Keine Illusionen"Zeitenwende" und legitime Selbstverteidigung im paradoxen Nuklearzeitalter

Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie von 2023 hält an der nuklearen Teilhabe fest. Wer die nukleare Abschreckung befürwortet, ist deswegen noch kein Zyniker oder moralisch unreflektiert. Vielmehr kann die nukleare Abschreckung sozialethisch begründet werden – mit säkularen Argumenten, aber auch auf Grundlage der katholischen Soziallehre.

F-35-Kampfflugzeug
© Pixabay

Nuklearmacht und damit die Fähigkeit, Kernwaffen einsetzen zu können, kann mit erheblicher Effektivität zu machtpolitischen Zwecken genutzt werden, auch wenn Kernwaffen nicht eingesetzt werden. Das hat Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlicht.

Eine militärische Intervention des "kollektiven Westens" oder auch nur einzelner westlicher Staaten zur Verteidigung der Ukraine fand bislang nicht statt. Westliche Waffenlieferungen und andere Unterstützungsleistungen an die Ukraine erfolgten verzögert, blieben in Umfang und Qualität eingeschränkt und möglicherweise an "politische" Auflagen gebunden. Deswegen stehen die Spitzen der russischen Regierung wahrscheinlich bis heute unter dem Eindruck, dass sie in erheblichem Maße erfolgreiches Konfliktmanagement zur Abschirmung der "militärischen Spezialoperation" betrieben und speziell ihre rhetorischen Nukleardrohungen kraftvolle Wirkungen erzielten.

Die "westliche Perspektive" findet zwar weltweit mehr Anklang als die Sichtweise der russischen Regierung, gilt aber auch nicht universell und ist zudem inhomogen. Aus "westlicher Perspektive" missbrauchen Russlands Machthaber Kernwaffen als Erpressungsmittel in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, um Grenzen in Europa zu verschieben. Dieser ungeheure Vorgang erschüttert die in der UN-Charta und anderen völkerrechtlichen Verträgen niedergelegten Prinzipien für ein friedliches Zusammenleben der Völker, bedroht den Weltfrieden und hat Vertrauen in die aktuelle russische Führung irreparabel zerstört.

In gesellschaftlichen Debatten dominierten über viele Jahre hinweg naive, aber zumeist hochgradig moralisch aufgeladene Vorstellungen über Kernwaffen.

Die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland von 2023, das erste Dokument dieser Art in Deutschland, stellte unumwunden fest, Russland setze "im Angriffskrieg gegen die Ukraine immer wieder nukleare Drohungen ein, auch gegen Europa." Gerade Letzteres, "nukleare Drohungen, auch gegen Europa", sollte zu denken geben, insbesondere jenen, die sich "im Westen" für die Delegitimierung von Kernwaffen engagieren.

In gesellschaftlichen Debatten dominierten über viele Jahre hinweg naive, aber zumeist hochgradig moralisch aufgeladene Vorstellungen über Kernwaffen. Gebetsmühlenartig wurde für einseitige Abrüstungsschritte westlicher Mächte plädiert, vor allem der USA, um so der angeblich menschenmöglichen "Welt ohne Kernwaffen" näherzukommen. Nukleare Bedrohungen wurden dabei meistens ignoriert oder heruntergespielt. Über viele Jahre hinweg versuchten zahlreiche Akteure in Politik, Medien, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, die deutsche Bundesregierung zu beeinflussen, Deutschland solle auf den Abzug sämtlicher US-Kernwaffen aus Deutschland, wenn nicht aus ganz Europa, drängen. Hierfür wurden und werden zahlreiche Argumente angeführt, vor allem auch sozialethische und moralische. So bleibt auch der Fliegerhorst Büchel, Standort des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 der deutschen Luftwaffe, nach Russlands Angriff auf die Ukraine ein Magnet für Protestaktionen und "Friedensbewegungen". Die Tornados des Geschwaders stellen Deutschlands militärischen Beitrag zur nuklearen Teilhabe in der NATO dar.

Eine zweite Grundsatzentscheidung für nukleare Teilhabe

Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie stellte dazu nun fest: "Solange es Nuklearwaffen gibt, ist der Erhalt einer glaubwürdigen nuklearen Abschreckung für die NATO und für die Sicherheit Europas unerlässlich. Deutschland wird hierzu im Rahmen der nuklearen Teilhabe auch weiterhin seinen Beitrag leisten und die hierfür notwendigen Trägerflugzeuge ohne Unterbrechung bereitstellen. Ziel der nuklearen Abschreckung der NATO ist es, den Frieden zu erhalten, Aggression vorzubeugen und nukleare Erpressung zu verhindern."

