. Das Ende der gemeinsamen Woche für das Leben weckt berechtigte Zweifel.
Auch in der Frage des assistierten Suizids ist die ehedem öffentlich demonstrierte Geschlossenheit der Kirchen nicht mehr vorhanden. 2015 setzten sich die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam für ein Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe ein. Nachdem der vom Bundestag verabschiedete § 217 StGB vom Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 für nichtig erklärt worden war, gab es zwar umgehend von beiden Kirchen kritische Reaktionen. Im weiteren Verlauf der Diskussion, welche Schlüsse aus dem Urteil zu ziehen seien, fand man jedoch nicht mehr zu einer gemeinsamen Linie.
Wir sollten uns freilich davor hüten, die ökumenische Geschlossenheit zurückliegender Jahrzehnte zu idealisieren. Gemeinsame bioethische Voten der Kirchen konnten den Blick auf den innerprotestantischen Pluralismus, der schon in der Vergangenheit bestand, trüben. Auch darf der unter katholischen Ethikern und Ethikerinnen bestehende Pluralismus in den strittigen Fragen nicht ignoriert werden.
Das lag nicht zuletzt am Vorstoß von Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie, dem Präsidenten der Diakonie Deutschland, die in einem FAZ-Artikel vom 11. Januar 2021 dafür plädierten, den professionellen assistierten Suizid in diakonischen Einrichtungen zu ermöglichen. Dieser Vorschlag stieß allerdings nicht nur auf katholischer Seite auf Ablehnung, sondern blieb auch evangelischerseits nicht unwidersprochen. Im weiteren Verlauf der Kontroverse ruderten Lilie und seine Mitstreiter allerdings zurück und legen nun gemeinsam mit ihren Kritikern den Fokus vor allem auf Suizidprävention.
Zuletzt hat der ehemalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Ex-Ratsvorsitzender der EKD, Nikolaus Schneider, im Interview mit dem Kölner "Domradio" von "Extremsituationen" gesprochen, in denen es möglich sei, "auch einen Schritt weiterzugehen, dass solchen Menschen wirklich geholfen wird, dass sie nun ihr Leben beenden können, wenn es ihr freier Wille ist." In "solchen Notsituationen" müsse man "Verständnis für diese Menschen haben und sie unterstützen".
Wir sollten uns freilich davor hüten, die ökumenische Geschlossenheit zurückliegender Jahrzehnte zu idealisieren. Gemeinsame bioethische Voten der Kirchen konnten den Blick auf den innerprotestantischen Pluralismus, der schon in der Vergangenheit bestand, trüben. Auch darf der unter katholischen Ethikern und Ethikerinnen bestehende Pluralismus in den strittigen Fragen nicht ignoriert werden. Richtig ist aber, dass liberale Positionen zur verbrauchenden Embryonenforschung, zur Forschung mit embryonalen Stammzellen, zum Schwangerschaftsabbruch sowie zum assistierten Suizid in den evangelischen Kirchen an Boden gewonnen haben.
Ethik in einer pluralen Gesellschaft ist eine offene Suchbewegung
Die pointierte Formel vom Pluralismus als Markenzeichen des Protestantismus, die 2002 von prominenten evangelischen Ethikern – darunter der Autor des vorliegenden Beitrags – in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Stammzellenforschung in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gebraucht wurde, markiert jedoch keinen Bruch mit der bisherigen evangelischen Ethik. Allerdings ist die Formel, die sowohl auf katholischer als auf evangelischer Seite auf Kritik gestoßen ist, missverständlich.
Den Autoren der Stellungnahme "Starre Fronten überwinden" – so der Titel der Langfassung – wurde von Kritikern unterstellt, die Wahrheitsfrage in ethischen Fragen zu suspendieren. Christofer Frey, einer der kritisierten Autoren, hat darauf erwidert: Nicht im Bereich der ethischen Grundlegung, wohl aber "im Bereich der pragmatischen Umsetzung in Problembereiche, die empirische Sachverhalte und hermeneutische Perspektiven in einem umfassen, ist ein Pluralismus der Anwendung prinzipieller Einsichten in Grenzen zu vertreten."
Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, deren Basisdokument die Leuenberger Konkordie von 1973 ist, spricht in ihren viel beachteten Orientierungshilfen zu ethischen Fragen am Lebensende (2011) wie zur Reproduktionsmedizin (2017) von einem "Korridor" und von Grenzen der Diversität, die auch für die evangelischen Kirchen bestehen.
