Die Zeiten sind aufgewühlt. Bis dahin stabile Staatsformen schwanken bedenklich. Revolution liegt in der Luft. Ist mehr Nationalstaat die Antwort oder weniger? In diese Situation der 1860er Jahre hinein formulierte der Lyriker Friedrich Hebbel, Österreich sei "die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält". Tatsächlich steht Österreich auch gegenwärtig mit den Nationalratswahlen Ende September vor einer Zerreißprobe. Denn die FPÖ schickt sich – allen Skandalen der letzten Jahre zum Trotz – an, stärkste Kraft im Land zu werden. Man reibt sich die Augen, dass offenbar für viele Menschen der "Ibiza-Schock" durch das bloße Ausscheiden von Heinz-Christian Strache aus der Regierung und Partei schon wieder vergessen ist.
Die extreme Zuspitzung auf das Führungspersonal hat in Österreich Tradition. Sie wurde nicht erst vom jetzigen FPÖ-Parteichef Herbert Kickl erfunden. Schon ab 1986 fokussierte Jörg Haider Partei und Wahlbotschaften konsequent auf sich als Person. "Ein Politiker der neuen Art" wurde plakatiert. Es folgten in den 1990er Jahren Wahlslogans wie "Einfach ehrlich, einfach Jörg", "Er hat Euch nicht belogen" und "Einer, der unsere Sprache spricht". Auch Sebastian Kurz, ÖVP-Bundeskanzler 2017–2019 sowie 2020–2021, forcierte die Personalisierung weiter und taufte seine Partei kurzerhand zur "Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei" um.
Dass Kickl erneut auf christliche Slogans zurückgreift, darf ebenso wenig überraschen wie eine weitere quasi-messianische Personalisierung und eine Verschärfung der Botschaften.
Religiöse Verschärfungen
In den 2000er Jahren verschärfte sich die kommunikative Gangart und auch die Radikalisierung der FPÖ. "Daham statt Islam" konnte man 2006 auf den FPÖ-Plakaten lese, "Volksvertreter statt EU-Verräter" 2008. Neben der damals strengen Personalisierung auf "HC" Strache rückten die EU und der Islam in den Fokus der Kampagnen. So verdreht die Partei "den Islam" dämonisierte, so überzogen eignete sie sich "das Christentum" als strategisches Gegenbild an. "Abendland in Christenhand" wurde zum Slogan 2009, "Liebe deinen Nächsten – für mich sind das unsere Österreicher" 2013. 2016 trat der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer schließlich mit dem Slogan "In Eurem Sinne entscheiden. So wahr mir Gott helfe" zur Wahl zum Bundespräsidenten an.
Hinter all dem stand und steht der aktuelle Spitzenkandidat Herbert Kickl. 2001 begann sein parteilicher Aufstieg, zunächst als Redenschreiber für Haider und Geschäftsführer der Partei, von 2005 bis 2018 als Generalsekretär und Chefstratege, zuletzt brachte er es unter Sebastian Kurz zum Innenminister. Nun geriert er sich ohne Scheu vor der historischen NS-Vorlage als "Volkskanzler". Dass er im Rahmen des laufenden Wahlkampfes erneut auf christliche Slogans zurückgreift, darf daher ebenso wenig überraschen wie eine weitere quasi-messianische Personalisierung und eine Verschärfung der Botschaften – ganz aktuell sein Fabulieren über die Möglichkeit der Einführung der Todesstrafe per Volksentscheid.
"Es ist die zynisch-spottende, nichts und niemanden ernst nehmende Ankündigung eines politischen Projektes zur Zerstörung der liberalen, menschenrechtsbasierten Demokratie und ihrer Institutionen."
Christliche Kirchen in der Zwickmühle
Nicht nur die politischen Gegner wirken ratlos angesichts dieser Strategie (und der Tatsache, dass sie aufzugehen scheint) – auch die christlichen Kirchen suchen noch immer nach einer Vorgehensweise, sich gegen Vereinnahmungen basischristlicher Botschaften zu wehren, ohne damit in die Falle der Aufmerksamkeitsverstärkung für die FPÖ zu tappen.