Schon im Zuge der proklamierten "Zeitenwende" gab Bundeskanzler Olaf Scholz bekannt, dass Deutschland F-35-Kampfflugzeuge beschaffen werde, um auch zukünftig zur nuklearen Teilhabe in der NATO beizutragen.

Die F-35-Entscheidung von 2022 war praktisch eine zweite Grundsatzentscheidung Deutschlands für die nukleare Teilhabe – die erste traf die Regierung Adenauer 1957. Denn aufgrund des weithin zögerlichen Kurses deutscher Regierungen im 21. Jahrhundert stand mitunter die Frage im Raum, ob Deutschland aus der nuklearen Teilhabe ausscheiden würde.

In historischer Perspektive zeigt diese F-35-Entscheidung von 2022, dass ein von der Regierung Adenauer verankerter Ansatz weiterhin bestimmend bleibt: Deutschland ist nicht selbst Atommacht, produziert und kontrolliert also keine Kernwaffen, und übernimmt als Profiteur der US-amerikanischen nuklearen Schutzzusage Risiken und Verantwortung im Rahmen der nuklearen Teilhabe. Bei aller Kontinuität wichtig, wenn auch öffentlich weniger bekannt, ist aber auch: Nach dem Kalten Krieg ist es anscheinend weniger anspruchsvoll als zuvor, die nuklearen Schutzzusagen der USA für Europa glaubwürdig zu halten.

Demnach liegen Elemente von Kontinuität und Wandel Deutschlands F-35-Entscheidung zugrunde.

Ein wichtiges Element des Wandels scheint dieses zu sein: Im Kalten Krieg hielten die Sowjetunion und der Warschauer Pakt ein für eine Offensivstrategie aufgestelltes Militärpotenzial zur Invasion Westeuropas aufrecht. Dem hielten die NATO-Staaten die Drohung mit vorbedachter nuklearer Eskalation in einem Verteidigungskrieg entgegen, um angesichts einer strukturellen Überlegenheit des Warschauer Paktes bei konventionellen Streitkräften Erpressungsversuche und Angriffe durch die Sowjetunion abzuschrecken. Mittlerweile, so scheint es, geht es primär darum, Russland von einem selektiven Ersteinsatz von Kernwaffen gegen NATO-Gebiet abschrecken zu können, zu dem sich eine russische Führung unter dem Druck eines durch sie begonnenen Krieges entschließen könnte, um die NATO politisch zu brechen und so den Krieg zu eigenen Gunsten zu entscheiden. Dabei ist zu bedenken, dass Russland bei "nicht-strategischen" Kernwaffensystemen überlegen ist.

Wie kann die russische Führung abgeschreckt werden, in einer solchen Rahmenlage der Versuchung eines selektiven Ersteinsatzes von Kernwaffen gegen NATO-Gebiet nachzugeben? Das ist eine zentrale Frage. Die nuklearpolitische Linie der NATO legt nahe, dass der in der Vergangenheit vielfach geforderte Abbau in Europa vorhandener "nicht-strategischer" Kernwaffensysteme kontraproduktiv wäre. Begrenzte nukleare Einsatzoptionen sind erforderlich, um für ein hinreichendes Maß an Abschreckung auch im Blick auf den genannten Fall zu sorgen.

Die nukleare Abschreckung in der NATO ist und bleibt auf Interkontinentalraketen, strategische Raketen-U-Boote und strategische Bomber der USA abgestützt. Von den Sonderfällen britischer und französischer Kernwaffen abgesehen, kommen auf "nicht-strategischer Ebene" in Europa gelagerte US-Kernwaffen B-61, also Freifallbomben, hinzu, die durch zertifizierte Kampfflugzeuge bestimmter europäischer NATO-Staaten, darunter Deutschland, verbracht werden können.

Dieser Fähigkeitsmix lässt das in der NATO anerkannte Prinzip deutlich werden, dass ein Abschreckungsapparat materiell hinreichend ausgestaltet, flexibel abgestuft sein und im Ernstfall lageadäquat skalierbar eingesetzt werden können muss, um wirksam abschrecken zu können. Ob der existierende und geplante Fähigkeitsmix ausreichen wird, ist eine komplexe Frage, bei der viel auf dem Spiel steht.