Ethik in einer pluralen Gesellschaft ist eine offene Suchbewegung, ausgelöst durch die Frage nach den Folgen neuer Handlungsmöglichkeiten, die in Ratlosigkeit und Verlegenheit stürzen. Die dem Glauben gebotene Weltverantwortung wird nicht durch moralische Überbietungsansprüche wahrgenommen, sondern durch die solidarische Beteiligung am Prozess der Antwortsuche im Sinne von Jeremia 29,7. Hierbei ist nochmals zwischen binnenkirchlichen Verständigungsprozessen in ethischen Fragen und der Beteiligung der Kirche und ihrer einzelnen Mitglieder am gesellschaftlichen Ethikdiskurs zu unterscheiden.
Fehlende Geschlossenheit und offenkundige Kommunikationsprobleme vermitteln das Bild einer Kirche, die nicht agiert, sondern reagiert – und das im liberalen Mainstream der bundesrepublikanischen Gesellschaft, an den man nicht den Anschluss verlieren möchte.
Mögliche Unterschiede zwischen evangelischer, katholischer und orthodoxer Ethik betreffen nicht nur die fundamentalethische oder die materialethische Ebene – etwa unterschiedliche Sichtweisen zum Naturrechtsdenken –, sondern auch das methodische Verfahren der ethischen Urteilsbildung. Was katholische und evangelische Ethik unterscheidet, ist die unterschiedliche Diskurskultur, die auf zum Teil erhebliche Differenzen im Kirchen- und Amtsverständnis sowie die Rolle des kirchlichen Lehramtes in der katholischen Kirche und für die katholische Universitätstheologie hinweisen.
An den jüngsten Stellungnahmen von EKD und Diakonie Deutschland zur künftigen gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs ist allerdings zu bemängeln, dass sie kein einziges theologisches Argument bringen. Von christlicher Ethik und ihrer theologischen, gar biblischen Grundlegung kein Wort; von Gott ganz zu schweigen. Die Papiere argumentieren nicht theologisch, sondern sozialwissenschaftlich und rechtshistorisch im Rahmen einer bestimmten Auslegung des Grundgesetzes, die im Gefälle dessen liegt, was schon von Anselm, Karl und Lilie zum assistierten Suizid vertreten wurde. Theologische Argumente wurden erst mit zeitlicher Verzögerung von Reiner Anselm, Petra Bahr, Peter Dabrock und Stephan Schaede nachgeliefert. Sie leiden aber an theologischen Defiziten und einem Mangel an Konsistenz.
EKD und Diakonie verstehen ihre Stellungnahmen als praktische Verantwortungsethik. Eine verantwortungsethische Sicht auf den Schwangerschaftskonflikt könne sich "nicht darauf beschränken, einen normativen Widerstreit zwischen Lebensrecht des ungeborenen Lebens und Selbstbestimmungsrecht der Frau zu identifizieren". Im Klartext heißt das, dass EKD und Diakonie einen Gradualismus des Lebensschutzes und des Lebensrechtes des ungeborenen Kindes vertreten.
In der Frage einer künftigen Beratungspflicht für abtreibungswillige Schwangere vertreten die Akteure gegensätzliche Ansichten. Die EKD ist entschieden für ihre Beibehaltung, die Diakonie Deutschland entschieden dagegen. Fehlende Geschlossenheit und offenkundige Kommunikationsprobleme vermitteln das Bild einer Kirche, die nicht agiert, sondern reagiert – und das im liberalen Mainstream der bundesrepublikanischen Gesellschaft, an den man nicht den Anschluss verlieren möchte.
Für einen mutigen Umgang mit der faktischen Differenzökumene
Freilich bietet auch die katholische Kirche längst nicht mehr ein Bild der Geschlossenheit wie in der Vergangenheit. Der Synodale Weg in Deutschland und der Synodale Prozess auf Weltebene lassen zum Teil erhebliche Differenzen, beispielsweise auf dem Gebiet der Sexualmoral und einer Ethik der Beziehungen, zutage treten. Es wird sich weisen, wie weit oder wie lange noch innerhalb der katholischen Weltkirche von einem "differenzierten Konsens" auszugehen ist.
Statt die Gräben zu vertiefen oder sich in eine splendid isolation zurückzuziehen, braucht es Initiativen, um das ökumenische Gespräch unter dem Vorzeichne des faktisch eingetretenen Paradigmenwechsels von einer Konsensökumene zu einer Differenzökumene neu zu beleben. Eine "Ökumene der Profile" (Wolfgang Huber) oder eine Differenzökumene, wie ich sie nenne, ist nicht mit einer Ökumene der Zentrifugalkräfte zu verwechseln, die dem Bedeutungsverlust von Kirche und Theologie nur weiter Vorschub leisten würde.