Aktuell lässt sich dies besonders gut anhand der Debatte um ein FPÖ-Wahlplakat beobachten, das sich beim Vaterunser bedient und formuliert: "Euer Wille geschehe". Es ist eines der wenigen Plakate, die ohne das Konterfei Kickls auskommen, ansonsten wäre die messianische Anmaßung wohl perfekt gewesen. Die Reaktion christlicher Kirchen folgte prompt – gleichwohl im verzweifelten Wissen darum, dass sie damit genau jenem Reiz-Reaktionsschema entsprechen, auf das die FPÖ hofft. Denn wem sollte die Kritik nützen? Im besten Fall würde sie in der medialen Öffentlichkeit eine Distanzmarkierung zwischen religiöser Instrumentalisierung und christlichen Kirchen verdeutlichen. Im schlimmsten Fall würde die Kritik an Kickl und der FPÖ abperlen und auf die Kritiker selbst zurückfallen. Ist "Euer Wille geschehe" nicht eine basisdemokratische Kernaussage über die Souveränität des Volkes? Und zeugt jede Kritik daran nicht von undemokratischen Tiefenstrukturen der Kritiker, ergo, der Kirchen?
Entsprechend vorsichtig fiel die Kritik des Generalsekretärs der Österreichischen Bischofskonferenz, Peter Schipka, aus. Eine Aneignung biblischer Inhalte komme gewiss im Marketing immer wieder vor – wer dies tue, dem müsse jedoch bewusst sein, "dass er mit etwas spielt, das Menschen heilig ist und damit diesen Menschen nicht die Wertschätzung entgegenbringt, die sie verdienen." Deutlich deftiger und kräftiger dagegen die Wiener Theologin Regina Polak, die in der Wochenzeitung "Die Furche" festhielt, der Slogan zeuge von einer "postmodernen Dämonie": "Es ist die zynisch-spottende, nichts und niemanden ernst nehmende Ankündigung eines politischen Projektes zur Zerstörung der liberalen, menschenrechtsbasierten Demokratie und ihrer Institutionen."
Verlorene Schlacht
Die Antwort Kickls auf die Kritik ließ nicht lange auf sich warten – und sie fiel erwartungsgemäß aus: "Euer Wille geschehe" fasse in drei Wörtern das zusammen, was Artikel 1 der Verfassung eigentlich als Kernaufgabe definiere: "Das Recht geht vom Volke aus. Leider ist dieses Ernstnehmen der Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen der Österreicher in den letzten Jahren immer mehr verloren gegangen. Diese Fehlentwicklung wollen wir korrigieren." Zudem beziehen sich das Zitat auf "unseren christlichen Gott", so Kickl gegenüber der "Kronenzeitung" – und das Vaterunser habe für ihn natürlich eine große Bedeutung. "Unser zutiefst demokratisches Bekenntnis als einen Missbrauch von etwas völlig anderem auszulegen, ist daher unpassend."
Wenn der Pulverdampf des Wahlkampfes abgezogen ist, wird sich zeigen, ob Hebbel Recht behalten sollte und Österreich sich als jene dann noch weiter nach rechts gerückte Welt präsentiert, in der die große in den folgenden Wahlen ihre Probe hält.
Am Ende bleibt so der schale Geschmack einer – wieder mal – verlorenen medialen Schlacht. Wie sollte man einem strategischen Messianismus auch beikommen, der Personalisierung, Radikalisierung, Erwählungs- und Exklusivitätselemente und politisch-utopische Botschaften mit professionellem Marketing zu einer Melange verrührt, die für viele Menschen trotz allem attraktiver erscheint als die aktuell regierende Koalition? Argumente zählen nicht, auch keine politische Vernunft – es wird an Instinkte appelliert. "Das Herz sagt ja", heißt es auf einem weiteren FPÖ-Plakat entsprechend.
Religiös entkernter Messianismus
In den 1960er Jahren prägte der jüdische Historiker Jacob Talmon unter dem Eindruck sich weltweit verschärfender Säkularisierungsschübe (man denke an den zeitgleich erschienenen "Klassiker" des US-Theologen Harvey Cox, "Stadt ohne Gott") den Begriff des "politischen Messianismus". Im Hintergrund steht die Gestalt des Messias als Heilsbringer, der das Leiden und Elend beendet, die Machtverhältnisse neu ordnet und die Gottesherrschaft errichtet. In seiner säkularen, religiös entkernten Form besteht der politische Messianismus in einer Synthese aus Personenkult, Massenbewegung, Erwählungsdünkel und einem forcierten Freund-Feind-Denken. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Sind solche Assoziationen überzogen angesichts einer Wahlkampagne, die rein wahltaktischen, strategischen Überlegungen folgt? Wenn der Pulverdampf des Wahlkampfes abgezogen ist, wird sich jedenfalls zeigen, ob Hebbel Recht behalten sollte und Österreich sich als jene dann noch weiter nach rechts gerückte Welt präsentiert, in der die große in den folgenden Wahlen ihre Probe hält.