Das in der NATO praktizierte Prinzip der abgestuften Abschreckung verdeutlicht auch, dass es unter den paradoxalen Rahmenbedingungen des Nuklearzeitalters sozialethisch und technisch möglich war, an eine Lehre von einer legitimen Selbstverteidigung anzuknüpfen, die an strenge Bedingungen zu binden ist. Eine solche Lehre kann aus säkularen Begründungen und aus der katholischen Soziallehre schöpfen, auch wenn die durch Papst Franziskus zum Thema Kernwaffen verfolgte politische Linie auf den ersten Blick das Gegenteil suggerieren könnte.

Vollständige nukleare Abrüstung ist menschenunmöglich

Es wäre ein schwerer Irrtum zu meinen, dass "westliche" (und andere) Befürworter der nuklearen Abschreckung für einen moralfreien, moralisch unreflektierten oder sozialethisch illegitimen, wenn nicht zynischen, bösen oder diabolischen Realismus votieren, obschon solche Verirrungen in Einzelfällen nicht auszuschließen sind. Vielmehr betonen sie empirische Punkte und durch die conditio humana geprägte Überlegungen, die berücksichtigt werden müssen, wenn mit dem Thema verantwortungsvoll umgegangen werden soll.

Kernwaffen sind ein Symptom einer konfliktbeladenen, zerrissenen Welt, nicht ihre Ursache.

Zunächst einmal ist vollständige nukleare Abrüstung menschenunmöglich. Kernwaffen sind ein Symptom einer konfliktbeladenen, zerrissenen Welt, nicht ihre Ursache. Die internationalistischen Anflüge vieler Zeitgenossen gerade in Deutschland, hohes Vertrauen in die Vereinten Nationen zu setzen, verkennen oder überspielen häufig, wie schwach die UN tatsächlich sind, auch weil die nuklear-bewaffneten permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats diesen durch ihr Vetorecht politisch lähmen können. Auch im planetarischen Zeitalter gibt es eine anarchische Staatenwelt und keinen Weltstaat, nur utopische Aussichten auf einen solchen und wenn es einen gäbe, wäre die Despotie nicht auszuschließen, weswegen ein vernünftiger Mensch einen Weltstaat nicht einmal wollen sollte. Es führt auch nicht zu moralischer Überlegenheit, Illusionen hinterherzujagen – insbesondere dann nicht, wenn selektive Abrüstungsschritte des einen die Aggressivität des anderen nähren, anstatt sie abzubauen, wenn die Logik der hoffnungsfrohen Teilabrüstung der Logik der heimlichen Aufrüstung unterliegt oder wenn Kooperationsbereitschaft den Unterwerfungshunger des Ruchlosen vergrößert.

Wer sich aus katholischer Perspektive im Blick auf eine "Welt ohne Atomwaffen" nicht selbst betrügen will, wird auf die endzeitliche Verheißung der Parusie verweisen. Bis zu dieser Vollendung des Erlösungswerks Christi werden Kernwaffen zur Realität einer erlösungsbedürftigen Welt gehören wie die Anfälligkeit des Menschen, den personalen, sozialen oder internationalen Frieden zu stören. "Absoluten, echten, ewigen, wahren oder wirklichen Frieden" herzustellen, war und ist dem Menschen unmöglich. Wenn er es versuchte, so resultierte daraus nach Karl R. Popper die Hölle auf Erden.

Das menschengemachte, paradoxale Konzept der nuklearen Abschreckung kann keinen "wahren Frieden" bewirken. Es ist in seiner Finalität nicht mit dem christlichen Liebesgebot vereinbar, spiegelt vorhandene Ängste und Misstrauen wider und kann dazu beitragen, dass große Kriege nicht ausbrechen, von denen die Welt bis 1945 zahlreiche erlebt hat.

Die nukleare Abschreckung ist mit den Zielen der Verhinderung, Hegung, Bändigung und Eindämmung von Kriegen vereinbar, die über Jahrhunderte hinweg speziell die Lehre vom "gerechten Krieg" der katholischen Kirche prägte.

Auch ist nukleare Abschreckung nicht einfach mit einer a priori unsittlichen Androhung unterschiedsloser "Vernichtung ganzer Städte (…) und ihrer Bevölkerung" gleichzusetzen. Die nukleare Abschreckung ist mit den Zielen der Verhinderung, Hegung, Bändigung und Eindämmung von Kriegen vereinbar, die über Jahrhunderte hinweg speziell die Lehre vom "gerechten Krieg" (bellum iustum) der katholischen Kirche prägte, die einer "gewaltminimierenden Naturrechtslehre" verpflichtet war.

