Bereits die ersten Stellungnahmen des Vatikans fielen dubios aus. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres mischten sich Trauer um die Opfer und Fassungslosigkeit über die Brutalität der Massaker mit einer alles umfassenden Perspektive auf die vielschichtigen Hintergründe und komplexen Ursachen eines Konflikts, der eine ungekannte Eskalationsstufe erreicht hatte. Islamistische Terroristen ermordeten Juden, wo immer sie ihrer habhaft wurden. Sie schlachteten, vergewaltigen, entführten. Genozidale Gewalt (Dan Diner) traf Israel mit ungehemmter Brutalität und durchschlagender Wucht. In das weltweite Entsetzen reihte sich auch der Vatikan ein. Allerdings bestimmte die römischen Reaktionen, einschließlich der des Papstes, ein anderer Ton. Sorge um den Frieden im Nahen Osten verband sich mit dem Schutzblick auf die Christen im Heiligen Land. Verständlich – wenn nicht eine unmissverständliche Verurteilung der Tat wie der Täter gefehlt hätte, die für 10/7 verantwortlich zeichneten.
War Israel aus römischer Sicht in Schuldhaft zu nehmen? Dass sich die Frage für viele Jüdinnen und Juden stellte, bildet ein Menetekel vatikanischer Diplomatie und bleibt ein Haftpunkt aller künftigen Initiativen im jüdisch-katholischen Dialog. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat dieser Dialog nicht nur die kirchliche Lehre einschneidend verändert, sondern vor allem Vertrauen jüdischerseits in die römische Kirchenleitung aufgebaut.
Das Papstschreiben lohnt philologische Anstrengung. Entgegenkommend im friedensbewegten Ton, umarmend bis in die Schlussadresse, interessieren die semantischen Verstecke, in denen man die Meinung des Papstes suchen muss.
Also wandten sich im November vergangenen Jahres mehr als vierhundert jüdische Gelehrte und Rabbiner an den Papst. Sie baten Franziskus um ein belastbares Zeichen seiner Loyalität mit Israel und dem Judentum – einschließlich einer unmissverständlichen Stellungnahme dazu, wer die Verantwortung für die barbarische Gewalteskalation trägt. Vier Monate mussten sie auf Antwort warten. Nun liegt sie vor. Warum brauchte der Heilige Vater so lange? Weil er um seine Position ringen musste? Und nun zu einer Klarheit gefunden hat, die es nicht nur aus jüdischer Sicht braucht? Wie schwer kann es fallen, angesichts des Grauens vom 7. Oktober zu sagen, was ein Papst nach der Shoah nicht nicht sagen kann?
Das Papstschreiben lohnt philologische Anstrengung. Entgegenkommend im friedensbewegten Ton, umarmend bis in die Schlussadresse, interessieren die semantischen Verstecke, in denen man die Meinung des Papstes suchen muss. Es kommt dabei auf das an, was der Papst nicht sagt – eine prekäre Doppelstrategie, gerade im katholischen Umgang mit dem Judentum. Keine Frage: die Kirche steht an der Seite Israels. Aber wie? Der Zwei-Seiten-Brief des Papstes, seine erste schriftliche Stellungnahme, beginnt mit einer globalpolitischen Einordnung. Kriege nehmen weltweit zu. "Leider ist auch das Heilige Land von diesem Schmerz nicht verschont geblieben, und seit dem 7. Oktober ist auch es in eine Spirale beispielloser Gewalt geraten. Mein Herz ist zerrissen beim Anblick dessen, was im Heiligen Land geschieht, durch die Macht von so viel Spaltung und so viel Hass."
Sprachpolitische Entdifferenzierung
Spaltung? Die semantische Entschärfung des Hamas-Terrors gewinnt ihre Bedeutung in der Kontextualisierung, mit der sich für Franziskus 10/7 als Epiphänomen seiner These von den neuen Weltkriegen einordnet. Die Gefühlswelt des Papstes nimmt vor diesem Hintergrund Form an. So möchte er seine "besondere Nähe und Zuneigung zu den Völkern zum Ausdruck bringen, die das Land bewohnen, das Zeuge der Geschichte der Offenbarung ist." Was pastoral-menschlich klingt, läuft auf eine sprachpolitische Entdifferenzierung hinaus. Wie im gesamten Text fehlt, was über den Richtungssinn des Briefes entscheidet: Ross und Reiter in diesem Krieg zu benennen. Wer angegriffen hat und wer sich verteidigt. Das unermessliche Leid der Menschen im Gazastreifen muss der Papst in den Blick nehmen, aber nicht um den Preis, zu verschweigen, was es ausgelöst hat und wer die Regie des Handelns in Gaza in der Hand hatte und hält. Es ist die Hamas, die Israel den laufenden Krieg diktiert hat und die Logik der Abläufe bestimmt. Dafür muss man nicht erst in die Abgründe ihrer Tunnelwelt und der Waffenlager in Krankenhäusern schauen.