Die USA setzten 1945 Kernwaffen gegen Städte ein. Das war barbarisch. Wenig bekannt ist aber, dass sie, wie Experten betonen, seit den Siebzigerjahren nicht mehr direkt vorsätzlich Kernwaffenschläge gegen die Bevölkerung gegnerischer oder verfeindeter Staaten planten. Die Kritik, dass es keinen bedeutsamen Unterschied bei zivilen Verlusten mache, wenn bei Angriffen gegen militärische Ziele die Bevölkerung vorsätzlich zum Ziel gemacht würde oder nicht, sei unberechtigt. Aufgrund besserer nachrichtendienstlicher Aufklärung und zunehmender Waffenpräzision sei die auch sozialethisch gebotene Einhaltung zentraler Prinzipien des ius in bello ("Recht im Krieg") wie Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sowie Verhältnismäßigkeit praktisch gerade nicht unmöglich und die Frage nach dem Überleben von Millionen von Menschen nicht insignifikant. Bei den US-Maßnahmen handele sich nicht um "window dressing".

Der Zweck heiligt nicht alle Mittel

Selbst wenn also, um die berühmte Formel des Heiligen Augustinus aufzugreifen, ein Verteidigungskrieg um des "Friedens" willen geführt wird, so heiligt dieser Zweck nicht alle Mittel – auch und erst recht nicht im Nuklearzeitalter.

Ein ernsthaftes Ringen um sozialethisch verantwortbare Sicherheitspolitik verstellt sich nicht der Erkenntnis, dass es auf absehbare Zeit keine Alternative zur nuklearen Abschreckung gibt.

Ferner ist nach einem selektiven Kernwaffeneinsatz gegen militärische Ziele mit dem politischen Ziel der Beendigung der Kriegshandlungen des Feindes oder, im Falle eines reaktiven Kernwaffeneinsatzes, der Abschreckung erneuter selektiver Kernwaffenangriffe durch den Feind eine Eskalationskontrolle prinzipiell möglich und nicht nur der Kontrollverlust, der zu einem strategischen Nuklearkrieg führen könnte. Das Übel eines selektiven Kernwaffeneinsatzes, insbesondere in der Reaktion auf einen feindlichen Ersteinsatz, kann zur Verhinderung, aber auch zur Vermehrung noch größerer Übel führen. Ein Eskalationsprozess würde nicht bloß von Waffeneinsatz und -wirkung abhängen, sondern auch von anderen Faktoren wie politischem und strategischem Kalkül. Wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit wäre, größere Übel zu vermeiden, ist abstrakt nicht feststellbar und wäre in einer Situation auch nicht objektiv zu klären, sondern eine Frage der gemeinwohlorientierten Beurteilung durch die politische Führung nach "klugem Ermessen".

Ein ernsthaftes Ringen um sozialethisch verantwortbare Sicherheitspolitik verstellt sich nicht der Erkenntnis, dass es auf absehbare Zeit keine Alternative zur nuklearen Abschreckung gibt. Sie muss an strenge Bedingungen gebunden werden, um auch sozialethisch akzeptier- oder mindestens tolerierbar zu bleiben. Dabei müssen profunde Dilemmata sorgfältig verstanden und nüchtern bei systematischer Ausschöpfung von Perspektiven und empirischen Erkenntnissen beurteilt werden. Dass der "prekäre, negative, gesicherte oder bewaffnete Frieden" und damit das Fehlen von großen Kriegen, zu dem die nukleare Abschreckung wahrscheinlich stark beiträgt, mit einem positiven Friedensbegriff im Sinne der augustinischen "Ruhe (in) der Ordnung" einhergehen kann, hat etwa das Ende des Kalten Krieges gezeigt, das die Wiedervereinigung Deutschlands, die Befreiung Mittel- und Osteuropas von der kommunistischen Unrechtsherrschaft und damit eine Stärkung von Freiheit und Gerechtigkeit erbrachte. Auch wenn die strategische Rivalität der Großmächte in den kommenden Jahren und damit die Bedeutung von Kernwaffen wahrscheinlich weiter zunehmen wird, bleibt friedlicher Wandel in den internationalen Beziehungen möglich. Friedlicher Wandel muss von Christen wie allen Menschen guten Willens angestrebt werden.

Der Autor präsentiert hier ausschließlich eigene Ansichten auf Basis öffentlich zugänglicher Quellen und dankt Dr. Benjamin Leven und OTL Dr. Heiner Möllers für hilfreiche Hinweise.

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