Umso wichtiger ist das Bekenntnis des Papstes zur Bindung der Kirche an das Judentum. Doch auch hier schränkt Franziskus vorsichtig ein. Denn "die Beziehung, die uns mit euch verbindet, ist besonders und einzigartig, ohne natürlich jemals die Beziehung zu den anderen und auch die Verpflichtung ihnen gegenüber zu verdunkeln." Was prinzipientheoretisch stimmt, läuft im gegebenen Zusammenhang auf eine Relativierung hinaus. Der Papst will humanitär ausgleichen. Aber was bedeutet das konkret angesichts des Existenzkampfs, mit dem sich Israel konfrontiert sieht? Die Weltgemeinschaft distanziert sich zunehmend. Südafrika hat eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag angestrengt. Israel als Staat und jüdische Menschen weltweit stehen zunehmend allein. Das Wort Beziehung gewinnt vor diesem Hintergrund seine Klangfarbe. Der Hinweis auf die "einzigartige Beziehung" der Kirche zum Judentum spielt eine Grundeinsicht des jüdisch-katholischen Dialogs ein. Keine Kirche ohne Judentum. Aber was trägt dieses Bekenntnis aus, wenn es um abrufbare Loyalität im Ernstfall geht? Theologisch hat Franziskus mit seinem Merkwort, dass Gott weiterhin im Volk des alten Bundes wirke, einen Meilenstein gesetzt. Aber was bedeutet es für das gemeinsame Leben von Kirche und Israel im Bund jetzt?
An dieser Stelle ist die rhetorische Adresse des Papstschreibens von Interesse. Franziskus spricht von Ihr und Wir. Ihr Juden. Wir Christen. Religionsgemeinschaftlich korrekt, keine Frage. Aber wenn das Judentum nicht ein bloßes Gegenüber für die Kirche darstellt, sondern zur christlichen Identität gehört – müsste man daraus nicht auch sprachwirksame Konsequenzen ziehen? Zum Beispiel diese: Wer Juden angreift, greift auch uns an! Nicht nur wegen Jesus Christus und der Apostel und Maria, sondern weil wir uns als gemeinsames Volk Gottes aus Juden und Christen begreifen. Diese im jüdisch-christlichen Dialog errungene Einsicht sollte religionspolitisch belastbar sein.
Es reicht nicht, allgemein Antisemitismus zu verurteilen, aber ihn ins globale Geflecht von "Spaltungen und Hass" aufzurechnen. Es genügt nicht, Gewalt zu verurteilen, ohne die Akteursverantwortlichkeit zu bestimmen.
Wie Johannes Paul II. hat auch Franziskus an der Klagemauer in Jerusalem gebetet. Man muss sich daran erinnern, um zu fordern, was im Vatikan zunehmend unterzugehen scheint: dass es mehr als bloße Sympathiebekundungen braucht, wenn man die Vertrauensbasis nicht zerstören will, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Dialog aufgebaut wurde. Genau das steht weiterhin auf dem Spiel, wenn der Papst in seinem verzögert zugestellten Antwortschreiben die Nöte von Jüdinnen und Juden zwar anspricht, aber sich nicht abzeichnet, dass er ihre Anliegen wirklich aufgreift. Hat er verstanden, welches Trauma 10/7 für Jüdinnen und Juden weltweit bedeutet? Die Folgen sind unübersehbar: Übergriffe gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger gehören wieder zur Tagesordnung in europäischen Städten und darüber hinaus. Es reicht nicht, allgemein Antisemitismus zu verurteilen, aber ihn ins globale Geflecht von "Spaltungen und Hass" aufzurechnen. Es genügt nicht, Gewalt zu verurteilen, ohne die Akteursverantwortlichkeit unzweideutig zu bestimmen. Es hilft nicht, den "Weg der Freundschaft, der Solidarität und der Zusammenarbeit" zu beschwören, während der jüdische Partner um sein Überleben im eigenen Land und an seinen Grenzen kämpfen muss.
Warum schweigt auch Kardinal Koch?
Der Papstbrief ist auf das Fest der Darstellung des Herrn datiert. Zufall? Im liturgischen Kalender der Kirche endet der Weihnachtsfestkreis. Aber der Papst macht weiter wie bisher. Damit steht er nicht allein. Seit dem 7. Oktober 2023 schweigt Kardinal Kurt Koch, der verantwortliche Mann im Vatikan für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Anders als bei Patriarch Kyrill, den Koch wegen dessen Legitimation des russischen Überfalls auf die Ukraine aufs Schärfste verurteilt hat, verzichtet der Kardinal auch vier Monate nach dem Angriff der Hamas auf Israel auf eine Stellungnahme. Vielleicht, weil er es bislang für eine Chefsache hielt? Angesichts des nun vorliegenden päpstlichen Schreibens ist man beinahe versucht, das Schweigen des Kardinals zu verstehen.